Die verkürzte Sichtweise auf Julian Assange als Journalist verdeckt jene Aspekte seiner Arbeit und auch die vieler anderer Netzaktivisten, welche auf eine gesamtgesellschaftliche Veränderung zielen.


— Julian Assange (London, Oktober 2012)

Julian Assange. (Illustration: hafteh7, Pixabay.com)
Julian Assange. (Illustration: hafteh7, Pixabay.com)

Assange war und ist ein anarchistischer Internetaktivist der ersten Stunde, und seine gnadenlose Verfolgung dient nicht allein der Abschreckung von Journalisten oder Whistleblowern, sondern ist eine Kampfansage an alle, die das Internet und seine Möglichkeiten als Wachstums- und Emanzipationswerkzeug begreifen und versuchen, es vor kapitalistischen Verwertungs- und Unterdrückungsinteressen zu schützen.

Das Internet hebt viele Beschränkungen der Kommunikation und des Informationsaustausches auf. Seine Quellen sind unerschöpflich und jeder User kann selbst zur Quelle werden. Das Internet erlaubt direktdemokratische Elemente und Zusammenarbeit, die nicht durch Raum und Zeit getrennt sind. Darüber hinaus hebt das digitale Konzept materielle Begrenzungen auf.

Wenn etwas Materielles geteilt oder weggegeben wird, bleibt nur die Hälfte oder nichts. Teilt man etwas Digitales, ähnlich einem Gedanken, hat jeder nun das Ganze ohne jeglichen Verlust und kann damit etwas erarbeiten oder es weiterentwickeln. Das ist der Geist des Sharing und die reine Antithese zum alleinigen Besitz, reglementiert und missbraucht durch Urheberrechte und Patente.

Auf der anderen Seite aber kann das Internet ebenso zur Unterdrückung und Desinformation missbraucht werden. Bereits in den frühen Jahren des Netzes, als die meisten Menschen mit dem Begriff Internet noch nichts anfangen konnten, gab es ernsthafte Auseinandersetzungen und Kämpfe.

Anfangs hatten Staat und Kapital noch nicht die rechtlichen Durchgriffsmöglichkeiten wie heute. Viele Dinge waren undefiniert und/oder die Möglichkeiten des Internets wurden unterschätzt oder gar nicht wahrgenommen. Trotzdem tobte sofort ein Kampf um Transparenz, Privatheit und Rechte. So entwickelte zum Beispiel zu Beginn der 1990er-Jahre Phil Zimmermann PGP (Pretty Good Privacy), ein Verschlüsselungstool, dass jeder anwenden konnte und zur damaligen Zeit nicht zu knacken war (1).

Die Regierung der USA hatte den Export von Verschlüsselungstechnologie unter das Kriegswaffenkontrollgesetz gestellt und verbot jegliche Ausfuhr. Wer mit einer Diskette am Flughafen erwischt wurde, konnte sich durchaus in einer Gefängniszelle wiederfinden. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen um Datenschutz und Überwachung entstand eine Bewegung, die sich Cypherpunks nannte und sich über einen wie auch immer gearteten Krypto-Anarchismus definierte, nachzulesen in einem Manifest von 1993 (2).

A Cypherpunk’s Manifesto 1993 [Eric Hughes]. In Pursuit of Building Anonymous Systems (Quelle: Lucid Dev Team / YouTube)

Der Krypto-Anarchismus postulierte, dass eine Asymmetrie zwischen dem Staat, der einen möglichst großen Teil der Kommunikation seiner Bürger zu überwachen versucht, und eben diesen Bürgern besteht, gegenüber denen der Staat vieles geheim halte. Die technische Revolution des Cyberspace könnte diese Verhältnisse nun umkehren. Alle privaten Informationen könnten und sollten mit kryptografischen Mitteln geheim gehalten werden. Der Staat wäre zur Unterdrückung des Einzelnen dann nicht mehr in der Lage und müsste sich in eine “Enklave der Dinge-die-er-kontrollieren-kann” zurückziehen. Der umgekehrte Ansatz, um das gleiche Ziel zu erreichen, wäre die radikale Veröffentlichung des Herrschaftswissens.

