Die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt haben einen seit Jahrzehnten schwelenden Grenzkonflikt, der gelegentlich in den westlichen Medien auftaucht. Im Jahr 2020 wurden in diesem Zusammenhang 24 Soldaten getötet. Es wäre weniger besorgniserregend, wenn keine der beiden Nationen mit Atomwaffen bewaffnet wäre, aber das ist leider nicht der Fall, und die Tatsache, dass diese Spannungen andauern, erschwert die Aussichten auf eine weltweite nukleare Abrüstung. Doch wie kam es überhaupt zu diesem Konflikt?

Es ist nicht unbekannt, dass ehemals kolonisierte Länder immer noch mit Problemen zu kämpfen haben, die durch die Kolonisierung entstanden sind. Die Kolonisatoren haben die Küsten dieser Länder längst verlassen und lassen die Menschen mit den Problemen zurück, die die Kolonisatoren geschaffen haben. Der Grenzstreit zwischen Indien und China ist ein solches Problem, das schon vor langer Zeit hätte gelöst werden können. Damit soll nicht gesagt werden, dass das Problem nur wegen der Art und Weise besteht, wie es von den Briten gehandhabt wurde, auch die spätere Regierung des unabhängigen Indiens trägt eine gewisse Verantwortung. Aber es kann nicht geleugnet werden, dass die Saat des Problems schon vor langer Zeit gesät wurde, als das Land noch unter fremder Herrschaft stand.

Der Grenzstreit entstand in den frühen 1950er Jahren, als die Volksrepublik China ihren Anspruch auf Tibet erhob und damit die längste undemarkierte Grenze der Welt zwischen Indien und China schuf. Die Unklarheit der Grenzen zwischen Indien und China geht jedoch auf die Kolonialzeit zurück. In der Zeitschrift E-International Relations heißt es: „Die britischen Initiativen zur Demarkierung der Himalaya-Grenzen waren in erster Linie von der strategischen Konkurrenz mit Russland geleitet…. Im westlichen Sektor wurde der erste Versuch, eine Grenzlinie festzulegen, 1865 unternommen. Die Ungewissheit über den Grenzverlauf begann 1846, als die Briten das Sikh-Reich stürzten und die Herrschaft über den Staat Jammu und Kaschmir beanspruchten. Der Staat wurde daraufhin an die Hindu-Dogras übergeben, die den Briten gegenüber loyal waren, aber die Dogras wussten nicht genau, wo die Grenze verlief, da es ständig zu Kämpfen zwischen den Sikhs, den Dogras, den Chinesen und den Tibetern kam, die alle versuchten, weitere Gebiete zu erobern. Am Ende, als die Kämpfe aufhörten, wusste niemand mehr, wessen Land wo endete.

Der erste Versuch, einen offiziellen Grenzverlauf festzulegen, wurde von Sir W. H. Johnson, dem damaligen Generalvermesser Indiens, unternommen. Er stellte umfangreiche Grenzansprüche auf, die den Dogra-Staat bis zum Kunlun-Gebirge erstreckten und ganz Aksai-China einschlossen. Dieser Vorschlag wurde selbst von den Briten nie vollständig akzeptiert. Der zweite Vorschlag kam 1897 vom Direktor des britischen Militärgeheimdienstes Sir John Ardagh, der die Johnson-Linie wiederbelebte, da er sie für wichtig hielt, um ein strategisches Druckmittel gegen Russland zu sichern. Diese Linie wurde dann als Ardagh-Johnson-Linie bekannt.

