In „Lateinamerika anders“, Heft 1/2020, der österreichischen Zeitschrift für Lateinamerika und die Karibik, hat Peter Gärtner[1] eine hervorragende Abhandlung über die Monroe-Doktrin und ihre variable Anwendung durch die USA geschrieben. (Dieser Artikel wurde am 16. April 2020 auch auf dem Portal www.amerika21.de veröffentlicht.

Er erwähnt darin u.a. auch die besondere Ausnahmestellung in der Welt, die die USA für sich beanspruchen: Das ideologische Fundament wird durch den American Exceptionalism gebildet, der den Kern der US-amerikanischen Identität ausmacht. Demnach fühlen sich ‚die Amerikaner‘ als auserwähltes Volk, dessen Werte und Institutionen einerseits allen anderen überlegen sind, andererseits gerade deswegen zum Wohle der gesamten Menschheit weltweit verbreitet werden sollten (Mission), was aber von den jeweiligen Machtressourcen (Power) abhängt.“ Er spricht auch vom „Sendungsbewußstein des American Exceptionalism„, von dem die Geopolitik der USA und ihr Streben nach der „Weltherrschaft (Primacy)“ bestimmt wird.

Eingedenk des Anfangssatzes seines Artikels, dass unter Obama die Monroe-Doktrin offiziell für tot erklärt wurde, möchte ich in Ergänzung dazu ein paar Gedanken hinzufügen – insbesondere angesichts der jetzt erklärten Unterstützung Obamas für den Präsidentschaftskandidaten Joe Biden.

Dass sich „die Amerikaner“ als auserwähltes Volk verstehen, findet seine Erklärung in dem Schlagwort „manifest destiny“, das besagt, dass die USA einen göttlichen Auftrag zur Expansion hätten. Diese Losung, die so viel wie offensichtliches (oder unabwendbares) Schicksal bedeutet, erläuterte der New Yorker Journalist John L. O’Sullivan 1845 in einem Zeitungsartikel mit folgenden Worten: „Die Erfüllung unserer offensichtlichen Bestimmung ist, uns auf dem gesamten Kontinent auszubreiten, der uns durch die Vorsehung für die Entwicklung des großen Experiments der Freiheit und Selbstregierung auferlegt wurde“ und begründet diesen Anspruch zugleich mit folgendem Vergleich:

„Es ist dasselbe Recht wie das eines Baumes auf nötige Luft und Boden für die völlige Entwicklung seiner Kapazitäten und für das Wachstum, das ihm als Schicksal bestimmt wurde.“

Nur den USA steht also dieses Naturrecht zu. Andere Länder und Völker mit eigenen Vorstellungen spielen offensichtlich keine Rolle. Es handelt sich also um ein religiös-politisch-ideologisch begründetes Sendungsbewusstsein, bei dem die eigenen, gottgegeben Werte zum Ziel und Ideal der gesamten Menschheit erklärt werden.

Diese Grundeinstellung findet auch darin ihren Ausdruck, dass führende USA-Politiker von den USA als der einzigen unentbehrlichen Nation der Welt sprechen.

So bezeichnete z.B. Madeleine Albright im Jahr 1998 die USA als „indispensable nation“. Ihr stand der allgemein so hoch gelobte und mit einem Glorienschein versehene Barrack Obama nicht nach.

Am 23.05.2012 bekräftigte er vor den Absolventen der Luftwaffenakademie in Colorado Springs, dass die USA außergewöhnlich seien und immer die einzige unentbehrliche Nation im Weltgeschehen sein werden. Keine andere Nation könne diese Rolle übernehmen, und das schließe die Gestaltung der globalen Institutionen mit ein.

Und das war keineswegs ein einmaliger Ausrutscher. Am 22.10.2012 formulierte es Obama ganz ähnlich:

«Amerika bleibt die einzige unentbehrliche Nation. Die Welt braucht ein starkes Amerika.»

Am 28. Mai 2014 wiederholte er diese Aussage vor den Kadetten der West Point Militärakademie im Bundesstaat New York.

Am 26.04.2016 bilanzierte Barack Obama in einer Grundsatzrede an dieser legendären Militärakademie West Point erneut die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika als „unentbehrliche Nation“.

Er hatte auch keine Skrupel, während einer Auslandsreise am 21.11.2016 in einer Rede in Lima in Peru seinen Nachfolger Donald Trump aufzufordern, zu dieser Verantwortung der USA als unentbehrlicher Nation zu stehen. Hatte Obama Angst, Trumps Losung „America first“ würde hinter dem Anspruch einer unentbehrlichen Nation zurückbleiben? Diese Aufforderung wirft ein ganz besonderes Licht auf Obamas politische Haltung.

Und selbst noch am 01.09.2018 beteuerte er in seiner Trauerrede zur Beisetzung des ultrarechten Senators McCain, mit George W. Bush bezüglich der USA-Rolle als der einzigen unentbehrlichen Nation übereingestimmt zu haben.

