»Organic, Bio« ist eine Denkweise, eine Lebensweise. Sie basiert auf dem Leben und gibt Leben. Es ist »jivad« – Leben gebend. Das Leben auf Hindi ist »Jiva«. Die lebendige Welt ist »Jaivik«.

Von Dr. Vandana Shiva

Im Jahr 1778 bezog sich das Wort »organisch« auf »von organisierten Lebewesen«.

Es war also die Wissenschaft vom Leben und von den lebenden Systemen, so wie »Ayurveda« die »Wissenschaft vom Leben« ist.

Organik ist die Wissenschaft von den organisierten Lebewesen, die auch als »Ökologie« bezeichnet wird. Die neue Wissenschaft von organisierten lebenden Systemen wird auch »Autopoesie« genannt – selbstorganisierte Komplexität in der Evolution und Emergenz.
https://www.springer.com/in/book/9789027710154

Mit dem Aufkommen des auf fossilen Brennstoffen basierenden Industrialismus wurde das organische Paradigma, das auf der Wissenschaft von Lebewesen basierte, durch das mechanistische reduktionistische Paradigma verdrängt. Die Natur wurde nun als tote Materie betrachtet. Lebende Systeme, einschließlich Tiere, Pflanzen und Samen, wurden als »Maschinen« betrachtet, die von außen zusammengebaut werden.

Die Natur als tot, nicht lebend, zu sehen, hat maßgeblich zu ihrer Zerstörung beigetragen. Zur Zerstörung ihrer vielfältigen Arten und ihrer Fähigkeit zur Selbstorganisation, ihr Klima, ihre Nährstoff- und Wasserkreisläufe zu regulieren.

Das mechanistische industrielle Paradigma in Verbindung mit der Herrschaft der Gier, die den Profit über das Leben stellt, hat uns an den Rand des Überlebens gebracht. Heute stehen wir vor einer existenziellen Bedrohung durch Klimakatastrophen, Artensterben, Wasser-, Ernährungs- und Gesundheitskrisen.

Der mechanische Denkansatz und die giftigen Chemikalien, die aus fossilen Brennstoffen gewonnen werden, haben uns vom Weg abgebracht, mit Intelligenz und Achtsamkeit auf einem fragilen Planeten zu wandeln. Die Abkehr von »jivad« – »organischem« – »lebensspendendem« Denken und Handeln hin zu toxischem – »lebensfeindlichem« zeigt sich am deutlichsten in der Art und Weise, wie wir unsere Nahrung, die grundlegendste Notwendigkeit des Lebens, produzieren und vermarkten. Nahrung ist die Währung des Lebens. Das Giftkartell hat sie zur Währung des Todes gemacht.

Das Zeitalter der industriellen Landwirtschaft begann mit der Umwandlung von Chemikalien, deren einziger Zweck darin bestand, Menschen in Hitlers Konzentrationslagern und im Krieg zu töten, zu Agrarchemikalien – synthetische Düngemittel, Pestizide, Herbizide. Der Planet, unsere Nahrung, unsere Körper wurden zunehmend vergiftet. Das Aussterben von Arten begann und führte uns zu der existenziellen Bedrohung, mit der wir nun konfrontiert sind. Nicht nur, dass sich die Landwirtschaft in einen Krieg gegen die Erde, die Bauern und die Konsumenten verwandelte – auch unser Denken wurde verändert. Die »Autopoiesis« wich der »Allopoiesis« – externer Input, externe Kontrolle. Wir haben das Leben und die lebenden Systeme vergessen. Wir wurden blind für das schöpferische Potenzial der biologischen Vielfalt, deren Ökosystemleistungen die Alternativen zu tödlichen Chemikalien sind: Erneuerung der Bodenfruchtbarkeit, Schädlings- und Unkrautkontrolle.

Der lebensspendende ökologische Weg kehrte in einem neuen Gewand zurück, um die Erde und die Menschen vor den Schäden durch Chemikalien zu schützen. Ab 1942 bedeutete »Organic« »frei von Pestiziden und Düngemitteln«.

