Es waren Bilder, wie vor knapp anderthalb Jahren in São Bernardo do Campo, im Bundesstaat Sao Paulo. Tausende, Zehntausende Menschen, die meisten gekleidet in roten T-Shirts – der Farbe der Arbeiterpartei PT, standen am Freitag feiernd in den Straßen, jubeln, weinen – vor Glück.

Die Stadt São Bernardo ist das Hauptquartier der Metallgewerkschaft. Ihr Anführer war einst Luiz Inácio Lula da Silva, kurz Lula genannt, ehe er sich anschickte in die Politik zu gehen – und Präsident von Brasilien zu werden. Im April 2019 waren seine Anhänger gekommen, um sich schützend vor Lula zu stellen, forderten ihn auf, sich dem Haftbefehl des damals noch Bundesrichters Sérgio Moro zu widersetzen. Nun waren sie gekommen, um Lulas Freilassung zu feiern.

Denn Lula wurde Ende vergangener Woche erlaubt, das Gefängnis verlassen. Das hatte der Oberste Gerichtshof (STF) angeordnet. Dieser hatte mit knapper 6:5-Mehrheit beschlossen, dass Strafgefangene, die in zweiter Instanz verurteilt sind, nicht automatisch inhaftiert werden dürfen, solange nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Lula saß seit April im Hauptquartier der Bundespolizei PF im südbrasilianischen Curitiba in Haft. Er war wegen Vorteilsnahme zu einer Haftstrafe von mehr als acht Jahren verdonnert worden.

Dass Lula nun sein Gefängnis verlassen durfte, ist keinesfalls als eine Begnadigung zu sehen. Sollte sein angestrebtes Berufungsverfahren vor dem obersten Gerichtshof nicht erfolgreich sein, wird er wieder einrücken müssen, um den großen Rest seiner Strafe zu verbüßen. Es darf auch nicht als eine Art Urteilskorrektur gesehen werden, obwohl die Verurteilung Lulas von vielen Seiten als ein politischer Prozess gewertet wurde. Das damalige Urteil Moros hatte sich vor allem auf Indizien und zweifelhafte Zeugenaussagen gestützt, handfeste Beweise hatte Moro nicht liefern können, alles hatte gewirkt, wie mit der heißen Nadel gestrickt. Für eine sorgfältigere aber vor allem stichfestere Beweisführung war dem einstigen Starrichter Moro auch keine Zeit geblieben. Denn der Präsidentschaftswahlkampf 2018 hatte bereits begonnen und Lula lag bei den Umfragen weit vor seinen Konkurrenten, vor allem aber weit vor dem jetzigen Präsidenten Jair Bolsonaro.

Nach der Wahl, Sergio Moro war inzwischen von Bolsonaro zum Justizminister befördert wurden, hatte der US-amerikanische Journalist Glenn Greenwald, der auch die geheimen Dokumente des Whistleblowers Edward Snowden veröffentlicht hatte, die restlichen Zweifel an einem fairen Prozess gegen Lula ausgeräumt. Auf seiner investigativen Internetplattform The Intercept veröffentlichte er Anfang Juli dieses Jahres Mitschnitte von Gesprächen, die Sergio Moro mit dem ermittelnden Staatsanwalt Deltan Dallagnol über den Informationsdienst Telegram geführt haben sollen. Hacker hatten Greenwald das Material zugespielt. Aus dem Material wurde vor allem eines deutlich: Moro und Dallagnol hatten alles darangesetzt, um zu verhindern, dass Lula erneut für das Präsidentenamt kandidieren konnte. Er hätte mit großer Wahrscheinlichkeit gewonnen und genau das wollte Moro verhindern. Wäre man der Argumentation Dallagnols gefolgt, hätte die PT als kriminelle Vereinigung praktisch zerschlagen werden müssen. Wegen ihrer großen Beliebtheit hatte man jedoch nicht den Mut dazu.

