Helmut Ortner plädiert in seinem neuen Buch für zivilisierten Streit – nicht nur in diesen Corona-Zeiten. Denn eine offene Gesellschaft brauche Gegenrede und Widerstreit. Konformismus sei Gift für die Demokratie.

Ihr Buch „Widerstreit“ liest sich wie ein Plädoyer für eine vielstimmige Streitkultur. Wird derzeit nicht schon genug gestritten in unserem Land?

Helmut Ortner: Keineswegs. Streit ist der Sauerstoff für unsere Demokratie. Man könnte auch sagen: die Bereitschaft zum Streiten ist „systemrelevant“. Dies gilt besonders in Zeiten, in denen die Pandemie das ganze Land im Griff hat. Politische Entscheidungen müssen von der Mehrheit unterstützt werden, aber Minderheiten müssen gehört werden. Sie müssen sich in den Entscheidungen wiederfinden können. Es muss diskutiert und gestritten werden. Das ist die Grunderkenntnis von Demokratie.

Wann aber wird aus einem konstruktiven Streit eine aggressive Abgrenzung, die nicht zusammenführt, sondern spaltet?

Die Corona-Pandemie wirkt wie ein Brennglas für gesellschaftliche Missstände und Defizite. Und da gibt es derzeit nun wirklich viel zu diskutieren. Vieles von dem, was wir jetzt erleben, was in unserem Land nicht funktioniert, hat auch mit der Frage zu tun: Wer hat dieses Land eigentlich die letzten 16 Jahre regiert? Politik- und Verwaltungsversagen sind vielfältig spürbar, noch nie haben so viele Menschen den politischen Entscheidungs- und Funktionsträgern ihre Loyalität aufgekündigt…

Beispielsweise die Aktion bekannter Schauspieler, die – in nicht unumstrittenen Videos  für Aufregung gesorgt haben… 

Eine Aufregung, die ich nicht teilen mag. Man muss ja nicht alle Beiträge für gelungen halten. Redliche Absichten bringen nicht automatisch sinnvolle Inhalte hervor. Einige Beiträge sind missverständlich, ja, auch missraten. Wenn Politiker aber von Zynismus reden, dann sind das gewohnte Reflexe derer, die wirklich in der Pandemie versagt haben. Wenn eines zynisch ist, dann das verlogene Applaudieren für Pflegekräfte und Klinikpersonal. Die Politik hat doch in den letzten Jahren an deren Gehältern rigoros gespart. Darüber sollte man sich aufregen. Aber nicht zu übersehen ist: unsere Demokratie steht auf dem Prüfstand, viele Bürger misstrauen dem Staat und seinen Institutionen. Und klar ist: Politik muss mehr sein als Abwehrkampf gegen das Virus. Es braucht Strategien über den Tag hinaus, eine Antwort auf die Frage: Wie wollen wir als offene Gesellschaft mit der Pandemie leben? Darüber muss und soll gestritten werden.

Streit um die beste Lösung, ja… Aber nicht allein in digitalen Foren wird gehetzt und polarisiert. Aggression und Hass statt Argument und Austausch. Einige wittern sogar eine Meinungsdiktatur… 

Nein, es gibt keinen Plan zur Abschaffung der Demokratie durch eine „Merkel-Diktatur“ oder andere böse Kräfte. In Krisenzeiten grassiert nicht nur eine Realitätsverleugnung, sondern es kursieren wahnhafte Verschwörungstheorien – nicht nur in digitalen Echo-Räumen. Extremismus kann sich hier ungestört entfalten. Kein guter Zustand. Demokratie aber braucht Vertrauen, das ist die tragende Währung. Mangelt es daran, schafft das ein Klima des Misstrauens, der Angst, der Aggression. Mit anderen Worten: es braucht den offenen, zivilisierten Streit. Ich sehe ihn nirgendwo hierzulande eingeschränkt, man muss sich nur daran beteiligen wollen. Protest und Streit ist hierzulande nicht gefährlich. Es eignet sich nicht als heroische Geste. Und wer sich das Etikett eines „Querdenkers“ anheftet, der muss nun wirklich keinen Mut aufbringen. Wer von Meinungsdiktatur schwafelt, weiß nicht, was Diktatur ist – ein Blick nach Belarus, in die Türkei, nach Russland klärt ihn vielleicht auf.

In ihrem Buch geht es nicht allein um die aktuelle Corona-Debatte. Es ist auch eine Bestandaufnahme historischer Beispiele von unterlassenem Widerstand und Widerstreit – gegen politischen Fanatismus und religiösen Wahn, gegen Geschichtsvergessenheit und Populismus…

Ja, die Corona-Debatte überdeckt vieles, was aktuell „streit-würdig“ wäre: die halbherzige Klimapolitik unserer Regierung, der beschämende Umgang mit der Flüchtlings-Wirklichkeit bis hinein in die Niederungen deutscher Realpolitik, vom Maut-Desaster eines Herrn Scheuer bis hin zum Wirecard-Versagen eines Kanzler-Kandidaten Scholz. Kurzum: an Anlässen für Widerstreit besteht ja kein Mangel. In meinem Buch beschreibe ich anhand historischer und aktueller Beispiele, wohin jede Form von Konformismus und Gleichförmigkeit führen können. Sie sind Gift für die Demokratie.

Sie plädieren nicht nur für die unbedingte Verteidigung freier Meinungsäußerung, sondern auch für die Pflicht des Widerstreits, gewissermaßen als Grundelement der Demokratie… 

Unsere Geschichte kennt totalitäre Epochen. Hier gab es keine eigene, widerspenstige Meinung – sondern nur Denken und Reden im Gleichschritt. Das Besondere an der Demokratie ist, dass sie nicht das „totale Wir“ anstrebt. Zweifel, Aufbegehren, Widerstand sind keine Untugenden in einer freien Gesellschaft, sondern deren Grundlage. Demokratie bedeutet immer Pluralität. Demokratie ist Differenz und Dissidenz. Hannah Arendts Diktum, dass es „kein Recht zu gehorchen“ gibt, findet sich auf den ersten Seiten meines Buches. Es hat bis heute Gültigkeit.

Eine gekürzte Abschrift des Interviews, geführt von Natalie van Haart für das Darmstädter Echo.


Helmut Ortner, WIDERSTREIT – Über Macht, Wahn und Widerstand, 220 Seiten, 20 Euro im Nomen Verlag Frankfurt

WIDERSTREIT – Über Macht, Wahn und Widerstand