In einer Zeit, in der die Gifte in Lebensmitteln und in der Landwirtschaft für die Menschen und den Planeten lebensbedrohlich geworden sind, begann Bio »frei von Chemikalien« zu bedeuten.

Bio wurde eine chemiefreie Alternative zur chemischen Verseuchung auf unseren Höfen, in unseren Küchen und auf unseren Tellern.

Nicht zuletzt ist »Biologische Landwirtschaft« die Bezeichnung für alte indische Anbausysteme, die auf den Prinzipien der Vielfalt, der Dankbarkeit und des Gebens beruhen.

Sie entwickelte sich vor einem Jahrhundert aus den zehntausend Jahre alten indischen agrarökologischen Wissenschaften, als Albert Howard 1905 von den Briten entsandt wurde, um die indische Landwirtschaft zu »verbessern«, und er feststellte, dass die Böden fruchtbar waren und es keine Schädlinge auf den Feldern gab. Er beschloss, den indischen Bauern und den Schädling zu seinen Lehrern zu machen. Auf der Grundlage des Lernens von der Natur und den Menschen schrieb er seinen Klassiker »An Agricultural Testament«.

Howard erzählt, wie die indischen Bauern lernten, nach den »Wegen der Natur« zu wirtschaften und die Landwirtschaft so beständig wie den Wald zu machen, indem sie die Naturprinzipien der Vielfalt und der Rückführung in der Landwirtschaft anwandten.

Was heute als »ökologisch« bezeichnet wird, ist das Destillat des jahrhundertealten Wissens der indischen Bauern und des umfassenden Verständnisses der Funktionsweise lebender Systeme. Aus diesem Grund wird die ökologische Landwirtschaft in Indien als »Jaivik Kheti«, lebendige Landwirtschaft, bezeichnet, weil sie auf lebenden Systemen basiert und Leben spendet.

Ökologische Landwirtschaft ist einheimische Landwirtschaft, sie ist »swadeshi« – des Landes, der Menschen.

Die erprobten agrarökologischen Systeme und das Wissen einer zehntausend Jahre alten ökologischen Zivilisation und ihre Destillation in organische Prinzipien und agrarökologische Wissenschaft während des letzten Jahrhunderts sind der Leitfaden für die Zukunft unserer Lebensmittel und Landwirtschaft sowie unsere Zukunft als Spezies.

Bio ist eine Weltanschauung, eine Denk- und Lebensweise, ein wissenschaftliches System, eine Reihe von Grundsätzen und Werten, die auf dem vedischen Rta – dem Weg der Natur und des Universums – basieren.

Es beginnt mit der Erkenntnis, dass die Erde lebendig ist. Die organische Weltanschauung basiert auf der Ungetrenntheit und dem Bewusstsein, dass der Mensch Teil einer lebendigen Welt ist, im Gegensatz zur mechanistischen, industriellen Weltanschauung, die den Menschen als Meister und Manipulator der Natur sieht.

Der ökologische Weg umfasst die Art und Weise, wie wir Lebensmittel erzeugen, verarbeiten und verteilen. Da es bei Bio um Leben geht, steht die Bewahrung im Mittelpunkt von biologischen Anbausystemen. Wir erhöhen die Sorgfalt pro Hektar, während das Giftsystem die Sorglosigkeit pro Hektar erhöht. Diese auf Sorglosigkeit basierende industrielle Landwirtschaft hat Arten zum Aussterben gebracht und Bauern in den Selbstmord getrieben. Sie tötet Millionen von Menschen durch Krankheiten wie Krebs und zerstört die Zukunft der menschlichen Spezies.

Aber das Aussterben ist nicht unvermeidlich.

Alles ändert sich, wenn wir von einem reduktionistischen mechanistischen Paradigma zu einem organischen Paradigma übergehen, von Monokulturen zur Vielfalt, von externen Inputs zur »Autopoiesis«, von Gier und Extraktivismus zum Teilen und Geben.