Zu der Zeit wurde vorrangig der Staat als Gegner wahrgenommen. Die Überwachungsgiganten wie Google, Apple, Facebook und Amazon gab es noch nicht. Allerdings war es schon sehr früh die Privatwirtschaft, welche als Speerspitze Überwachung forderte und in die Entwicklung entsprechender Möglichkeiten investierte und vom Staat gerne als Alibi genutzt wurde.

Nach der Jahrtausendwende verschärften sich die Konflikte. Die sogenannte “Contentindustrie” (Musik/Film) jammerte über Verkaufsverlust und die Nutzer des Netzes wurden pauschal als Raubkopierer kriminalisiert, was zu einer deutlichen Politisierung der Szene und ihrem Umfeld führte. Weitere Zensurbestrebungen des Staates kamen hinzu. So wurden unter dem Vorwand, Kinderpornografie besser bekämpfen zu wollen, weitere Teile der Internetuser-Community gebrandmarkt. Schließlich sahen sich Abertausende von Jugendlichen bzw. ihre ahnungslosen Eltern mit Strafverfahren konfrontiert, deren Urteile und Kosten in keinem Zusammenhang zum wirklichen Schaden standen.

Das führte ab 2007 dazu, dass sich der Protest auch außerhalb des Netzes manifestierte. Zuerst in Schweden, dann in anderen Ländern, entstanden Piratenparteien und neue NGOs. Der ganzen Bewegung lagen dieselben Forderungen zugrunde, wie sie schon im Manifest von 1993 anklangen. Transparenz über das Handeln der regierenden Mächte, Datenschutz für den Bürger, Kampf gegen Überwachung, ergänzt um Open Source, Open Access und Direkte Mitbestimmung (Politik 2.0). Zu dieser Zeit ging auch Wikileaks online.

Die damaligen und auch noch heute aktuellen Forderungen standen beziehungsweise stehen dem politischen und wirtschaftlichen System diametral gegenüber.

Wikileaks wie auch die Piraten hatten zu Anfang mäßigen Erfolg. In den ersten zwei Jahren dümpelte die Mitgliederzahl der Piraten im mittleren dreistelligen Bereich. Und auch die Veröffentlichungen von Wikileaks hatten erst nicht den durchschlagenden Erfolg, so wie Julian Assange sich das vorgestellt hatte, weswegen er auch die Kooperation mit etablierten Medien suchte. 2007 veröffentlichte Wikileaks die “Kenya Leaks (fehlende Milliarden)”, die “Standard Operating Procedures for Camp Delta / Guantanamo Bay” und 2008 die Leaks zu “Scientology”, “Sarah Palin Mails“, “Tibet Videos” und zu “Julius Bär und die Caymans“. Das führte dann zur ersten Sperrung der Internet-Domain von Wikileaks.

2009 veränderte sich das Ganze. Wikileaks veröffentlichte zu “Barclay Bank”, “Zensurlisten gesperrter Websites”, “Bilderberg Protokolle 1950 bis 1980”, “Petrogate Peru” (ausländische Ölfirmen in Peru), “Nuklearunfall Iran (Zentrifugen Stuxnet)”, “Giftmüllverklappung eines Schweizer Konzerns vor der Elfenbeinküste” und zur isländischen “Kaupthing Bank“. In Deutschland kam es zu Demonstrationen gegen die Zensurbestrebungen im Internet, damals befeuert durch Ursula von der Leyen und ihre Internetsperren, was ihr den Namen Zensursula einbrachte (3).

