Gleich einem Hurrikan fegt die Krise über den Planeten. Tag für Tag reiht sich ein neues Land in diese soziale Welle ein und die Straßen der Städte verwandeln sich in wahre menschliche Flüsse. Massen, die vorher nicht dort anzutreffen waren, stellen jetzt ihre Forderungen auf. Was wollen sie? Gut, das ist ziemlich offensichtlich, insbesondere in jenen Staaten, die als „Schwellenländer“ gelten, so wie das unsere und andere in Lateinamerika: Die Erwartungen eines besseren Lebens, die die Leute hoffen und hart arbeiten lassen, wurden immer wieder aufs Neue enttäuscht. Diese schwerwiegende Desillusion hat eine unaufhaltsame Flutwelle sozialer Wut ausgelöst.

Die Worführer eher orthodoxer Ansicht sehen die Situation als eine weitere Krise, als eine der vielen, denen sich der Kapitalismus zu stellen hat, durch die Pandemie zusätzlich verschärft. Aber sie glauben, dass, sobald sich das gesundheitliche Problem gelöst hat, die Dinge wieder ihren gewohnten Gang gehen – mit ein wenig staatlicher Hilfe kann die Wirtschaft wieder angekurbelt werden und alle sind zufrieden. Diese Fürsprecher des Systems sind in der Tat davon überzeugt, dass die monströse soziale Zerbrechlichkeit, die durch die aktuelle Situation zum wiederholten Male offengelegt wurde und die gesamte Bevölkerung in hohem Maß betrifft, schnell vergessen sein wird und dass die Menschen, die ihre Unzufriedenheit auf tausend verschiedene Arten herausschreien, gelassen zur idealen Logik zurückfinden, zu arbeiten, um zu konsumieren und zu konsumieren, um zu arbeiten. Keiner von ihnen ist in der Position, das System in Frage zu stellen, da sie als seine Strohmänner fungieren. Stattdessen kündigen sie einige „Reformen“ an, die nicht über Slogans hinausgehen, ohne irgendeinen konkreten Plan zur Umsetzung, gemäß dem Zitat aus dem Roman „Der Leopard“ von Giuseppe die Lampedusa: „Alles soll sich verändern, damit alles so bleibt, wie es ist. Das primäre Ziel der Eliten ist es, die Führungsstärke wiederzuerlangen und deswegen hielten sie es für notwendig, ihre Reden neu zu formulieren und ihren Vorrat schöner Lügen an die Gegenwart anzupassen, um die Bevölkerung erneut zu verführen. Wird es ihnen gelingen?

Auch den fortschrittlichen Sektoren der Opposition ist es nicht allzu gut ergangen. Wie wir wissen, gehen ihre Vorschläge stets in die Richtung, die Führungsrolle des Staates in sozialen Forderungen – eine Funktion, von dem dieser durch den Neoliberalismus vollkommen ausgeschlossen wurde – wiederherzustellen. Dabei haben sie jedoch nicht berücksichtigt, dass in einer Epoche der Globalisierung wie der aktuellen die notwendigen Gelder nicht mehr in den jeweiligen Staaten vorhanden sind, sondern in einem internationalen, spekulativen Kreislauf gebunden sind. Wenn ein Staat finanzielle Mittel zur Lösung seiner innenpolitischen Probleme benötigt, ist er gezwungen, sich zu verschulden und „Anleihen“ auszustellen, die vom „Anleihegläubigern“ erworben werden. Die Zinsen, die für diese Darlehen gezahlt werden, hängen vom Risikorating des Landes ab, das die Anleihen ausgibt, ein Faktor, der auf der Grundlage verschiedener Indikatoren gewichtet wird, die seine interne Stabilität messen. Die lateinamerikanischen Nationen sind in der schlechtesten Lage, um Zugang zu solchen Krediten zu erhalten, da ihre Volkswirtschaften prekär sind und grundlegend vom Preis ihrer natürlichen Ressourcen (Rohstoffe) auf dem internationalen Markt abhängen. Diese globale Wirtschaftsdynamik hat die Autonomie der Nationalstaaten drastisch reduziert, weil sich die Entscheidungsgewalt in eine Art Parastaat um internationales Finanzkapital verlagert hat. Die Beispiele, die die Manifestation dieses für unsere Zeit so typischen Phänomens belegen, nehmen tagtäglich zu.

Alle Indikatoren deuten also darauf hin, dass wir uns in einer globalen Systemkrise befinden, welcher gegenüber keine der in der Vergangenheit verwendeten Lösungsansätze sinnvoll erscheinen. Ist die Zeit dafür gekommen, neue Wege zu beschreiten?

Was genau bedeutet eine globale Systemkrise?