Mit diesen Enthüllungen erzeugte Greenwald nicht nur großen Druck auf die neue Regierung Bolsonaros, in der ja nun auch Moro eine tragende Rolle spielen sollte. Er lässt dadurch auch etwas in einem komplett anderen Licht erscheinen, was bis dahin vielen Brasilianer den Glauben an eine halbwegs funktionierende Gewaltenteilung in Brasilien erhalten hatte. Seit März 2014 hatten die Korruptionsermittlungen, bekannt unter dem Operationsnamen „Lava Jato“ (übersetzt: Schnelle Autowäsche) damit begonnen, die in Brasilien weit verbreitete Korruption als ein flächendeckendes und systematisches Betrugsschema zu entlarven. Ein junges gut ausgebildetes Ermittlerteam hatte es geschafft mehrere Dutzende bislang als unantastbar geltende Persönlichkeiten – Politiker fast aller Parteien, aber auch den Bauunternehmer Marcelo Odebrecht oder der früheren Milliardär Eike Batista wegen Schmiergeldzahlungen hinter Gitter zu bringen. Verurteilt hatte sie alle samt Sergio Moro. Im September 2017 wollten die Ermittler dann dem Ganzen die Krone aufsetzen: Lula als Dreh- und Angelpunkt und Kopf des ganzen Betrugsnetzwerks zu präsentieren. Die Inszenierung war spektakulär – TV-Stationen übertrugen die Pressekonferenz live. So effektreich die Präsentation, so dürftig blieb die Faktenlage.

Lula ist freilich nicht der einzige Nutznießer der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs. Dutzende sehr überzeugend und stichhaltig Verurteilte des Lava Jatos dürften ebenso unter die Regelung fallen und in den kommenden Tagen wieder auf freien Fuß kommen. Darunter fielen beispielsweise auch die Verdächtigen, die für den Mord an der Stadträtin Marielle Franco verantwortlich gemacht werden. Ob sie jemals ihre durchaus verdienten Strafen werden absitzen müssen, ist indes fraglich. Denn mit der Entscheidung wurde ihnen nun die Möglichkeit gegeben, mit großem und teurem juristischen Beistand das eigene Verfahren in die Länge zu ziehen. Kleine Formfehler werden künftig wohl viele Verfahren verteuern und um unvorhersehbare Zeit in die Länge ziehen. Das kann sich natürlich nur leisten, wer über das nötige Kleingeld verfügt. Damit macht die brasilianische Justiz einen gewaltigen Rückschritt in eine Zeit, die es schon einmal gab, in der man sich Freiheit quasi erkaufen konnte.

Und was bedeutet das für Lula? Nun, er wird, solange er auf freiem Fuß bleibt, durch Brasilien reisen und versuchen, die öffentliche Meinung gegen die amtierende Regierung weiter anzustacheln. Wahrscheinlich wird er damit das ohnehin gespaltene Land weiter entzweien. Präsident kann er vorerst nicht mehr werden, die nächste Wahl wird erst 2022 stattfinden, Lula wird dann 78 Jahre alt sein. Zudem fiele er unter die “Weiße Weste-Regelung” (Ficha Limpa), Kandidaten, denen ein Strafverfahren anhängt, dürfen nicht kandidieren. Lulas politische Karriere ist praktisch beendet – so oder so.

Seiner Partei PT hätte das ohnehin nichts genützt. Sie hätte längst einen Generationenwechsel vollziehen müssen. Stattdessen hatte sie im Wahlkampf viel zu lange und ausschließlich auf Lula als Zugpferd gesetzt. Ansatzweise adäquater Ersatz ist weit und breit nicht in Sicht. Zudem vermissen viele Brasilianer von der PT Anzeichen von Reue und Läuterung. Für den Lava Jato dürfte diese Entscheidung wohl so etwas wie der Todesstoß gewesen sein. Das Parlament hatte ohnehin schon damit begonnen, den Ermittlern mit neuen Gesetzesinitiativen die Arbeit zu erschweren. So soll ein Gesetz künftig verhindern, das Beweismittel, die sie Finanzaufsichtsbehörde COAF ermittelt hat, bei Strafprozessen als Beweismittel eingesetzt werden können.