Dann wurde 2010 “Collateral Murder” (US-Kriegsverbrechen im Irak) veröffentlicht und bestätigte mal wieder die Wirkkraft des Bildlichen gegenüber dem Text. Bradley Edward Manning (heute Chelsea Manning) wurde verhaftet. Es wurden die “Afghan War Logs” und “Irak Documents” veröffentlicht und dann kamen die “Cables” (Diplomatische Depeschen der US-Botschaften).


Julian Assange und WikiLeaks: Videoreport zum 10-jähriges Jubiläum der Veröffentlichung von “Collateral Murder”. (Video: acTVism Munich)

Mit den “Cables” hatte sich Wikileaks endgültig aus dem Konsens der bestehenden Medienordnung gelöst. Und während Collateral Murder “nur” die Veröffentlichung eines Kriegsverbrechens war, eröffneten die Cables einen uneingeschränkten Blick in politische Machenschaften. Die “Cables” führten zum endgültigen Bruch mit den etablierten Medien.

In seinen Anfängen wurde Wikileaks äußert geringschätzig von den etablierten Medien behandelt. Sie nahmen zwar die Informationen und veröffentlichten Teile davon, mitunter ohne Wikileaks überhaupt zu erwähnen. Die etablierten Medien wollten Julian Assange nicht als Journalisten betrachten. So schrieb der damalige Chefredakteur der Times:

“We regarded Assange throughout as a source, not as a partner or collaborateur, but he was a man who clearly had his own agenda.” (Bill Keller 2011)

[Wir betrachteten Assange durchgängig als Quelle, nicht als Partner oder Mitstreiter, denn er war ein Mann, der klar seine eigene Agenda hatte.] (4)Der Umgang mit den “Cables” bestätigte alle Befürchtungen von Julian Assange:

»Der Guardian redigierte zwei Drittel einer Depesche der US-Botschaft über Kriminalität in Bulgarien. Er entfernte alle Namen der Mafiosi, die die bulgarische Regierung unterwandert hatten. Er entfernte eine Beschreibung der Elite Kasachstans, die die Korruption der gesamten kasachischen Oberklasse aufzeigte – nicht mit ausdrücklichen Namen, sondern ganz allgemein. Er entfernte die Beschreibung eines in Kasachstan operierenden, italienischen Energiekonzerns als korrupt. Sie haben nicht nur die Namen von Leuten entfernt, die ungerechten Risiken ausgesetzt wären, wie wir es tun und von ihnen verlangen. Sie haben alle Namen der einzelnen Mafiosi gestrichen, weil sie Angst hatten, in London verklagt zu werden. […] Es herrscht eine unglaubliche Selbstzensur in den Redaktionen, aber sie geben das nicht zu und gestehen nicht, dass sie so verfahren. Diesen Weg nach unten will WikiLeaks nicht gehen.« (Julian Assange: When Google meets WikiLeaks, 2016, S. 173 f.)

Die etablierten Medien hatten die Leaks so abgemildert, dass sie ins bestehende Narrativ passten, und genauso machten sie es später mit den Snowden-Files, von denen bis heute nur wenige Prozent veröffentlicht sind.

Vielen Menschen ist auch heute noch nicht bewusst, dass Wikileaks mehr war als eine journalistische Plattform. Julian Assange hatte mit Wikileaks einen Proof-of-Concept (Meilenstein, der die prinzipielle Durchführbarkeit eines Vorhabens belegt) geschaffen, der die theoretischen Annahmen der Cypherpunks angewendete Wirklichkeit werden ließ. Zusammen mit den politischen Erfolgen der Piraten wurde befürchtet, dass eine parlamentarische Kraft entstehen könnte, die sich nicht dem Status quo verpflichtet fühlt, sondern die politische und gesellschaftliche Ordnung radikal infrage stellt und auch noch die Werkzeuge dafür mitbringt.