Einfach gesagt bedeutet dies, dass die Lösungen und Maßnahmen, die wir bisher zur Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens gefunden haben, nicht mehr funktionieren. Die Globalisierung hat einen einheitlichen Lebensstil auf dem gesamten Planeten geschaffen: Kapitalismus mit einigen „sozialen“ Varianten, vorrangig in Europa, in Form liberaler repräsentativer Demokratie. Das wirtschaftliche System war seit seinen Anfängen vor drei Jahrhunderten umstritten – wegen seines Unvermögens, einen akzeptablen Standard sozialer Gerechtigkeit zu schaffen. Aber niemals wurde es ersetzt. Die Strömungen des realen Sozialismus sind nicht bis zu dem Punkt gelangt, alternative Formen der Produktion vorzuschlagen, außer dass die gesamte Verwaltung des Produktionsapparates in die Hände des Staates gelegt werden soll. Eine Art Staatskapitalismus, in der Art des heutigen China.

Heutzutage haben sich die sozialen Gegensätze verschärft, was das Versagen dieses Systems als einzige Richtlinie für gemeinschaftliches Leben offenbart hat. Der wirtschaftliche Niedergang und der Vertrauensverlust der Menschen in ihre Vertreter haben die Gesellschaften in eine Situation der Unregierbarkeit gestürzt, wie es sie seit vielen Jahren nicht mehr gegeben hat. Zu allen jenen sozialen Erscheinungsformen der Krise gesellt sich jetzt ein neues Phänomen: Die irreversible Zerstörung der Umwelt, die im Wesentlichen durch unsere kapitalistischen Formen der Produktion und des Konsums vorangetrieben wird. Die aktuellen Regierungen versuchen, die umfassende wissenschaftliche Beweislage über die Situation der Umwelt zu leugnen und planen, der sozialen Unzufriedenheit durch oberflächliche Maßnahmen entgegenzuwirken, mit dem einzigen Ziel, den Status Quo aufrechtzuerhalten. Im Angesicht der Schwere und Tragweite der Krise aber ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass diese Versuche Erfolg haben werden.

Die Unfähigkeit, neue Antworten zu entwickeln

Im Allgemeinen wurden die Formen der Konditionierung wenig erforscht, welche den Individuen und sozialen Gruppen ein System auferlegt hat, dem sie angehören. Bis zu dem Punkt, dass man nicht weiß, ob diese Konditionierungen lediglich kultureller Natur sind oder sogar bis zur physiologischen Ebene reichen, in Gestalt einer Blockade bestimmter Bereiche im Gehirn, die stets außer Gebrauch bleiben, da sie für vorherrschende Einstellungen und Verhaltenskodexe nicht benötigt werden. Vielleicht kann dies eine Erklärung für den Synkretismus sein, der mit dem Verfall und der Dekadenz einhergeht (Vermischung von Antworten in verschiedenen Bereichen, aber jede dieser „Antworten“ bleibt im gleichen System, genauso wie es mit den „Reformen“ versucht wird, die zur Bewältigung der Krise vorgeschlagen werden.

Sind wir im Niedergang?). Dieses Problem spitzt sich zu, wenn es sich um ein so geschlossenes System wie das aktuelle handelt, welches nur einen Weg kennt und jede Möglichkeit ausschließt, sich zu öffnen, um Alternativen zu übernehmen, die in ähnlichen Systemen in Gang gesetzt wurden.

Wäre diese Konditionierung wirklich nur kulturell, wäre es sehr wahrscheinlich, dass der Prozess der Suche nach neuen, soziokulturellen Gestaltungsformen realisierbar wäre, unter der Voraussetzung, dass eine gewisse innere Freiheit existiert, um die ungenutzten kognitiven Bereiche zu aktivieren und dabei gleichzeitig die vielfältigen Möglichkeiten zu nutzen, die uns künstliche Intelligenz eröffnet, um neue Muster zu erschaffen.
Wenn diese Konditionierung aber tiefgehender ist, wird das Problem komplizierter, weil es notwendig wäre, irgendeine Art Verfahren zu entwickeln, das in der Lage ist, die kollektive Blockade einer Spezies zu lösen. Doch die Kenntnisse der menschlichen Psyche sind heutzutage nur schwach ausgeprägt, wodurch ein solches Vorhaben nicht wirklich machbar erscheint.

