“Wir sind total am Boden zerstört – überall herrscht so ein großer Schmerz. Wir fühlen uns fast wie in einem falschen Film“, sagt die Friedensaktivistin Shirine Jurdi am 4. August, dem Tag nach der Explosion am Hafen von Beirut. Der Knall im Ohr hat ihrer 15 Jahre alte Nichte so traumatisiert, dass sie vor Schreck auf die Straße rannte und nicht mehr sprechen konnte.

Fast 200 Tote, 5.000 Verletzte, eine unbekannte Zahl Vermisster, 300.000 heimat- und obdachlos und Beiruts Institutionen, Restaurants und Krankenhäuser sind teilweise oder ganz zerstört. Das Ausmaß der Zerstörung wird auf 5 bis 15 Milliarden Dollar geschätzt – eine Katastrophe für ein bereits zusammenbrechendes Staatsgebilde. Das Gesundheitsministerium hat freie medizinische Versorgung und Krankenhausaufenthalt angeboten.

Der Ministerrat, der Sicherheitssektor und Justizangehörige waren die letzten sechs Jahre auf dem Laufenden über die am Hafen gelagerten Chemikalien. Sie haben aber keine Vorsorgemaßnahmen ergriffen, um einen katastrophalen Unfall in der dicht besiedelten Hauptstadt mit über einer Million Einwohnern zu verhindern. Die 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat enthielten 43.7 Prozent Nitrogen. Das verstößt eindeutig und klar gegen internationales Recht, das nur 11 Prozent erlaubt. und wenn die Regierung ein vordringliches Memo über die Gefahren des Produkts hatte, warum hat niemand etwas unternommen? Wurde die Explosion also durch Missmanagement oder durch eine Attacke von außen ausgelöst?

“Die Katastrophenschützer waren die ersten Opfer. Warum haben die Autoritäten nicht Anwohner evakuiert, den Verkehr in beiden Richtungen an der Autobahn in der Nähe des Hafens gestoppt?” Jurdi sagt, dass man so Leben hätte retten können – wie das des kleinen 5 Jahre alten Alexanders, der einfach zu Hause spielte, das von Sahar Habib, die beim Katastrophenschutz arbeitete, oder das der Menschen, die in ihren Autos, Häusern oder an ihren Arbeitsplätzen starben. Angriff von außen oder interne Nachlässigkeit – Jurdi verlangt Aufklärung und Rechenschaft.

Man wird hellhörig, wenn die Menschenrechtsaktivistin Muna Luqman am 6. August den UNO-Sicherheitsrat auffordert, dringend Maßnahmen wegen des Safer oil Tanker in Yemen zu ergreifen. Sie warnte vor einem drohenden Desaster im Roten Meer, das sogar weitaus schlimmer sein könnte, als das was im Hafen von Beirut passiert ist und fast viermal so schlimm wie die Katastrophe des Öltankers von Exxon Valdez Alaska.

“Wir müssen die „Verantwortung zum Schutz“ (Responsibility to Protect / R2P) aktivieren, eine Norm, die von der UNO 2005 verabschiedet wurde und den Auftrag formuliert, dass die Souveränität eines Staates kein Privileg ist, sondern Verantwortung für seine Bürger zur Pflicht macht.” Jurdi erklärt, dass, wenn ein Staat nicht willens oder in der Lage ist, diese Verantwortung wahrzunehmen, die Internationale Gemeinschaft aufgerufen ist, alle zur Verfügung stehenden diplomatischen, humanitären oder anderen Art Mittel zu nutzen, um Menschen zu schützen. „Wenn wir auf die Details im Libanon schauen, sehen wir klar, dass es sich hier um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt und somit R2P greifen müsste.

Jurdi, die ehrenamtlich für die Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (Women’s International League for Peace and Freedom, WILPF) im Libanon und im internationalen Vorstand als Regionale Vertreterin für Nahost und Nordafrika arbeitet, ist Teamleiterin für die Kampagne Stop Killer Robots im Libanon, Mitarbeiterin im Sekretariat MENAPPAC der Permanenten Friedensbewegung (Permanent Peace Movement, PPM), Regionalvertreterin des Global Partnership for the Prevention of Armed Conflict GPPAC. Jurdi fordert die internationalen Gemeinschaft dringend auf als Krisenmanagerin aufzutreten, um sich um Verletzte zu kümmern, zerstörte Krankenhäuser wieder aufzubauen, bei der Suche von Vermissten zu helfen, die alles verloren haben, sie mit Unterbringung, Essen und Grundbedürfnissen versorgen und vor allem eine transparente, unabhängige und umfassende Untersuchung einleiten.