Hillary Clinton sagte zu diesem Thema am 31.08.2016 im Wahlkampf gegen Trump:

„Die Vereinigten Staaten sind eine einzigartige Nation. Ich glaube daran, dass wir immer noch Lincolns letzte und beste Hoffnung für die Erde sind. Nicht nur haben wir das größte und beste Militär, nicht nur ist unsere Wirtschaft größer als jede andere auf der Welt; es ist die Stärke unserer Werte und des amerikanischen Volkes, eines jeden, der härter arbeitet und größer träumt und niemals aufhört zu versuchen, dieses Land und die ganze Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und ein Teil dessen, warum wir eine einzigartige Nation sind, ist, dass wir auch eine unentbehrliche Nation sind. Tatsächlich sind wir die unentbehrliche Nation.

Diese Grundhaltung findet auch in eindeutigen Aussagen von weiteren führenden USA-Politkern ihren Ausdruck: Madeleine Albright, Michelle Bachmann (republikanische Kongressabgeordnete) am 25.01. 2011, Joe Biden am 2.04.2013 und am 18.01.2017; Chris Christies (republikanischer Gouverneur von New Jersey), Jeb Bush (republikanischer Gouverneur von Florida), Bobby Jindal am 3.12.14 (republikanischer Gouverneur von Louisiana), Marco Rubio am 26.4.2012 (republikanischer Senator für Florida). Sie alle scheuten nicht davor zurück, von den USA als der einzigen unentbehrlichen Nation in der Welt zu sprechen.

Obamas Sorge, Trump könnte in diesem Punkt schwächeln, erwies sich als unbegründet. Am 24.01.2020 auf dem „Marsch für das Leben“ (gegen Schwangerschaftsunterbrechung) stellte Trump klar: „Die extreme Linke arbeitet aktiv darauf hin, unsere gottgegeben Rechte auszulöschen.“ (jW 1.2.20) Es bleibt also weiterhin bei Selbstwahrnehmung der USA als „God’s own country“.

Alle anderen Völker sind demnach entbehrlich und haben keine Daseinsberechtigung, wenn sie sich nicht den USA-Werten unterwerfen. Das ist die Geisteshaltung, die hinter der aggressiven US-Großmachtpolitik steht mit ihrer auch „nichtkriegerischen“ Anwendung von Wirtschaftssanktionen gegen Völker und Nationen, die sich nicht von einer egoistischen Denkweise und Weltauffassung leiten lassen, sondern für Solidarität und gemeinsames Handeln zum Wohle aller und nicht nur einer Nation eintreten.

Erheben sich diese US-amerikanischen Politiker mit ihrem Dogma von der einzigen unentbehrlichen Nation nicht über alle anderen Völker?

Stellt sich da nicht die Frage, welcher Unterschied dann noch zur Anmaßung besteht, ein Herrenvolk, eine Herrenrasse zu sein, wie wir das aus der unheilvollen deutschen Geschichte kennen?

Bernie Sanders verzichtete auf seine Kandidatur und unterstützt nun Obamas ehemaligen Vizepräsidenten Joe Biden. Gleiches macht Obama. Joe Biden und Barack Obama vereint dieselbe Auffassung von den USA als der einzigen unentbehrlichen Nation in der Welt. Was kann die Welt, was können die anderen Nationen vom nächsten US-Präsidenten erwarten? Donald Trump würde wohl seine poltrige Politik fortsetzen, Joe Biden wohl zu Obamas Taktik des Wandels durch Annäherung zurückkehren, die er dem Duo Brandt/Bahr abgeschaut hatte, und die der ehemalige DDR-Außenminister Otto Winzer als „Aggression auf Filzlatschen“ bezeichnet hatte. Das Ergebnis ist bekannt. Es bleibt die einzige unentbehrliche Nation übrig. Oder auch nicht, wie es im letzten Satz des Artikels von Peter Gärtner[1] anklingt. Da helfen wohl auch nicht die verzweifelten und verlogenen Worte des damaligen Außenministers Tillerson weiter:

„Lateinamerika braucht keine neuen imperialen Mächte (China, Russland der Verf.), die nur ihre eigenen Interessen im Blick haben. Die Vereinigten Staaten sind anders: Wir suchen keine kurzfristigen Vereinbarungen mit asymmetrischen Gewinnen, wir suchen Partner.“

Wie die USA ihre Partner behandeln, konnte man erst kürzlich wieder sehen, als für die BRD und Frankreich bestimmte medizinische Güter zur Bekämpfung der Corona-Epidemie kurzerhand unter ungeklärten Umständen (Preisüberbietung, Bestechung) in die USA umgeleitet wurden, damit die einzige unentbehrliche Nation erhalten bleibt. Das gilt auch für einen Atomkrieg, der nach USA-Kalkül auf Europa beschränkt bleiben würde.

Beitrag von Gerhard Mertschenk


[1] Peter Gärtner ist Senior Researcher am Global and European Studies Institute (GESI) der Universität Leipzig, Vorsitzender von Quetzal – Leipziger Lateinamerika Verein e.V. und Mitglied der Redaktion des Online-Magazins Quetzal