Angesichts des brutalen Angriffs Russlands auf die Ukraine und des Ausmaßes an Tod und Zerstörung, dessen Ende nicht absehbar ist, ringen wir um die Radikalität der Gewaltfreiheit, zu der Jesus uns herausfordert. Wir ermutigen, zu dem Wissen und den Erfahrungen mit der gewaltfreien Prävention, Intervention und Deeskalation militärischer Konflikte zu stehen. Wir rufen dazu auf, weiterhin am Engagement für Gewaltfreiheit festzuhalten, statt sich der scheinbar unausweichlichen Eskalation der militärischen Logik zu ergeben.

Der Krieg ist in einem bisher unvorstellbaren Ausmaß zurück in Europa. Seine globalen Auswirkungen sind schon jetzt spürbar. Leidtragende sind die Menschen, sind Kinder, Männer und Frauen. Leidtragende sind diejenigen, deren Leben, Gesundheit und Lebensgrundlage durch die Gewalt zerstört werden. Es sind diejenigen, die – ob freiwillig oder gezwungen – Kriegshandlungen ausüben und die damit auch tiefgreifende seelische Verletzungen erleiden werden. Jeder Krieg entwürdigt, entwurzelt und zerstört und immer dauert es unabsehbar lange, bis die Wunden geheilt werden. Dies ist die schmerzhafte Erfahrung aus allen Kriegen der Vergangenheit und Gegenwart, nicht zuletzt in Süd-Osteuropa, wo Mitglieder von Church and Peace seit Jahrzehnten Wege der Heilung suchen, für sich und für ihre Gesellschaften, und versuchen, den auch jetzt wieder drohenden gewaltförmigen Ausbruch ungelöster Konflikte zu verhindern.

Es geht weder darum, den Menschen in der Ukraine und in anderen Konfliktgebieten dieser Erde vorzuschreiben, wie sie sich zu verteidigen haben, noch geht es darum, sie allein zu lassen. Gewaltfreiheit eröffnet gerade angesichts des Ausmaßes an offener Gewalt, angesichts der drohenden Eskalation, angesichts der weltweiten gefährlichen latenten oder offenen Konflikte eine alternative Perspektive für eine Zukunft in Sicherheit für alle auf unserem gefährdeten Planeten.

Es scheint bisher nicht berichtenswert, dass Menschen in Vergangenheit und Gegenwart eine andere Tapferkeit als die mit der Waffe praktizier(t)en, auch in der Ukraine und selbst in Russland. Wissenschaftlerinnen haben 323 gewaltförmige Konflikte der letzten 100 Jahre untersucht. Wo mit gewaltfreiem Widerstand auf die angreifende Gewalt geantwortet wurde, führte die Hälfte zu nachhaltigem Frieden – doppelt so oft wie bei militärischer Verteidigung. Es gab auch dabei Opfer, aber deutlich weniger als bei bewaffneten Reaktionen. (Chenoweth, Erica und Stephan, Maria J., Why civil resistance works, New York 2011)

Gewaltfreiheit ist zunächst eine Haltung. Sie achtet die Menschlichkeit und Würde eines jeden Menschen, auch die des Gegners. Sie ist verbunden mit Mut, Kompetenz, Kreativität und Aktivität. Gewaltfreiheit ist NICHT Passivität! Im Gegenteil!

Es geht darum, die Gefahr gewaltförmiger Konflikte mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern, heiße Konfliktsituationen zu deeskalieren. Es geht darum, Menschen im Widerstand gegen den Krieg sowie nach Beendigung der militärischen Gewalt in der Situation einer Niederlage und im Widerstand gegen eine Besatzung aktiv zu unterstützen. Und nach einem Krieg geht es um Traumabearbeitung, Heilung von Erinnerungen, weiteren gewaltfreien Einsatz für Gerechtigkeit und Freiheit als Voraussetzung zur Versöhnung. All das muss gelernt werden, dafür muss mehr denn je in Menschen und Kompetenzen investiert werden, mindestens so viel wie bisher in Waffen! Das erfordert ein radikales Umdenken statt steigender Aufrüstung.

In der Einleitung des Mitte April veröffentlichten Olaf Palme Report 2 „Common Security 2022 – For our shared Future” wird festgestellt: „Die Welt steht an einem Scheideweg. Sie steht vor der Wahl zwischen einer Existenz auf der Grundlage von Wettbewerb und Aggression oder einer Existenz, die auf einer transformativen Friedensagenda und gemeinsamer Sicherheit beruht. Im Jahr 2022 ist die Menschheit mit den existenziellen Bedrohungen eines Atomkrieges, des Klimawandels und von Pandemien konfrontiert. Hinzu kommt eine toxische Mischung aus Ungleichheit, Extremismus, Nationalismus, geschlechtsspezifischer Gewalt und schrumpfenden demokratischen Handlungsspielräumen. Wie die Menschheit auf diese Bedrohungen reagiert, wird über unser Überleben entscheiden.“ (S.4)

Auch dieser Krieg macht deutlich, dass die Ressourcen der Erde, dass Öl, Gas, Boden, Nahrungsmittel und Wasser zu Kriegswaffen werden. Aber wir müssen auf diesem begrenzten, gefährdeten Planeten zusammenleben – auch mit Russland.

Auf diesem Hintergrund wurde in der Badischen Landeskirche das inzwischen international diskutierte Szenario ‚Sicherheit neu denken‘ erarbeitet, das langfristige Alternativen zu militärischer Sicherheit entwickelt – und an dem wir als Church and Peace mit engagiert sind.

Wagen wir, an der Überzeugung festzuhalten, dass Krieg nach Gottes Willen nicht sein soll, wie es die erste Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 formuliert hat. Wagen wir, an der politischen Überzeugung festzuhalten, dass Krieg nicht sein muss. Halten wir die Häme und den Spott aus, den Vorwurf der Naivität und ewig Gestrigkeit!

„Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ (Mt 5,9) Und: „Zum Frieden hat euch Gott berufen.“ (1. Kor 7,15) – diese und andere Worte der Bibel verstehen wir als Herausforderung, ja, als Zumutung für uns und alle Kirchen in der Nachfolge Jesu. Wir verstehen sie als Auftrag an die Kirchen, unsere Gesellschaften zu ermutigen und ihnen zuzumuten, den Weg der Gewaltfreiheit zu wagen.

Der Originalartikel kann hier besucht werden