Anfang April hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty Argentinien ihren jährlichen Bericht über Menschenrechtsverletzungen im Jahr 2021 veröffentlicht. Die Situation im Land wird darin auch im Hinblick auf Entwicklungen in Nord- und Südamerika betrachtet. Die Region „hatte bereits vor Covid-19 die höchste Einkommensungleichheit der Welt“, so der Bericht.

Diese Ungleichheit hat sich nun im Laufe der Pandemie verfestigt, auch falsche Versprechen der Regierung verbessern nichts an dieser Situation. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die wichtigsten Themen, auf die der Menschenrechtsbericht eingeht: das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, Feminizide, Kindesmissbrauch, staatliche Gewalt und das Ley Humedales – ein Gesetz, das die Feuchtgebiete des Landes vor Bränden schützen soll.

Das Recht auf freie, sichere und kostenlose Abtreibungen

Seit Ende 2020 sind Abtreibungen bis zur 14. Schwangerschaftswoche in Argentinien erlaubt. Die Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes war ein historischer Erfolg der feministischen Bewegungen. Doch „ein Jahr nach der Annahme des Gesetzes 27.610 ist der Zugang für Frauen und gebärende Personen zu einem Schwangerschaftsabbruch noch immer erschwert. Das beginnt schon bei der Frage, wie und wo dieser vorgenommen werden kann: Ein Recht, das man nicht kennt, kann man auch nicht in Anspruch nehmen“. Zu diesem Ergebnis kommt der Amnesty-Bericht nach Anfragen an öffentliche Stellen, Interviews mit medizinischen Angestellten, Aktivist*innen, Anwält*innen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Betroffenen, die am eigenen Körper erlebt haben, wie schwer es ist, Zugang zu einer legalen Abtreibung zu bekommen. Das Urteil: Es fehlt an groß angelegten Kampagnen. Nur einige Provinzen des Landes haben einzelne Maßnahmen unternommen, um Informationen über das Recht auf einen freien, kostenlosen und sicheren Schwangerschaftsabbruch zu verbreiten.

Ein weiterer wichtiger Punkt des Berichts bezieht sich auf die Hotline für sexuelle Gesundheit, die das argentinische Gesundheitsministerium anbietet: Neun von zehn Anrufen haben mit dem Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu tun. Auch wenn damit der Beunruhigung und Ratlosigkeit der Betroffenen geholfen werden kann, „führt das in der Realität zu einem bürokratischen Kreislauf, der den Prozess der Beratung und des Zugangs sehr umständlich macht.“

Außerdem geht der Bericht auf den rechtlichen Umgang mit Abtreibungen ein. Einerseits werden Angestellte im Gesundheitswesen, die das Recht auf Abtreibung garantieren, noch immer kriminalisiert. Dazu gehört etwa das Strafverfahren gegen Miranda Ruiz: Die Ärztin, die im Krankenhaus Juan Domingo Perón in Tartagal, einer Stadt in der nordwestargentinischen Provinz Salta, tätig ist, hatte einer erwachsenen Patientin Zugang zu einer legalen Schwangerschaft gewährt. Trotzdem ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen der angeblichen Verursachung eines Schwangerschaftsabbruchs ohne Zustimmung. Auf der anderen Seite wurden bis Dezember 2021 bereits 37 Klagen gegen das Gesetz zur Legalisierung von Abtreibungen vorgelegt. Und das, obwohl die Judikative bereits in früheren gerichtlichen Prozessen jegliche Aktionen gegen die Norm systematisch zurückgewiesen hat.

Femizidale Gewalt

„Die geschlechtsspezifische Gewalt ist in Argentinien in dieser Dimension eine endemische Krise, die keine Regierung jemals lösen konnte“, heißt es im Bericht kategorisch. „Es scheint, dass die öffentliche Politik zur Beseitigung der geschlechtsspezifischen Gewalt nicht funktioniert. Außerdem fehlt den zuständigen Beamten, die das Gesetz erfüllen und anwenden sollen, die angemessene Perspektive.“

Der Bericht nimmt auch die Ergebnisse der Beobachtungsstelle für Feminizide der staatlichen Behörde Defensor del Pueblo de la Nación auf: 289 Todesopfer habe es im Jahr 2021 durch femizidale Gewalt gegeben. Die Beobachtungsstelle Lucía Pérez, eine öffentliche und selbstverwaltete Institution, registrierte jedoch mehr Fälle: 323 Feminizide und Travestizide (Morde an trans Personen und Travesti) im Jahr 2021.

Kindesmissbrauch

Beim Thema Kindesmissbrauch bezieht sich Amnesty Argentinien auf die Daten der landesweiten Umfrage über Kinder und Jugendliche, die UNICEF von 2019 bis 2020 durchgeführt hat. Laut dieser Umfrage gaben 11 Prozent der befragten Frauen zwischen 18 und 49 Jahren an, in ihrer Kindheit oder Jugend sexuell missbraucht worden zu sein. Übertragen auf Kinder und Jugendliche heute bedeutet das, dass mindestens eines von zehn Kindern oder Jugendlichen unter sexualisierter Gewalt leidet.

Außerdem gebären jedes Jahr etwa 80.000 Jugendliche ein Kind, 70 Prozent davon ungewollt und ungeplant. Besonders trifft das auf die unter 15-Jährigen zu: Acht von zehn dieser Jugendlichen wurden in Folge eines sexuellen Missbrauchs oder sexualisierter Gewalt schwanger, teilte eine Stelle des argentinischen Gesundheitsministeriums mit.

