„Armut und Angst vor einem frühzeitigen Schulabgang haben meine Jugend gezeichnet“, schreibt Sumaya Farhat-Naser in ihrer Autobiografie „Thymian und Steine“ über ihr Leben im palästinensischen Birzeit. Trotzdem entschied sie sich nach Studium und Promotion in Hamburg, in ihre alte Heimat zurückzukehren. Eine Heimat, in der seit Jahrzehnten Unterdrückung, Diskriminierung und Gewaltausschreitungen den Alltag bestimmen. Wer ist diese Frau, die sich gegen ein sicheres Leben in Deutschland entschied, um sich für den Frieden im Nahen Osten zu engagieren?

Als Sumaya Farhat-Naser 1966 Palästina verlässt, um in Hamburg ihr Studium zu beginnen, mahnt ihre Mutter, sie solle nie vergessen, in ihre Heimat zurückzukehren, ansonsten würde sie anderen Mädchen den Weg versperren. Doch es ist nicht nur der mütterliche Rat, der sie zurückkommen lässt, sondern auch ihre eigene politische Überzeugung. „Wenn wir nicht dort leben“, erklärt sie in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk, „dann haben andere Menschen dort das Sagen. Ich möchte aber, dass unser Land, dass Palästina und Israel zueinander finden.“ Diesem Wunsch folgend engagiert sie sich seit Jahrzehnten für Frieden, Bildung und Frauenrechte. Besonderer Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Friedenserziehung. In Workshops und Seminaren versuchen die Christin und ihre Kolleginnen, vor allem Jugendlichen und Frauen die Prinzipien der Gewaltlosigkeit näher zu bringen. Ziel ist es, Hoffnung zu schenken und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern gleichzeitig Wege zu zeigen, ihre Wut und ihre Angst in gewaltfreie Handlungen umzulenken. Im ersten Schritt ist es dafür wichtig, sich selbst anzunehmen. Denn nur wer gelernt hat, sich selbst zu verzeihen, kann auch anderen vergeben, so lautet Farhat-Nasers Prämisse. Im zweiten Schritt lehrt sie die gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenthal. Gegenstand dieser ist es, eigene Empfindungen so zu kommunizieren, dass der Gesprächspartner sie nachvollziehen und Verständnis entwickeln kann, anstatt sich durch Anschuldigungen angegriffen zu fühlen. Mit Menschlichkeit die Menschlichkeit der anderen wecken, heißt dabei ihre Botschaft. Wichtig ist der 68-Jährigen, dass Feindbilder überdacht werden.

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Thymian und Steine prägen das Landschaftsbild um das Dorf Birzeit und inspirierten Farhat-Naser zu dem Buchtitel ihrer Autobiografie. (Bild: Grey Myers via Flickr)

Farhat-Naser verfolgt eine Philosophie der kleinen Schritte. Sie ist überzeugt: Wenn alltägliche Situationen konfliktfreier werden, wirkt sich dies am Ende auch auf die Gewalt im Ganzen aus. Um möglichst viele Leute zu erreichen, schreibt sie Bücher, hält Vorträge und tritt in ausländischen Radio- und Fernsehsendungen auf. Für den Erfolg ihrer Arbeit sprechen auch viele Auszeichnungen. Zuletzt wurde Farhat-Naser 2011 mit dem AMOS-Preis der Offenen Kirche Württemberg für ihr Friedensengagement geehrt.

