Ein Dach überm Kopp versprachen wir den Deserteuren – das war das Mindeste. Essen und Arbeit und einen fremden Ausweis fürs Dableiben. Ich sprech‘ vom Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger, und es waren vor allem junge Algerier, politisch verfolgt, die aus Frankreich rübergemacht hatten nach Stuttgart: Hier gab’s ein bescheidenes Netzwerk, das diese Hilfe für die Flüchtigen garantierte und organisierte, und hier gab’s auch das rechte linke Klima für alle Arten von Deserteuren, für Verfolgte, ob sie nun aus dem faschistischen Spanien kamen, aus der südafrikanischen Rassen-Republik oder aus den US-Patch-Baracks im heimattreuen Vaihingen.

Im Hintergrund wirkten Menschen wie der Gewerkschafter Otto Höft, der Übersetzer vom Französischen ins Alltägliche. „Genosse O“ hatte in der Resistance gedient, Fritz Lamm in den Internierungslagern Frankreichs, in Kuba und in den Drucksälen der Stuttgarter Zeitung. Junggebliebene Partisanen, undogmatische Linke allesamt, bestens vernetzt mit Kolleginnen im Wohnungsamt der Stadt und demokratischen Wachleuten der seinerzeit noch kommunalen Polizei – wegen der Papiere für die Duldung und dem Dach überm Kopp. Höft und Lamm und Susanne Leonhard oder Otto Wahl und Hans Gasparitsch: Sie waren mit anderen Widerständlern zugleich die Verbindungsleute zwischen den Flüchtlingen und Organisationen wie der IG Druck und Papier, den Naturfreunden oder roten Falken, waren Hintermänner und Zuträger oft zweisprachiger Infoblätter, kleiner Zeitungen wie Das Freie Algerien (1959 – 1961), die die Drangsalierung der Algerier in Frankreich offenbarten, über die Aufstände in Nordafrika berichteten und der Nationalen Befreiungsfront FLN ein Forum boten. Natürlich, es brauchte auch die breitere Basis, die Auffangbecken, Schlupflöcher wie den Club Voltaire im Leonhardsviertel oder Zeltplatz der sozialistischen Jugend im tiefen Hotzenwald. die Naturfreundehäuser mit den Achtbett-Zimmern, alles etwas abseits des Mainstreams. Es brauchte den Sprung ins Offene, Freunde: Reimar Lenz schrieb der Tagespresse, Tübinger Studierende demonstrierten von der Uni kommend auf dem Marktplatz mit den Stuttgarter Buchdruckern für die Freiheit und die Menschenwürde des algerischen Volkes.

Es war eine gute Schule für den zweiten Schritt – die Solidarität mit den meist farbigen Deserteuren aus dem EUCOM, der US-Army und drum rum, die nicht nach Vietnam ins Sterben mochten, die den Rassismus in der US-Army und zu Hause satt hatten. Ihr Fluchtweg führte über die Prostituierten in der Stuttgarter Altstadt direkt in eine kleine illegale Wohnung in der Hauptstätter Straße: Von da ging’s um halber Viere morgens nach Straßburg, im R4, um im Strom der Berufspendler illegal den Rhein westwärts zu queren. Im gotischen Liebfrauenmünster hieß man die desertierten Amis willkommen, im Zeichen Jesu: Du sollst, verdammt nochmal, nicht töten!

Ach, wie schön wär’s doch, würden man heute die Russen bei uns so willkommen heißen: Desertiert. Die Waffen nieder. Aber überall.

Peter Grohmann’s „Wettern der Woche“

Peter Grohmann ist Kabarettist und Koordinator des Bürgerprojekts Die AnStifter und Mitorganisator von 30 Tage im November – Vom Wert der Menschenrechte.