Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Julio Anguita González, ein Urgestein der spanischen Linken, sprach im Interview mit Radio Televisión de Castilla y León über die europäische Wirtschaft, die die Gesellschaften vernichtet.

Spanien ist seit 2008 fest im Würgegriff der anhaltenden Wirtschaftskrise, die sich in einer Arbeitslosenquote von rund 20 Prozent niederschlägt. Die würde noch viel höher ausfallen, hätten nicht bereits Hunderttausende auf der Suche nach einem Job die Iberische Halbinsel verlassen.

Auch auf der politischen Ebene herrscht Stillstand. Aus den Parlamentswahlen im Dezember 2015 ging die rechts-konservative Partido Popular (PP) zwar als Sieger hervor, erhielt aber nicht die notwendige Mehrheit, um eine Regierung zu bilden. Eine linksgerichtete Koalition wäre rechnerisch möglich gewesen, aber die Sozialisten der PSOE und Podemos fanden keine Basis für eine Zusammenarbeit. Die Neuwahlen im Juni änderten nichts. Die Lage ist festgefahren.

Schon 2013 fand Julio Anguita gegenüber Radio Televisión de Castilla y León kritische Worte zur Situation in Spanien. Er machte eine verfehlte Wirtschaftspolitik und die Gier der Märkte für den Niedergang verantwortlich. Jairo Gomez hat Teile des Gesprächs übersetzt.

Frage: Julio, lässt sich das Ganze reparieren oder nicht?

Anguita: So wie sich die Dinge jetzt darstellen, absolut nicht. Ich glaube, man muss die Dinge klar benennen. Mit dieser Wirtschaftspolitik, die sich gegenüber ausländischen Wirtschaftsmächten lakaienhaft darstellt, und ich will es klar sagen, mit Politikern, die sich Spanien gegenüber verräterisch verhalten, gibt es keine Lösung. Die Arbeitslosigkeit wird steigen, die Wirtschaft ausbluten und wir werden in keiner Weise unabhängig sein.

Man kann weder die Schulden zurückzahlen noch wird sich die Wirtschaft erholen …

Außerdem haben wir kein politisches Konzept. Es gibt keinen Ausweg. Man kann weder die Schulden zurückzahlen noch wird sich die Wirtschaft erholen, weil man dabei ist, den Spaniern die Möglichkeit zu nehmen Dinge zu kaufen. Deswegen wird sich die Wirtschaft nicht erholen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder sind sie (Anm.: die Regierung) verrückt oder sie sind kriminell.

Julio, wenn Du sagst, sie seien entweder verrückt oder kriminell, wen meinst Du genau damit?

Ich meine wirtschaftliche Mächte und politische Mächte, die deren Handlanger sind. Ich spreche von den spanische Banken, von den Multinationalen Unternehmen, von Finanzunternehmen, die sich in einem Wirtschaftsraum bewegen, der ausschließlich spekulativ ist.

Ich rede von denen, die Geld unterschlagen, es der spanischen Allgemeinheit stehlen, um es in Steuerparadiesen zu verstecken, und von denen, die Konten in anderen Ländern unterhalten wie zum Beispiel in der Schweiz. Diese Zusammenballung von Macht, die noch dem Franquismus entstammt und sich später im Jordan der spanischen Demokratie badete.

Sie unterhalten einen europäischen Diskurs, der nach und nach die spanische Wirtschaft vernichtet hat.

Außerdem sind da noch die politischen Kräfte, die sich als deren Handlanger betätigen. Sie unterhalten einen europäischen oder europäistischen Diskurs, der nach und nach die spanische Wirtschaft vernichtet hat. Zuerst traf es die Landwirtschaft, der öffentliche Sektor wurde eliminiert, das produktive industrielle Gewerbe wurde zerstört. Der fehlt uns jetzt und es gibt kein alternatives politisch-wirtschaftliches Projekt.

Ich bin davon überzeugt, dass Du Lösungen zu bieten hast und auch Antworten. Welche sind das?

