1. August – Nationalfeiertag in der Schweiz. Alexa hat wie jedes Jahr auf ihre Dachterrasse zum feiern eingeladen. Die aus Deutschland stammende Sängerin lebt seit einigen Jahren in der Schweiz und nutzt diesen Anlass auch dazu, ihren Geburtstag nachzufeiern. Dass sie dabei manchmal fast schweizerischer als ihre in der Schweiz geborenen Freunde ist, verwundert mittlerweile niemanden mehr, der sie länger kennt.

Immerhin hat sie ihr Gespräch zum Einbürgerungsverfahren bereits hinter sich gebracht und wird wohl bald ordentlich eingebürgert werden. Anders, als Kamal. Der junge Mann, der seine Heimat Tunesien wegen seiner Homosexualität, die dort seit 1913 unter Strafe steht, verlassen hat und fälschlicherweise als vorbestraft gilt. Aus Angst, selbst ins Gefängnis gehen zu müssen, hatte ihn ein Tourist, der ihn mit in sein Hotel genommen hatte, des Diebstahls bezichtigt, wessen Kamal auch verurteilt wurde. Nun ist er in der Schweiz gelandet, spricht mittlerweile sehr gut deutsch und hofft, hier auch bleiben zu können.

Doch gerade am Nationalfeiertag scheint das Damoklesschwert, das die ganze Zeit schon über ihm schwebt, zu fallen – der Ausschaffungsbescheid erreicht ihn und andere Geflüchtete raten ihm per SMS, nicht zu den Containern zu kommen, in denen sie alle untergebracht sind. Offenbar kein 1. August wie immer und damit auch keine Dachterrassenfeier nach Plan, wie es scheint ….

Ulrike Ulrich beginnt ihren Roman „Während wir feiern“ zunächst einmal ganz einfach und unspektakulär – Alexa, ihre Hauptfigur, die quasi Dreh- und Angelpunkt beziehungsweise Verbindungsperson für die anderen Romanfiguren ist, erwacht am Nationalfeiertag mit den Gedanken an ihr alltägliches Leben und die Vorbereitungen, die sie für ihre Feier am Abend noch zu erledigen hat. Sie hat einen Plan, den sie – so werden die Leser*innen im Verlauf sehen – hin und wieder spontan unterbricht, ohne großartig ob der noch zu bewältigenden Dinge in Panik zu verfallen. Sie lädt spontan den Überraschungsgast Brad  – Schauspieler aus den USA, der schon lange in Europa lebt – noch vor dem Fest zu sich ein, teils weil es da eigentlich noch etwas zwischen ihnen beiden zu klären gibt, teils, weil sie nicht sicher ist, ob sie ihn tatsächlich auf ihrer Feier sehen möchte, zu der zum ersten Mal auch ihr Lebenspartner, mit dem sie tatsächlich sehr glücklich ist, kommen wird. So wenig Alexa selbst weiß, weshalb sie diese spontane Einladung ausgesprochen hat, so schnell kommt Brads Zusage. Als er dann auch noch persönlich erscheint, wird für die Leserschaft klar, dass die Unsicherheit bezüglich ihrer beider „Verbindung“ nicht nur auf Alexas Seite liegt, doch direkt angesprochen wird das nicht.

Denn Ulrike Ulrich bedient sich einer cleveren Technik, die Unsicherheiten, die in unser aller Leben offensichtlich ständig auf uns lauern und mit denen wir nicht so recht umzugehen wissen, sichtbar zu machen: Neben der direkten Schilderung der Situation selbst, lässt uns die Autorin in die Gedankenwelt ihrer Figuren eintauchen. Ständig am Arbeiten, manchmal sprunghaft, wie das menschliche Gehirn nun einmal funktioniert, holt sie Vergangenes hervor, erklärt damit die Ausgangssituation und komplettiert diese mit den aktuellen Gedanken der jeweils im Fokus stehenden Person. Die Gegenüberstellung der Wahrnehmung einer Situation aus der Sicht von mindestens zwei Personen ist prototypisch für den Roman und gleichzeitig nie stereotyp gestaltet, was dazu führt, dass man nach anfänglich angenehm dahinplätschernder Lektüre in einen Sog hineingezogen wird.