Gifte weichen der Artenvielfalt. Lebensfeindliche, giftige Waren, die Hunger, Unterernährung und Krankheiten erzeugen, werden durch lebendige, lebensspendende Nahrungsmittel und Nährstoffe ersetzt. Ko-Kreation und Ko-Produktion mit den lebenden Systemen der Erde und der biologischen Vielfalt ist der wahre Sinn und Zweck lebendiger Ökonomien, einschließlich ökologischer Lebensmittelsysteme.

Ökologische Systeme basieren auf einer lokalen, lebendigen Wirtschaft, in der der Erzeuger und der Verbraucher von Lebensmitteln eine ökologische Lebensmittelgemeinschaft und Teil der Erdgemeinschaft sind, die Leben spendet und sich gegenseitig unterstützt. Ökologische Gemeinschaften sind verbunden durch Gegenseitigkeit und Geben. Das Gesetz der Rückführung, des Zurückgebens an die Erde und die Gemeinschaft, schafft organische Kreislaufwirtschaften.

Bio basiert auf der Rückgewinnung von Gemeingütern und der Kultivierung von Gemeinschaft durch organische Beziehungen zueinander. Diese organischen Beziehungen befruchten die Demokratie und die Kraft der Menschen, sich zusammen für das Gemeinwohl einzusetzen.

Die Konzerne haben Angst vor der Wahrheit, vor unserer Intelligenz und unserer Fähigkeit, uns umeinander zu kümmern, Gemeinschaften zu bilden, Solidarität, Fairness und Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheiten zu leben. Ihre Gier arbeitet mit gefälschter Wissenschaft, falschen Behauptungen, der Zersplitterung und Spaltung von Gemeinschaften und der Errichtung toxischer Monopole.

Die falschen Behauptungen und gescheiterten Technologien der Chemiekonzerne, die die industrielle Landwirtschaft vorantreiben, haben in über einem Jahrhundert des Ökozids und Genozids Menschenleben gekostet.

Jetzt rauben sie uns die Zukunft.

IPCC und IPBES haben gewarnt, dass wir ein Jahrzehnt Zeit haben, um den ökologischen Kollaps und damit unser Aussterben abzuwenden. In diesem Jahrzehnt müssen wir die ökologische Denk- und Lebensweise wiederentdecken, von der wir abgewichen sind, geblendet vom mechanistischen Reduktionismus als Denkweise und der Gier der Konzerne als Organisationsgrundlage unserer Wirtschaft, unseres Lebens und der lebendigen Welt.

Das Giftkartell ist verzweifelt. Die Welt wacht auf und erkennt die Notlage, in der wir uns befinden. Überall auf der Welt wird nach Wegen gesucht, den Fortbestand des Lebens der Menschen und aller Lebewesen zu sichern.

Organische Denk- und Lebensweisen bieten Alternativen zu den todbringenden toxischen Systemen, die uns das Giftkartell auferlegt hat.

Der biologische Weg ist die ökologische und ethische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Alternative zur Herrschaft des Giftkartells.

Er spielt als System eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Zukunft. Das Giftkartell würde nichts lieber tun, als die wissenschaftlichen, intellektuellen Systeme, die sich als Teil der Bio-Bewegung entwickelt haben, zu unterdrücken und zu untergraben. Deshalb greift seine PR-Maschinerie jetzt die Bio-Bewegung an.
Es ist falsch, Organic so darzustellen, als handele es sich nur um zertifizierten Bio-Anbau, als gäbe es nur die »Bio-Industrie« und als wäre es nur für die Reichen.

Bio ist kein Produkt und keine Ware. Organic ist nicht nur eine Produktionsweise.

Es ist eine Art, uns als Teil der Erde zu sehen. Es ist eine Lebensweise, die unsere Fürsorge für die Erde zum höchsten Ziel als Erdenbürger macht.

Wir können die Saat für eine Zukunft durch Jivad – den organischen Weg – säen, indem wir das Leben in seiner Vielfalt, seinem Reichtum, seiner Schönheit und seinem Frieden feiern, nähren und verteidigen.