Bis die Friedensaktivistin mit Respekt und Wertschätzung belohnt wurde, war es für sie jedoch ein langer Weg. Immerhin ist ihr Lebenslauf keinesfalls selbstverständlich für eine palästinensische Frau. Und so musste die promovierte Biologin vielfach für ihre Bildung und Rechte als Frau kämpfen, ehe sie zur Botschafterin des palästinensischen Volkes wurde. Farhat-Naser wird 1948, im gleichen Jahr wie der Staat Israel, geboren. Die Ereignisse ihres Geburtsjahres werden sie ein Leben lang begleiten. Als junges Mädchen wird sie im deutschen Diakonissen-Internat Talitha Kumi eingeschult. Der Besuch dieser Schule ist ein wichtiger Wendepunkt in ihrem Leben. Anders als ihre Mutter und viele andere Mädchen aus Birzeit bekommt sie Zugang zu Bildung und kann sich so teilweise der üblichen männlichen Bevormundung entziehen. Auch die Botschaft der deutschen Diakonissinnen, dass der Sinn des Lebens einer Frau nicht nur im Kindergebären liege, beeinflusst sie sehr. Als ihr Großvater sie mit 14 Jahren verheiraten will, wehrt sie sich und beginnt, ihre Schulgebühren selbst zu finanzieren. Nach ihrem Abitur ermöglicht das Internat Farhat-Naser ein Studium der Biologie, Geografie und Erziehungswissenschaften in Hamburg. Sie widersetzt sich den Konventionen und bekommt als erste Frau ihres Dorfes einen höheren Berufsabschluss. Während ihres Studiums beginnt sie, sich tiefer mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästina auseinanderzusetzen, und stellt fest, dass viele Deutsche in ihrer historischen Befangenheit die Menschenrechtsverletzungen in Palästina nicht wahrhaben wollten – eine Erfahrung, die sie prägte und zum Handeln motivierte. In „Thymian und Steine“ schreibt sie: „Mir wurde bewusst, wie wichtig es wäre, unseren Gesichtspunkt in den Medien und in den Vorträgen darzulegen.“ 1980 hält sie ihren ersten Vortrag über die Situation der Palästinenser. Um jungen Menschen auch vor Ort in Birzeit ein Studium zu ermöglichen, hilft sie nach ihrem Studium, die Universität dort mitaufzubauen, und beginnt, als Dozentin für Biologie zu arbeiten.

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Die evangelische Schule Talitha Kumi bei Bethlehem: Farhat-Nasers Schulbesuch stellt wichtige Weichen für ihren späteren Lebensweg. (Bild: Guy Yitzhaki via Flickr)

Dass sie als promovierte Wissenschaftlerin in ihrer Heimat eine absolute Ausnahme ist, bekommt Farhat-Naser schnell zu spüren. Ihre akademische Karriere lässt die Dorfgemeinschaft nicht von der patriarchalischen Einstellung abbringen, Frauen seien schwache Kreaturen, die weder Mut noch politische Handlungsfähigkeit besäßen. Während ihres Engagements in lokalen Frauenorganisationen, die in den 80er Jahren im Untergrund entstanden, lernt sie jedoch schnell, genau diese Rolle zu ihren Vorteilen zu nutzen. „Wir haben gemerkt: Wir können sogar Fehler machen, wir können sogar Gesetze brechen, wir werden nicht wirklich ernst genommen. Und das ist tatsächlich unsere Stärke“, erklärt sie 2015 in einem Interview. In einer Zeit, in der der Kontakt zwischen Israelis und Palästinensern gesetzlich verboten ist, entstehen so die ersten Friedensdialoge zwischen Frauen auf beiden Seiten. Anfang der 90er Jahre organisiert Farhat-Naser mit Gleichgesinnten regelmäßige Treffen zwischen israelischen und palästinensischen Frauen – der Beginn eines Dialoges, der im Ausland mit viel Interesse verfolgt wird. Auf die anfänglichen eher kleinen Gesprächsrunden, folgen zwei große Treffen in Brüssel. Unter dem Titel „Women speak out: Give peace a chance“ diskutieren 1989 und 1991 Frauen beider Seiten über Friedensmöglichkeiten und tauschen sich über ihre gegenseitigen Erfahrungen aus. Als Ergebnis entsteht der Jerusalem Link: zwei kooperierende Frauenzentren in Jerusalem. Bat Shalom auf der israelischen Seite und das Jerusalem Center for Women auf der palästinensischen, dessen Leitung Farhat-Naser von 1997 bis 2001 übernimmt. Und auch in den Jahren danach verstummt sie nicht. Ihr Konzept der Friedenserziehung steht heute auf dem Lehrplan ihrer ehemaligen Schule Talitha Kumi. Als „Geheimagentin für den Frieden“, wie sie liebevoll genannt wird, kämpft sie bis heute unerschrocken für ein Ende der Gewalt.

Zur Autorin: Stella Männer studiert Politik- und Verwaltungswissenschaften in Konstanz und Aix-en-Provence (Frankreich). Seit ihrem Abitur hat sie verschiedene journalistische Erfahrungen beim Radio und Fernsehen gesammelt. Um diese noch weiter zu vertiefen, absolviert sie zurzeit ein Praktikum in der Redaktion bedrohte Völker – pogrom.

Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „bedrohte Völker – pogrom“ trägt den Titel „Starke Frauen: Jetzt reden wir!“. Geschichten, die erzählt werden müssen. Wir veröffentlichen ausgewählte Artikel zum „Hineinschnuppern“. Das vollständige Magazin gibt es im Online-Shop der GfbV.

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