In Kolumbien herrscht in diesen Tagen, fern der Aufmerksamkeit großer deutschsprachiger Medien, Gewalt und schiere Verzweiflung auf den Straßen der Städte des Landes. Ausgelöst durch Reformpläne der Regierung.

Es war abzusehen, dass die geplanten Reformen der kolumbianischen Regierung sofort Proteste auslösen würden. Sie beinhalteten nicht nur eine Steuerreform, sondern auch eine Gesundheits- und Rentenreform. Die Steuerreform würde zu Lasten der dünn gesäten Mittelschicht und der Armen gehen, während Großkonzerne, Banken und die Oberschicht des Landes verschont bleiben würden.

Die Rentenreform sieht vor, die noch wenigen öffentlichen Krankenhäuser zu privatisieren. Dadurch werden die Menschen gezwungen sich privat zu versichern, was kaum jemand kann, weil diese Versicherungen zu teuer sind. Im Endeffekt würde das heißen, dass nur Menschen mit viel Geld Zugang zu einer ausreichenden medizinischen Versorgung hätten. Allerdings sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der IWF die Reformen zur Bedingung gemacht hatten, um die Kredite zu genehmigen, die die kolumbianische Regierung beantragt hatte, um die Kosten der Pandemie einigermaßen abzufedern.

Als die Pläne bekannt wurden, löste das landesweit Proteste aus, die Bevölkerung lebte schon ohnehin durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie am Limit. Dazu muss man wissen, dass der durchschnittliche Mindestlohn in Kolumbien bei umgerechnet 230€ liegt und 47% der arbeitenden Bevölkerung sich als Tagelöhner verdingen. Zum 28.April wurde daher zum Generalstreik aufgerufen, an dem sich auch die Mehrheit der Bevölkerung friedlich beteiligte. Präsident Iván Duque bot einige Änderungen der Reformen an, diese wurden jedoch als Kosmetik angesehen und abgelehnt.

Am 2. Mai kündigte Präsident Duque an, dass auf Grund angeblicher gewaltsamer Übergriffe seitens der Demonstrant_innen, das Militär der Polizei bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in den Städten Hilfe leisten würde. Auch unter Einsatz scharfer Munition und anderer Kriegswaffen.

Den Einsatz von Kriegswaffen hatte der ehemalige Präsident Kolumbiens Álvaro Uribe ins Spiel gebracht. Er gilt als der eigentliche Machthaber im Land, während Duque lediglich als eine Marionette angesehen wird. Uribe gilt als korrupt und ihm wird vorgeworfen, Verbindungen zur Drogenmafia und zu den Paramilitärs zu haben, die über Jahrzehnte eine der am Bürgerkrieg teilnehmende Partei war.

Lange vor Corona war die Bevölkerung traumatisiert. Ein 40 Jahre andauernder Bürgerkrieg und die Gewalt, die von den Drogenkartellen ausgeübt wurde, hatten schon sehr tiefe Wunden geschlagen. Aus diesem Grund war die Androhung von Gewalt gegen die zumeist friedlichen Demonstranten umso schockierender

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Artikel geschrieben wird, sind 24 Tote, hunderte Verletzte und über 70 Vermisste zu verzeichnen. Die Verzweiflung innerhalb der Bevölkerung ist groß, weil sie so gut wie keine Anlaufstelle hat, die gegen diese Verhältnisse vorgehen könnte. Sowohl die Gerichtsbarkeit als auch die Polizei und große Teile der militärischen Führung gelten als korrupt.

Die Rufe innerhalb der Bevölkerung Kolumbiens nach Einflussnahme von außen, beispielsweise seitens der UNO, USA und der EU, werden immer lauter, weil die Gefahr eines Abgleitens in eine neue Spirale der Gewalt sehr groß ist.

Der vorliegende Beitrag erhebt ausdrücklich nicht den Anspruch, sich aller Probleme sozialer, wirtschaftlicher und politischer Natur anzunehmen. Er soll vielmehr einen Überblick über die aktuelle Lage in einem Land wiedergeben, welches zu unrecht bisher meistens mit den Drogenkartellen, Entführungen und Gewalt assoziiert wird.

Kolumbien ist meines Erachtens, wie die meisten lateinamerikanischen Länder, gefesselt an der aktuellen geopolitischen Lage und insbesondere an den Machtstrukturen, die schon die alten Kolonialmächte Spanien und Portugal hinterließen. Bevor diese Fesseln nicht fallen, ist zu befürchten, dass sich in Kolumbien und im übrigen Lateinamerika nichts ändern wird.

Dieser Beitrag wurde bei Unsere Zeitung am 11.05.2021 erstveröffentlicht.