Die Frage

Was der Neue Humanismus seit seiner Entstehung als politische und soziale Referenz vorschlägt, ist die Möglichkeit, in einer Gesellschaft zu leben, in der Zusammenleben auf Basis von Gegenseitigkeit und Kooperation stattfindet und nicht von Konkurrenz und Individualismus geprägt ist. Eine Gesellschaft, in der die Macht in den Händen der Menschen liegt und nicht beim Staat oder Großkapital. Eine föderierte und dezentralisierte Gesellschaft, in welcher die Autonomie der menschlichen Gemeinschaften an erster Stelle steht – keine zentralisierte Kontrolle, die von nachträglich eingeführten Verwaltungsstrukturen ausgeübt wird. Eine Gesellschaft voller Vielfalt, die koordiniert und nicht unterworfen werden muss. Eine Gesellschaft ohne Gewalt und Diskriminierung und keine, in der soziale Segmentierung und Spaltung vorherrscht. Eine Gesellschaft, die Formen geteilten Eigentums erprobt, unter all denjenigen, die zur sozialen Bereicherung beitragen und keine, die den Besitz und die krankhafte Anhäufung von Gütern fördert.

Was müsste in den Köpfen der Menschen (in unseren Köpfen) geschehen, dass wir aufhören, an den gesellschaftlichen Richtlinien festzuhalten, die uns dieses System aufgezwungen und dabei all seine Zwangsmittel verwendet hat? Und dass wir stattdessen beginnen, an Alternativen zu glauben, wie sie der Humanismus (oder andere Bewegungen, die sich anfangen könnten zu formen) vorschlägt?

Gemäß der humanistischen Auffassung findet der wahrhaftige Wandel im Kopf statt, weswegen wir auch vom Psychosozialen und nicht nur vom Sozialen sprechen. Der Marxismus zum Beispiel stellte sich den Prozess aus seiner materialistischen Perspektive genau umgekehrt vor. Für dessen Anhänger galt, dass das menschliche Bewusstsein nicht mehr als ein Spiegelbild ist: Es reichte aus, die sozioökonomischen Strukturen zu reformieren, um den „Überbau“ (die kulturelle Dimension) zu verändern. Also war es zwingend notwendig, die Macht zu ergreifen, von wo aus diese revolutionären Wandel des sozialen Konstrukts vollzogen werden konnten, weil sich daraus der Rest erübrigen würde. So haben sie es umgesetzt und dementsprechend ist es ihnen ergangen.

Es gibt zwei Faktoren, die diesen Wandel der Überzeugungen tiefgreifend beeinflussen können:

  1. Die tiefe Überzeugung vom endgültigen Scheitern des gegenwärtigen Systems und die Beweglichkeit der Vorstellung, die aus dem daraus entstehenden Fehlen an Antworten, wieder aktiviert werden könnte.
  2. Die Wahrnehmung des unmittelbaren Risikos einer globalen Umweltkatastrophe, mit einer Fortsetzung von unumkehrbarer Zerstörung, Schmerz und Leiden der gesamten Menschheit für tausende von Jahren oder vielleicht für immer. Wir wissen: Sobald das Überleben unserer Spezies bedroht ist, steigern sich die Chancen dafür, sich radikalem Wandel zu öffnen.

Auf der Suche nach Zeichen für den Wandel

Es besteht kein Zweifel, dass die Möglichkeiten einer systemischen Transformation über nie da gewesene Handlungsformen in den neuen Generationen gesucht werden müssen, weil uns bewusst sind, dass die bereits vom System installierten Landschaften in den Köpfen älterer Generationen eher konservative und jeglichem Wandel widerstrebende Szenarien sind. Was müsste jedoch gefunden werden? Zunächst wäre es notwendig, festzustellen, ob die zwei genannten Wahrnehmungen, des Systemversagens und der drohenden Gefahr, bereits im psychosozialen Bereich vorliegen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die handlungstreibenden Bilder noch nicht genug ausgestaltet sind, angesichts der Schwierigkeiten vorherrschender Blockaden, auf die wir bereits zu sprechen kamen. Was die Bevölkerung heutzutage mobilisiert, ist das Erlebnis von Frustration und deswegen drückt sie sich in Form kathartischer Entladung ohne Richtung aus.

Es wird die Aufgabe neuer Anführerinnen und Anführer sein, den neuen Generationen zu helfen, ihre Konditionierung zu durchbrechen und damit voranzuschreiten, jene Landschaften, denen die Zukunft innewohnt, zu errichten, unter der Voraussetzung, dass diese Führung den sichtbaren Ausdruck einer neuen Sensibilität repräsentiert, die derzeit entsteht, und nicht von alten Eliten errichtet wird, wie es bis heute in der Politik der Fall ist. Wenn dieser Qualitätssprung stattfindet, wird alles anders sein: Von Handlungsformen, über Beziehungsmuster bis zu Produktionsweisen. Dann wird die Zukunft angekommen sein, sogar bevor sie tatsächlich aufgebaut wird.

Von Francisco Ruiz-Tagle und José Gabriel Feres – Humanistisches Observatorium für Psychosoziale Wirklichkeit. Die Übersetzung aus dem Spanischen von Chiara Pohl vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!