Trotz enormer Popularität wurde die East Side Gallery vernachlässigt, dem Verfall überlassen, zerstückelt, Teile verhökert und der Rest zum toten Museumsstück erklärt. Das Kunstwerk von Unten, das Symbol für die gewaltfreie Überwindung von Mauern zwischen und in den Köpfen der Menschen lebt trotzdem weiter, weil es mit uns und den Notwendigkeiten von Heute resoniert.

Der deutsche Künstler Dave Monty ließ sich im November 1989 von einer illegalen Malaktion an einem Mauerstück am Potsdamer Platz inspirieren und startete das Kunstprojekt die East Side Gallery. Er suchte sich eine Assistentin. Die in Berlin lebende Schottin Christine MacLean war Feuer und Flamme für das Projekt und bekam die Stelle als wahrscheinlich einzige Bewerberin für einen Job ohne Vertrag und Geld.

Das Feuer brennt heute, 30 Jahre später, immer noch in ihr für diese einmalige Open-Air Gallery. Nachdem sich Monty bereits nach wenigen Monaten vom Projekt zurückgezogen hatte, engagiert und kämpft MacLean bis heute dafür, was ihr zurecht den inoffiziellen Titel „Mutter der East Side Gallery“ eingetragen hat.

Mit der Genehmigung der damals noch zuständigen Grenzschutzbeamten riefen Monty und MacLean im Osten- und Westen Deutschlands Künstler*innen auf, das 1,3 km lange Teilstück zu bemalen.

Dabei gab es kein Auswahlverfahren, alle konnte völlig frei malen. Natürlich durften keine rassistischen oder diskriminierenden Bilder gemalt werden. Solche Bilder wurden aber auch nicht eingereicht und entsprachen auch nicht der Stimmungslage in der Zeit.

Teresa Casanueva, Sabine Kunz, Christine MacLean und Moderatorin Kathrin Schrader (v.l.n.r.) | Bild: Reto Thumiger, Pressenza.

Neben MacLean saßen zwei Künstlerinnen, die an der ESG gemalt haben, Teresa Casanueva und Sabine Kunz, und erzählten ihre Geschichte bei der Diskussionsveranstaltung am 7. November in der Inselgalerie. Im Publikum saß eine weitere Künstlerin, Rosmarie Schinzler. Bei allen dreien war zu spüren, dass es eine lebensverändernde Erfahrung war, an diesem Kunstprojekt teilzunehmen.

„Die Künstler haben sich an der East Side Gallery in ihrem Jungsein und ihrer Lebendigkeit getroffen und ausgetauscht und eine internationale Gemeinschaft gebildet“, erklärte Sabine Kunz. Man müsse sich das mal vorstellen, dass 115 Künstler sich in so kurzer Zeit zusammentun und gemeinsam ein 1,3 km langes Kunstwerk schaffen. „Da lag schon ein freiheitlicher Gedanke, ein Aufbruch zu Grunde und Hoffnung vielleicht“, schloss Kunz.

„Die East Side Gallery ist genau das Gegenteil dessen, wofür diese Mauer stand“, ergänzte Teresa Casanueva. „Aus Trennung wurde Verbundenheit, Demokratie und Freiheit. Manche Bilder warnten oder mahnten vor den Gefahren der Zukunft. Es ist sichtbar an der East Side Gallery, die neue Zeit, die sich ausdrückt und nicht die Vergangenheit, die niemand mehr haben wollte“, sagte Casanueva weiter.

Rosemarie Schintzler zeigt ihr Bild „Alles offen“ an der Berliner East Side Gallery. Zwei weiße Tauben halten die Enden eines roten Fadens im Schnabel, an dem das Brandenburger Tor hängt. (Bild: Reto Thumiger, Pressenza)

Die längste Freiluftgalerie der Welt ist einer der meist besuchtesten Ort Deutschlands. Der Berliner Senat hat dieses Mauerstück über Jahre verkommen lassen, zugelassen, dass Grundstücke zwischen Mauer und der Spree verkauft wurden, Gelegenheiten für den Rückkauf nicht wahrgenommen. Selbst ein lautstarker internationaler Protest im Jahr 2013 konnte weder den Luxus-Wohnturm „Living Levels“, noch den monströsen Komplex aus Hotel und Luxuseigentumswohnungen des Investors Heskel Nathaniel (Trockland Management GmbH) verhindern. Beide Bauprojekte wurden gegen den Willen der Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner vom Berliner Senat durchgeboxt, obwohl das Berliner Denkmalschutzgesetz eigentlich jeden empfindlichen Eingriff in den Wirkbereich eines Denkmals verbietet. Dazu sollten ursprünglich insgesamt 24 Mauersegmente, das sind ca. 3,5 Bilder, aus der East Side Gallery herausgerissen werden, was wieder einmal zeigt, dass Gesetze in Berlin nicht für alle gleich gelten. Der Diskussion und Proteste um das unliebsame Stück Erinnerungskultur überdrüssig geworden, wurden die nicht verhökerten Teile des Geländes sang- und klanglos an die Stiftung Berliner Mauer überschrieben.