Es gibt einen Ausweg. Aber ich möchte dem spanischen Volk auch sagen, dass der Ausweg sehr hart ist. Es ist so, als wenn der Arzt zum Patienten sagen würde: „Sie sind sehr krank, ich werde versuchen ihnen zu helfen, aber Sie müssen Ihren Teil dazu beitragen. Weil Sie, lieber Patient, nicht mehr so leben werden können wie früher.“

Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass die Lösung nicht bei den Parteien liegt. Die beiden Parteien, die sich an der Regierung abwechseln, sind gleichermaßen verantwortlich. Wir dürfen nämlich nicht die Verfassungsänderung vergessen, die von Zapatero (Anm.: PSOE, Vorgänger von Rajoy) unter Mithilfe von der PP durchgesetzt wurde. Beide partizipieren am gleiche europäischen Modell.

Die übrigen politischen Kräfte, nun, wir wissen, dass zum Beispiel die Nationalisten, die konservativen Maßnahmen von PSOE und PP unterstützt haben. IU (Vereiniget Linke) ist eine linke Kraft, die zulegen wird, aber niemals so, dass sie große Wirkung haben wird. Die Lösung liegt letztlich beim spanischen Volk.

Julio, der eine oder andere Zuschauer wird sagen, dass Sie ein Messias sind oder eine messianische Botschaft haben. Was sagst Du dazu?

Ich glaube, dass dies eine Falle ist, die sich so mancher Zuschauer selber stellt, um seine eigene Passivität zu rechtfertigen. Einige von ihnen sagen, dass es einige außergewöhnliche Frauen und Männer gibt, und das sie nicht so sind, und deshalb handeln sie auch nicht so.

Reden wir offen. Als ich politisch aktiv war, waren meine Genossinnen und Genossen und ich von einem besessen. Wir dachten über die Probleme nach, studierten sie, debattierten darüber und fanden auch deswegen Lösungsansätze.

In der Zeit, die der Mensch auf Erden weilt, hat er die Verpflichtung glücklich zu sein.

Alternativen gegen die Arbeitslosigkeit, energetische Alternativen und Alternativen zur europäischen Vision. Es waren alles Ergebnisse des Studiums der Probleme. In diesem Land aber, wird das nicht getan und am allerwenigsten tun es die politischen Führer.

Was macht für Sie Spanien aus, sind es die Menschen?

Natürlich! Für mich sind es die Spanierinnen und Spanier. Ich kann den Begriff Spanien ohne Männer und Frauen nicht verstehen. Was ist dieses Spanien? Welche Interessen hat dieses Spanien?

Spaniens Interessen sind diejenigen der Männer und Frauen, der jungen und alten Menschen, die wir Spanier nennen. Das sind Spaniens Interessen. Wenn wir von unserem Vaterland reden, ohne die Menschen mit einzubeziehen, dann ist es so, wie jemand mal sagte: Dieser Patriotismus ist der letzte Vorwand der Schurken.

Julio, kommen wir zu den Widrigkeiten des Lebens. Du hast zwei Herzinfarkte gehabt, Angina pectoris, zwei Herzoperationen und zweifellos einen der härtesten Schläge, den ein Mensch treffen kann. Du hast Deinen Sohn auf tragische Weise verloren (Anm.: Anguitas Sohn war Kriegsberichterstatter im Irak und wurde dort getötet.). Dennoch lächelst Du und machst weiter. Wie hast Du das verkraftet?

Der Tod meines Sohnes, der für mich brutal war, hat mir genutzt. Und zwar, um keine Angst mehr vor dem Tod zu haben. Es ist paradox, weil es ein furchtbarer Schlag war, weil alle Todesfälle schlimm und ungerecht sind, der eines Sohnes aber ganz besonders.