Für viele Außenstehende war die Brisanz der damaligen Ereignisse kaum nachvollziehbar. Direktdemokratische Bestrebungen

  • mit voller Transparenz der Regierungspolitik und gleichzeitigem Schutz der Regierten,
  • mit einem voll funktionsfähigen Werkzeug der Partizipation,
  • und Akteuren, die nicht die Aschenbahn der innerparteilichen Anpassung durchlaufen hatten
  • und auch noch über genügend finanzielle und technische Autonomie verfügten,

waren (und sind) der Albtraum für die Hüter einer bestehenden Machtordnung. Assange und Wikileaks waren keine Caféhaus-Revoluzzer, sondern sie haben gehandelt und die politische Sprengkraft war immens!

Doch die Gegenreaktion kam schnell. Die etablierten Medien waren nur kurz verunsichert und auch der Tiefe Staat wurde aktiv. Das Netz konnte man nicht so schnell unter Kontrolle bringen, deshalb wurden die menschlichen Akteure zur Zielscheibe. Den Vergewaltigungsvorwürfen gegen Assange ging eine Kampagne voraus, in der ehemalige Wikileaks-Weggefährten schmutzige Wäsche wuschen und Julian Assange als Egomanen darstellten. Die Piraten wurden intern von den Antideutschen unterwandert und extern von den Medien unter Druck gesetzt. Als politische Anfänger hatten sie dem nichts entgegenzusetzen.

Assange sitzt heute im Folterknast in Belmarsh in London (5) und die Piraten wurden versenkt oder haben sich selbst versenkt, je nach Lesart. Wikileaks spielt keine Rolle mehr in der Öffentlichkeit, und in einer Zeit, wo die letzten Reste des Datenschutzes gerade unter dem Deckmantel der Gesundheitsvorsorge entsorgt werden und eine ungeahnte digitale Überwachungsstruktur namens “Grüner Pass”, Stichwort ID2020, etabliert wird, kann man das Fehlen eines (digitalen) Widerstandes nur als Katastrophe betrachten.


Quellen und Anmerkungen

(1) Philip R. Zimmermann (Jahrgang 1954) ist Softwareentwickler und Erfinder der E-Mail-Verschlüsselungssoftware Pretty Good Privacy (PGP). Außerdem ist er Mitbegründer und Chefentwickler von Silent Circle, einem Unternehmen für verschlüsselte Kommunikation. Als Folge der globalen Überwachungs- und Spionageaffäre – der Whistleblower Edward Snowden hatte 2013 die millionenfache Überwachung durch die National Security Agency (NSA) enthüllt – verließ Zimmermann 2015 die USA und zog mit samt seiner Firma in einen Vorort von Genf (Schweiz).

(2) activism.net (Eric Hughes): A Cypherpunk’s Manifesto. Auf https://activism.net/cypherpunk/manifesto.html (abgerufen am 21.9.2021).

(3) Das sogenannte Zugangserschwerungsgesetz (ZugErschwG) trat 2010 in Kraft und wurde im Dezember 2011 vorzeitig aufgehoben. Eine Verfechterin des Überwachungsgesetzes war Ursula von der Leyen (CDU), damals Familienministerin. Informationen zum Thema: Andre Meister (Arbeit zur Erlangung des Akademischen Grades Master of Arts 2011); Zugangserschwerungsgesetz – Eine Policy-Analyse zum Access-Blocking in Deutschland. Auf https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/Master-Meister-Zugangserschwerungsgesetz.pdf (abgerufen am 21.9.2021).

(4) NY Times Magazine (26.1.2011): Dealing With Assange and the WikiLeaks Secrets. Auf https://www.nytimes.com/2011/01/30/magazine/30Wikileaks-t.html (abgerufen am 21.9.2021).

(5) Republik (31.1.2020): “Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System”. Auf https://www.republik.ch/2020/01/31/nils-melzer-spricht-ueber-wikileaks-gruender-julian-assange (abgerufen am 21.9.2021).

Der Originalartikel kann hier besucht werden