Das wissenschaftliche Paradigma der Agrarökologie, der in der Landwirtschaft angewandten Wissenschaft der Ökologie, ist der ökologische Weg. Anstelle von chemischen Mitteln, die der Umwelt und der öffentlichen Gesundheit schaden, stützt sich das Paradigma der ökologischen Landwirtschaft auf die biologische Vielfalt – die Vielfalt der Fauna und Flora, der Pflanzen, Tiere und Mikroben und ihrer unterschiedlichen ökologischen Funktionen. Die ökologische Praxis, die auf Biodiversität und Agrarökologie basiert, ist die regenerative ökologische Landwirtschaft, die den Boden, das Wasser, die biologische Vielfalt, das Klimasystem, die öffentliche Gesundheit und die Lebensgrundlage der Landwirte regeneriert.

Das neue wissenschaftliche Paradigma der Agrarökologie pflanzt die biologische Vielfalt in das Herz der Lebensmittelproduktion.

Die Produktivität wird nicht mehr an den Erträgen der Monokulturen gemessen, in denen unter intensivem Einsatz fossiler Brennstoffe und chemischer Stoffe produziert wird, sondern an dem auf der biologischen Vielfalt basierenden Gesamtertrag biodiverser Systeme, einschließlich der internen ökologischen Funktionen der biologischen Vielfalt, welche die Alternativen zu chemischen Stoffen darstellen.

Ob Klimawandel oder Artensterben, Wasserkrise oder Nahrungsmittelkrise, Hunger oder Krankheit, Armut oder Selbstmord der Landwirte – die Lösungen liegen in der Arbeit mit der Natur und nicht gegen sie.

In den letzten 30 Jahren hat Navdanya biodiverse ökologische Landwirtschaft und Agrarökologie gefördert sowie praktiziert und sich mit den Problemen von Hunger, Armut, Bodenverschlechterung und Klimawandel auseinandergesetzt, wie sie in »Biodiversity, Agroecology, and Regenerative Organic Agriculture« zusammengefasst sind. Jedes Problem, das die industrielle Landwirtschaft der Natur und der Gesellschaft verursacht, wird durch Biodiversität, Agrarökologie und den ökologischen Weg angegangen.

Anstatt den Planeten, unsere Gesundheit und bäuerliche Lebensgrundlagen zu schädigen, beleben und regenerieren wir sie.

Wir können ein vom Giftkartell entfesseltes Jahrhundert des Ökozids und Genozids beenden und eine Zukunft auf der Grundlage giftfreier Lebensmittel und Landwirtschaft beginnen, die eine 100 % biologische Welt anstrebt.

Giftfreie Ernährung und Landwirtschaft in 2030

Jeder von uns kann in seinem täglichen Leben den Übergang von einem industriellen, chemischen Lebensmittelsystem, das auf »Jahar« (Giften) basiert, zu »Jivad« – dem lebensspendenden Potenzial des organischen Weges – beginnen, durch die Art, wie wir das Leben in Saatgut, Boden und Lebensmitteln betrachten, wie wir unsere Lebensmittel anbauen, wie wir sie verarbeiten und verteilen, und was wir essen.

Im nächsten Jahrzehnt können wir uns von den Denkweisen und Lebensmittelsystemen verabschieden, die die Erde, unsere Gemeinschaften, unsere Gesundheit und unsere Freiheiten zerstören. Wir können unsere Intelligenz und Kreativität mit der Intelligenz und Kreativität von Billionen von Mikroben im Boden und in unserem Darm, von Millionen von Insekten-, Pflanzen- und Tierarten und von mehr als sieben Milliarden Menschen verbinden – reiche und arme, junge und alte, Männer und Frauen aller Kasten und aller Religionen, die unser miteinander verbundenes Leben auf einem fragilen Planeten teilen.

Jeder von uns hat das Potenzial, die Saat für unsere gemeinsame Zukunft auszusäen.

 

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Alina Kulik vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!

Weitere Infos zur Autorin gibt es unter www.vandana-shiva.de

Der Originalartikel kann hier besucht werden