So wie Brad und Alexa nicht wirklich über das sprechen, was sie in ihrer Verbindung beide schon länger beschäftigt, so sprechen auch Zoltan, Alexas bester Freund, und Kamal nicht wirklich miteinander. Mit dem kleinen Unterschied, dass Kamal keine Geheimnisse vor Zoltan zu haben scheint, ihn als letzten engen Vertrauten ansieht und eben auf dessen Hilfe baut, während Zoltan diese Hilfe aus Angst verweigert. Angst davor, sich einzugestehen, dass da etwas ist, was er nie für möglich gehalten hätte, aber vielleicht gerade im Einverständnis auch nicht mehr so drohend wäre, wie es ihm vorkommt. Bedauerlicherweise stößt er damit eine Tragödie an, die von außen betrachtet ganz leicht zu vermeiden gewesen wäre.

Kamal, dem in seinem Leben schon mehrfach und immer wieder Menschen zugesichert hatten, dass er auf ihre Hilfe vertrauen könne, muss die bittere Erfahrung machen, dass manche Versprechung später und in einem anderen Licht betrachtet, nicht mehr einzulösen ist. Die eigenen Befindlichkeiten derer, die so leicht gesagt hatten „Meine Tür steht Dir offen“, haben sich verändert. Keiner der auf Hilfe Angesprochenen vermag diese auch zu leisten. Dabei geht es für Kamal um viel mehr, als das eigene Gesicht zu wahren.

So wie Ulrike Ulrich die Beziehungen, Verbindlichkeiten und Vertrauensbasen zwischen einzelnen Personen wertfrei und nachvollziehbar zeigt, so entsteht durch die weiteren Verknüpfungen der Personen untereinander ein vielschichtiges, aber differenziertes Bild der modernen Gesellschaft. Die Vielstimmigkeit von Lebensentwürfen und Meinungen, die Rahmenbedingungen, denen ein Leben unterworfen sein kann, die daraus entstehenden Handlungen, all das macht die Würze für diesen Roman aus. Eine Momentaufnahme – ein Tag im Leben vieler unterschiedlicher Menschen, die alle versuchen, irgendwie klar zu kommen und im besten Fall glücklich zu sein. Die Hindernisse, die dabei auftauchen, sind oft selbst aufgestellt, aus Angst, andere zu verletzen. Doch schlussendlich wird auch klar, dass es nicht immer ohne Verletzungen gehen kann. Die Einsichten in die Gedankenwelt der Protagonisten zeigt, dass man sich nie wirklich hundert prozentig sicher sein kann, zu verstehen, was ein anderer Mensch denkt oder fühlt und, dass wenn dieser Mensch es nicht möchte, man nichts dagegen tun kann. Aber es gibt auch unausgesprochenes Einverständnis, wenn man bereit ist, sich zu öffnen, die eigenen Prioritäten zu erkennen und verführerischen, aber flüchtigen Verlockungen nicht unbedacht zu erliegen.

Gleichzeitig ist diese wertfreie Vielstimmigkeit aber auch das, was eine demokratische und gute Gemeinschaft ausmacht – natürlich gibt es hier auch Grenzen. Wie schwierig das Handeln in solch einer Gemeinschaft manchmal sein kann, das zeigt Ulrike Ulrich bravourös. Dieses Mal stimmt der U4-Text, den Lukas Bärfuss beigesteuert hat, zu hundert Prozent:

„Wer erfahren will, wie sich das Leben im 21. Jahrhundert in einem der Herzen des Kapitalismus anfühlt, von welchen Widersprüchen die Menschen zerrissen werden und wie die große Politik auf die private Liebe wirkt, der sollte diesen rasanten, bitteren und immer wieder komischen Roman lesen.“

Am Ende ergeben die einzelnen Teile des Textes tatsächlich wie die Spiegel eines Kaleidoskops ein aus unterschiedlichen Spiegelungen zusammenfallendes Bild – das mehr ist als die Summe seiner Einzelteile.

„Während wir feiern“ von Ulrike Ulrich ist 2020 als HC im Berlin Verlag erschienen. Mehr Informationen gibt es auf der Verlagsseite.

von Bri