In Bezug auf den sexuellen Missbrauch von Kindern bezieht sich der Amnesty-Bericht etwa auf den Fall Thelma Fardin. Die Schauspielerin hatte ihren eigenen Fall öffentlich angezeigt. Am Abend darauf stiegen die Anrufe bei der für Kindesmissbrauch zuständigen Stelle um 1.200 Prozent. Im Bericht heißt es: „In Argentinien kommt es in nur 15,5 Prozent der Anzeigen von Delikten gegen die sexuelle Unversehrtheit zu einem Urteil. Dieses Muster zeigt sich auch in anderen Ländern des Kontinents. Die Straflosigkeit bei sexualisierter Gewalt sendet eine falsche Botschaft, nämlich die, dass Gewalt gegen Frauen toleriert wird. Das verstärkt das Gefühl der Unsicherheit und das anhaltende Misstrauen gegenüber der Justiz.“

Das Programm ESI (Educación Sexual Integral) soll die grundlegende Sexualerziehung in Argentinien gewährleisten. Es sieht Maßnahmen vor, damit Kinder und Jugendliche zum Beispiel Fälle von sexuellem Missbrauch erkennen und vorbeugen können und Methoden lernen, um ungewollte Schwangerschaften zu verhindern. Doch auch 16 Jahre nach Einführung des Programms gibt es noch immer eine deutliche Kluft zwischen den normativen Zielsetzungen und ihrer tatsächlichen Umsetzung. So berichtet Amnesty, dass nur 4 Prozent der Sekundarschüler*innen bejahte, Bildung über die grundlegenden, priorisierten und verpflichtenden Inhalte der ESI erhalten zu haben. Sieben von zehn Lehrer*innen gaben an, in Sachen geschlechtsspezifischer Gewalt, sexuellem Missbrauch an Kindern, sexueller Vielfalt sowie diverser Geschlechtsidentität und -ausdruck nicht genug geschult zu sein. Dies zeigt, dass es an staatlichen Maßnahmen fehlt, um die Bildung, die das entsprechende Gesetz vorsieht, auch tatsächlich zu gewährleisten.

Staatliche Gewalt

Bereits in den vergangenen Jahren hat Amnesty International in ganz Argentinien Fälle von Misshandlung, Erniedrigung, Drohung, exzessivem Gewaltgebrauch und Tötung durch staatliche Sicherheitskräfte registriert. Auch im Jahr 2021 gibt es solche Fälle zu beklagen. Auf einige Fälle der vergangenen Jahre soll hier im Einzelnen kurz eingegangen werden:

Der 17-Jährige Lucas González wurde im Viertel Barracas von Buenos Aires von Polizeibeamten erschossen.

In der Provinz Chaco drang eine Gruppe Polizist*innen unter Einsatz von Gewalt und ohne rechtliche Anordnung in das Haus einer Familie Qom-Indigener ein.

Der 22-Jährige Mauro Coronel starb, nachdem er in Santiago del Estero gewaltvoll von der Polizei festgenommen wurde.

Blas Correa, 17 Jahre alt, fuhr mit vier Freunden in Córdoba Auto, als er von der Polizei erschossen wurde.

Der 23-Jährige Josué Lagos, ebenfalls Mitglied der indigenen Gemeinschaft Qom, wurde während eines Polizeieinsatzes in der Provinz Chaco von Sicherheitskräften angeschossen.

Santiago Maldonado wurde 28 Jahre alt. Seine Leiche wurde im Jahr 2017 in einem Fluss auf dem Gebiet der Mapuche in der Provinz Chubut gefunden – 78 Tage, nachdem Sicherheitskräfte die Region abgeriegelt hatten.

Die Leiche des 22-Jährigen Facundo Castro wurde 107 Tage, nachdem er Ende April 2020 verschwunden war, gefunden. Er wurde zuletzt bei einer Polizeikontrolle in der Provinz Buenos Aires gesehen.

Das Ley Humedales

Fast ein Viertel der Fläche Argentiniens (21 Prozent) sind von Feuchtgebieten bedeckt. Im Jahr 2020 fielen fast 1.200.000 Hektar davon Bränden zum Opfer. Im Jahr 2021 haben die riesigen Brände in der Provinz Corrientes und die Ausrufung des Notstands durch die Regierung gezeigt, dass die Gefahr neuer derartiger Notlagen durch Brände weiterhin besteht.

Bereits seit 2013 wurden mehrere Entwürfe für ein Ley Humedales, also ein Gesetz zum Schutz von Feuchtgebieten, vorgelegt. Keiner dieser Vorschläge hat es jedoch bis jetzt in den argentinischen Kongress geschafft. Im Bericht heißt es: „Die Klimakrise verschärft sich Jahr für Jahr und hat gezeigt, dass sie einen verheerenden Effekt für die Gewährleistung der Menschenrechte hat. Die intensiven Hitzewellen, Dürren und großflächigen Brände im ganzen Land haben die Notwendigkeit, das Ley Humedales im Parlament zu behandeln, wieder auf die Tagesordnung gebracht“.

Übersetzung: Susanne Brust

Der Originalartikel kann hier besucht werden