Zusammenbruch des modernen libanesischen Staatsgebildes

Shirine Jurdi (Bild von Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF)

Während Beiruter ihren Mitbürger*innen in Not helfen, Schutt wegräumen, Essen und Unterkunft zur Verfügung stellen und die Namen von Vermissten sammeln, während Präsident Michel Aoun schon die ersten Untersuchungsergebnisse verspricht, ist der Ministerrat zurückgetreten.

Libanons zusammenbrechender Staat vor der Explosionskatastrophe

“Jeden Tag ist etwas Anderes Priorität im Libanon”, sagt Jurdi: die Arbeitslosenrate von 40% am Vorabend der Explosion ist inzwischen auf 65% hochgeschnellt.

Als Absolvent der Lebanese American University (LAU), der Tokyo University of Foreign Studies (TUFS) und als Forschungsstipendiat der SOAS konzentriert sich Jurdi in ihrer Friedensarbeit auf Frieden, sozialen Zusammenhalt und Gleichberechtigung. Sie setzt auf Ganzheitlichkeit zwischen Theorie und Praxis, zwischen akademischer Analyse und Graswurzel-Aktivismus, auf Partnerschaften mit zahlreichen nationalen und internationalen NROs, um die Ursachen von Konflikten anzugehen. Gleichberechtigung der Geschlechter und Zusammenarbeit sind für sie entscheidend auf dem Weg zum Frieden. Ihre Tätigkeit als Beraterin in einem Projekt des Ministerium für die Rückkehr Vertriebener, UNODC, und als Forscherin zum libanesischen Erbe an der LAU brachten Jurdi den „International Young Women’s Peace and Human Rights Award“ von Democracy Today Armenien ein, gewidmet ihrer “außergewöhnlichen Arbeit im Bereich Konfliktprävention und Schutz der Menschenrechte“.

Sie verurteilt den Zusammenbruch des Libanon als Fehlen einer staatlichen Ordnung, ohne Institutionen an der Basis auszubilden. Sie kritisiert den Teufelskreis von religiösen und politischen Körperschaften, die einen religiös-politischen Bekenntnisstaat ausgebildet hätten in einem religiös, kulturell und politisch sehr diversen Land. Es gibt keine einheitliche nationale Identität. So wird der Libanon von sechs muslimischen Gruppen (Shi’a, Sunni, Druze, Isma’ili, Alawite or Nusayri), und 12 Christlichen Sekten (Maronite Catholic, Greek Orthodox, Melkite Catholic, Armenian Orthodox, Syrian Catholic, Armenian Catholic, Syrian Orthodox, Roman Catholic, Chaldean, Assyrian, Copt, Protestant) regiert. Diese religiös –politische Allianz teilt unter sich parlamentarische Sitze, Regierung, öffentlichen Dienst und institutionelle Ämter proportional zu den religiösen Bevölkerungsanteilen auf. In Indien, Spanien, Schweiz oder Belgien scheint so ein ähnliches System relativ erfolgreich zu funktionieren.

Die “Oktoberrevolution” von 2019 – ausgelöst von neuen Steuern auf Gas, Tabak und von 6$ auf VoIP Dienste wie WhatsApp – brachten Hunderttausende auf die Straße mit dem Ruf nach Gerechtigkeit und der Forderung nach Machtverzicht korrupter Politiker. Fast 300 Tage lang stürzten die Proteste Libanon in eine schwere gesellschaftspolitische Krise.

Als Premierminister Saad Hariri zurücktrat, wurde er durch den Vizepräsidenten der American University of Beirut, Hassan Diab, ersetzt, der im August 2020 nach der Explosion in Beirut zurückgetreten ist.