Ich habe allerdings eine Maxime, die ich mit meinem Sohn teilte. Sie lautet, dass wir die Verpflichtung zu leben haben. Wir kommen aus dem Nichts und gehen in das Nichts, aber in der Zeit, die der Mensch auf Erden weilt, hat er die Verpflichtung glücklich zu sein.

Ich berufe mich auf die allgemeine Menschenrechtserklärung. Das ist mein politisches Projekt.

Dazu muss er jeden Tag etwas zu essen haben, ein Dach über den Kopf und Kleidung. Weil all dieses mit Arbeit produziert wird, hat er somit auch das Recht auf einen Arbeitsplatz. Das ist indiskutabel. Das Recht zu arbeiten steht über allen Verfassungen, Königen, Ministern und Regierungen. Wenn alles, was ich aufgezählt habe, dieses nicht zum Ziel hat, ist es wertlos.

Ich berufe mich dabei auf die allgemeine Menschenrechtserklärung. Das ist mein politisches Projekt. Es sind lediglich 30 Artikel. Gehen Sie sie durch, das Recht auf Arbeit, Freiheit, Wohnung. Alles was nicht dazu führt, ist nicht wert verteidigt zu werden.

Wenn ich immer von der Wirtschaft und den Märkten höre, dann frage ich: Wer sind die Märkte? Was für ein Märchen lassen wir uns da wie große Kinder erzählen und glauben es auch noch? Die Märkte haben einen Namen. Wer sind die Wirtschaftsmächte in Spanien? Sie haben alle einen Namen. Sie heißen Emilio Botin oder Francisco Gonzalez. Es sind diejenigen, die über den Konzernchefs stehen. Die multinationalen Konzerne.

Spanien, das war der Bauer, der auf der kastillischen Hochebene von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unter Mühen das Land bestellt hat.

Es sind die Steuerhinterzieher. Jene die ihr Land bestehlen. Und um sich den Willen einiger zu versichern, die bereit sind das zu verteidigen, gibt man dem Ganzen einen Namen: Spanien. Sie überhöhen und verherrlichen diesen Begriff, indem er nur mit positiven Begriffen bestückt wird. Deswegen rege ich mich auf, wenn die Sprache auf Spanien kommt.

Es ist ein Spanien, welches nicht existiert und eine Lüge ist. Spanien, das sind wirklich existierende Frauen und Männer, die leben und auch leiden. Das war schon zu Zeiten der katholischen Könige so. Spanien war nicht Isabel und  Fernando. Spanien, das war der Bauer, der auf der kastillischen Hochebene von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang unter Mühen das Land bestellt hat. Und solange die Menschen das nicht realisieren, wird man weiter einen General, eine Fahne oder Monarchie und das Vaterland als Spanien verherrlichen. Alles Begriffe ohne wirklichen Inhalt.

Wie sieht Julio Anguita diese Kalamitäten im Zusammenhang mit den staatlichen Institutionen? (Anm.: Die Frage bezieht sich auf die Skandale der spanischen Königsfamilie)

Ich bin überzeugter Republikaner und als solcher geht das weit über eine Flagge oder die Wahl eines Staatsoberhauptes hinaus. Was mit dem König einhergeht, das wusste man doch schon die ganze Zeit. Es ist bloß ein stillschweigendes Abkommen mit den Medien eingehalten worden, dass über Jahrzehnte gehalten hat.

Dieses Land ist ein immerwährender Skandal …

Als aktiver Politiker wusste man über alles Bescheid, auch über die Machenschaften des Königshauses. Es hat im Prinzip wie der Schlussstein eines Bogens alles zusammengehalten und damit garantiert, dass alle anderen ihre Schmiergeldaffairen und was sonst noch alles haben konnten.

Dieses Land ist ein immerwährender Skandal und das nicht erst seit gestern, sondern rührt von der Übergangszeit von der Diktatur zur Demokratie her.

Übersetzung aus dem Spanischen von Jairo Gomez.

Hinweis: Das Interview wurde von Kollegen von Radio Televisión de Castilla y León geführt und über YouTube verbreitet.