Manche Leserin und mancher Leser wird an der Stelle vielleicht die massenhaften Selfie-schießenden Tourist*innen vor Augen allenfalls resigniert die Schultern hochziehen.

Teresa Casanuevas Bild nach der Fertigstellung (oben). Das Mauersegment wurde zusammen mit dem Grundstück an Trockland Management GmbH verkauf. Auf dem Bild unten der aktuelle Zustand des unter Denkmalschutz stehenden Kunstwerkes. (Bilder: © Teresa Casanueva)

Die East Side Gallery steht für eine Erinnerungskultur, die uns an das „Danach“ erinnert, an euphorische Tage selbst errungener Freiheit und nicht an das „Davor“, an vermintes Niemandsland. Es ist meines Wissens die einzige Gedenkstätte in Berlin, die für die Transformation steht. Nicht einfach als Mahnmal an die Verbrechen und Leiden der Vergangenheit erinnernd, sondern an die Überwindung der Unterdrückung und des Leidens. Es ist das Stück Mauer, das ursprünglich für Unfreiheit und Unterdrückung stand und sich in ein Symbol für das Gegenteil verwandelt hat, in Freiheit, Aufbruch, Demokratie und Hoffnung. Etwas, wozu nur die Kunst und Kreativität der Menschen im Stande ist. Darum ist die ESG so einmalig und schützenswert, um diesen Geist und diese transformierende Kraft wach zu halten, die wir heute dringender denn je benötigen.

Zwar wird sich die Stiftung Berliner Mauer besser als der Berliner Senat um den Unterhalt der Galerie bemühen, aber sie wird sie auch in ein totes Museumsstück verwandeln, wo nur noch Restaurator*innen Handanlegen dürfen.

Am Ende des Abends in der Inselgalerie, durch den Kathrin Schrader mit großer Sensibilität führte, formulierte Christine MacLean das folgendermaßen:

„Die Stiftung Berliner Mauer ist eine Institution und die ist sehr eng. Die ESG ist einmalig und passt nicht in den normalen Denkmalschutz rein, das geht nicht. Man könnte sie zwar als Street-Art bezeichnen, weil es Kunst auf der Straße war, aber sie ist es eben doch nicht, weil Street-Art flüchtig und nur temporär ist. Die ESG passt nicht in die Schubladen rein und benötigt eine andere Lösung, die bis jetzt nicht gefunden wurde. Meines Erachtens wäre die beste Lösung ein Monument to Joy. Joy, die Freude, war das Gefühl, was alle gefühlt haben in dem Moment. Und wie viele Denkmäler für die Freude gibt es auf der Welt? Ist es nicht ethischer, Freude zu verbreiten als Horror und Terror?“

Projektion auf der Rückseite der East Side Gallery in Solidarität der Protestbewegung in Chile und gegen die brutale Unterdrückung seitens der Regierung Piñera. (Bild: Maga Navarette, Pressenza)

Zurecht fürchten sich Politiker und Institutionen, die den Status Quo aufrechterhalten wollen, vor dem Gefühl der Freude, die die Massen aus ihrer Resignation aufwecken und dazu bewegen kann, auf die Straßen zugehen, gewaltfrei und kreativ das zerstörerische und unterdrückende System für das Wohl einer kleinen Minderheit in ihrem Fundament zu erschüttern, und die Suche nach einer besseren und menschlicheren Welt fortsetzen.

Nur weil wir nicht den genauen Kurs kennen, heißt das nicht, dass es diese neue, menschlichere Welt nicht gibt. Und die East Side Gallery erinnert uns mit ihren Bildern daran.


Mehr über die Geschichte der East Side Gallery bis ins Heute ist im Buch von Christine MacLean „Berlin East Side Gallery Berlin – Zwei Berlins eine Mauer“ zu finden.

Weitere Beiträge über die East Side Gallery auf Pressenza