“Das ungerechte politisch-konfessionelle System führt Politiker dazu, sich die Ämter immer wieder untereinander aufzuteilen. Dabei berauben sie eine breite Mehrheit der Bevölkerung ihrer Rechte”. Während die Demokratie im Libanon eigentlich Raum für freie Äußerung von Missachtung zulässt, sagt Jurdi “vertritt jede Gruppierung nur die Interessen ihrer eigenen politischen und religiösen Führer. Das Überleben jeder Gruppe beruht auf einer Sozialstruktur, die aufgrund eines korrupten Systems nur von ihre eigene Klientel bedient.“

Zu Politikern mutierte Warlords haben das Sagen in ihrer jeweiligen Gruppe und der Staat dient ihnen als eine Art Tarnorganisation. In den letzten 30 Jahren haben die internationale Gemeinschaft und die Weltbank die Wiederaufbaubemühungen des Libanon nach dem Bürgerkrieg finanziert, ohne dass während dem Übergang Rechenschaft abgelegt werden musste. James Rickards vom beratenden Vorstand der CEFP erklärt, dass sich der Libanon “mit nicht geleistete Rückzahlungen auf den Eurobond in Höhe von 1,2 Milliarden Dollar im Verzug und mit allen ausstehenden Eurobond-Verpflichtungen säumig war, einschließlich zusätzlicher Zahlungen in Höhe von 2,7 Milliarden Dollar, die im April und Juni fällig wurden“.

“Wir verloren Vertrauen in unsere Banken, weil sie ihren Mangel an flüssigem Geld nicht mit der Öffentlichkeit teilten.” Jurdi betont, dass die Banken alle Einlagen an die Zentralbank verliehen, die sie der libanesischen Regierung weiterreichten, die dann das Geld natürlich nicht zurückzahlen kann. Der Wechselkurs von 1.500 Lira zu 1 Dollar stieg auf 3.800 Lira bei den Banken und 10.000 Lira bei Wechselstellen oder am Schwarzmarkt.

Die Saat der Oktoberrevolution

“Wie können alte Kriegstreiber und Milizenanführer jetzt Führungsrollen beanspruchen? Wer für Krieg steht, kann keinen Frieden schaffen”, argumentiert Jurdi. Und sie erklärt, wie das nun zusammenbrechende, rein auf Korruption und Nepotismus aufgebaute Wirtschaftssystem Jobs verteilte, definierte wer vom Bildungssystem, vom Gesundheitswesen und Krankenhausaufenthalt profitieren konnte, wer Zugang zu Serviceleistungen und Hygienemaßnahmen hatte.

Das ganze Jahr 2019 über, vereinte das Motto für die Koexistenz, alayesh moshtarak Gemeinden über sozioökonomische und religiöse Trennlinien hinaus, sagt Jurdi – während Politiker das Land geteilt wissen wollen, um es besser kontrollieren zu können. Libanons politische Entscheidungen – von Amerika, Iran und Saudi-Arabien unterstützt – kamen ganz offensichtlich immer einer „Sekte“ und nie dem ganzen Land zugute. Der leichte touristische Aufschwung Libanons wurde durch regelmäßige israelische Angriffe über die Südgrenze hinaus ausgebremst.

“The Scheinheiligkeit, mit der man das alles leugnet und nicht analysiert, hat zum Zusammenbruch allen Gemeinwesens um uns herum geführt. Nichts läuft mehr, außer der Hilfsbereitschaft der Menschen. Wir helfen einander bei nur zwei Stunden Stromversorgung am Tag, weil Benzin „verschwindet“. Der Energieminister verkauft uns für dumm. Jurdi ärgert sich darüber, dass, während die Libanesen hungern, die Banken kein Bargeld mehr ausgeben und politische Parteien nach wie vor nur ihre eigene Klientel versorgen.

Die Revolutionär*innen arbeiten am Aufbau eines zivilen, säkularen politischen Systems, das auf Menschenrechte, Gewaltenteilung setzt mit besonderer Beachtung der richterlichen Gewalt. Sie kämpfen für Transparenz und, dass sich diejenigen, die das Land seit Ende des Bürgerkriegs regierten, Rechenschaft ablegen müssen. Sie setzen sich ein für ein System mit echter und wirkungsvoller Beteiligung der Menschen.

Der Artikel von Jackie Abramian erschien unter dem TitelThe Collapse Of The Modern Fiefdom Of Lebanon“ auf Forbes, ist von Heidi Meinzolt für Pressenaz aus dem Englischen übersetzt worden.

Wir danken der Jackie Abramian für die Zustimmung zur Veröffentlichung des Beitrags auf Pressenza.