Das Erschreckende ist, dass die Briten zwischen 1865 und 1897 je nach der Bedrohung durch Russland mit verschiedenen Versionen der nördlichen und nordöstlichen Grenze Kaschmirs spielten. Das zeigt, wie unbedeutend die Grenzfrage für sie war. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass keiner dieser verschiedenen Grenzvorschläge jemals China vorgelegt wurde. Der einzige, der vorgelegt wurde, war die Macartney-Macdonald-Linie von 1899, die jedoch von der damals in China herrschenden Mandschu-Dynastie nie offiziell akzeptiert wurde. So konnte sich die Grenzunsicherheit bis zum heutigen Stand verfestigen. Alle Grenzoptionen waren informell. Die Briten wählten die Grenze aus, die ihnen am besten passte.

Man kann also sagen, dass der indisch-chinesische Krieg von 1962 eine Folge der Unverbindlichkeit der britischen Regierung in Bezug auf die Grenze war, die das Land in einem Zustand der Ungewissheit über das weitere Vorgehen zurückließ. Indien war zu dieser Zeit mit so vielen internen Problemen konfrontiert, die mit der neuen Unabhängigkeit und dem verheerenden Konflikt mit Pakistan einhergingen, dass der Grenzkonflikt auf der Prioritätenliste nach unten verschoben wurde.

Die östlichen Grenzen Indiens blieben umstritten, weil die Briten mit der Besetzung der Brahmaputra-Ebenen zufrieden waren, da eine Ausweitung der Zuständigkeit auf die Berge weder von strategischem noch von wirtschaftlichem Wert war. Es ging lediglich darum, die Zuständigkeit abzugrenzen: „Das Vorgebirge wurde durch eine äußere Linie geteilt, die die äußere territoriale Grenze des britischen Reiches darstellte, und eine innere Linie, die ohne Genehmigung nicht überschritten werden durfte.“ (E-International Relations) Dies war wiederum nur eine informelle, vage Abgrenzung, die fortbestand.

Im Jahr 1914 gab es einen weiteren Versuch, die Frage zu lösen. Die Briten organisierten eine Konferenz im indischen Shimla, an der Vertreter sowohl Chinas als auch Tibets teilnahmen. Zu dieser Zeit hatte China eine schwache Zentralregierung, was die Briten zuversichtlich stimmte, dass es einfach sein würde, China dazu zu bringen, ihren Forderungen zuzustimmen. China weigerte sich jedoch vehement, den Vorschlag anzunehmen, aber die Briten unterzeichneten das Abkommen mit einigen tibetischen Delegierten dennoch und setzten damit die so genannte McMohan-Linie in Kraft. Die Linie verläuft von der Ostgrenze Bhutans entlang des Himalaya-Kamms bis zur großen Biegung des Brahmaputra, wo der Fluss aus seinem tibetischen Lauf in das Assam-Tal einmündet. (Britannica). Selbst nach der Unterzeichnung akzeptierte China diese Ad-hoc-Grenze nie, da es behauptete, Tibet sei kein unabhängiges Land und habe daher kein Recht, die Grenzen zu bestimmen.

Trotzdem herrschte bis 1960, als sich die Delegierten beider Länder erneut trafen, relativer Frieden zwischen Indien und China. In einem Frontline-Artikel heißt es: „Die chinesische Regierung bot an, Indiens Anspruch auf Arunachal Pradesh bis zur McMohan-Linie anzuerkennen, wenn Indien im Gegenzug Chinas Anspruch auf die Halbinsel Aksai China anerkennen würde. Nehru lehnte das Angebot ab und nahm in der Grenzfrage eine unnachgiebige diplomatische Haltung ein.

Es wäre unfair zu behaupten, dass die Briten allein für den heutigen Streit verantwortlich sind; auch die indischen Diplomaten haben ihren Anteil an der Verantwortung. Aber es lässt sich nicht leugnen, wer den Streit begonnen hat und wer heute den Preis dafür zahlt.

Dieser Artikel ist Teil einer geplanten Serie, die den Grenzstreit zwischen Indien und China in seiner Komplexität und Tiefe beleuchten soll.

Grenzstreit zwischen Indien und China. Bild von Rajbir Singh für The Tribune, Chandigarh, Indien

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Alina Kulik vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!