Genau ein Jahr nach dem Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad flackerten erneut Kerzen auf allen Kontinenten. In Hunderten von Städten weltweit – von fast allen europäischen Hauptstädten bis hin zu Großstädten in Amerika und Australien – versammelte sich die serbische Diaspora unter grauem Himmel und stetigem Regen, um der sechzehn Todesopfer zu gedenken und etwas zu verteidigen, das über die Erinnerung hinausgeht: die fragile Hoffnung, dass Wahrheit und Rechenschaftspflicht doch noch siegen mögen und dass die aus der Tragödie hervorgegangene soziale Bewegung noch immer ihr Ziel erreichen kann.
Die Bewegung, die aus den Trümmern jenes Novembertages erwuchs – die stärkste studentische Mobilisierung in Serbien seit dem Sturz Slobodan Miloševićs und eine der ersten, die Menschen weltweit im gemeinsamen Ruf nach nationalem Wandel vereint – hat längst den Ort ihrer Entstehung hinter sich gelassen. Sie entstand aus Trauer, als eine Handvoll Studierender sich weigerte, das offizielle Schweigen und die bequeme Erzählung eines „tragischen Unfalls“ hinzunehmen. Sie ersetzten diesen Euphemismus durch ein einziges Wort, das auf Transparente gedruckt, auf den Straßen skandiert und auf Gebäude projiziert wurde: Odgovornost! – Verantwortung. Innerhalb weniger Wochen wurde dieses Wort zu einem Schlachtruf, verstanden selbst von jenen, die kein Serbisch sprechen.
Sie forderten und forderten weiter. Woche für Woche, bei Mahnwachen und Märschen, mit Bannern und Megafonen, an Universitäten und auf den Straßen, wiederholten sie ihre sechs Forderungen nach Rechenschaftspflicht. Wenn Türen sich schlossen, gingen sie weiter – von Niš nach Novi Sad, von Belgrad nach Straßburg, von Serbien bis ins Herz Europas – zu Fuß, auf Fahrrädern, selbstversorgend und schlafend in den Häusern von Fremden. Ohne Anführer:innen, ohne Geld und ohne Erlaubnis. Was sie verband, war nicht Ideologie oder Parteitreue, sondern die Überzeugung: Schweigen ist Mitschuld.
Im Frühjahr 2025 versammelten sich Zehntausende in Niš zu einer achtzehnstündigen Blockade. Viele waren hunderte Kilometer zu Fuß gegangen. Sie verlasen ein Student:innen-Edikt, inspiriert vom Mailänder Toleranzedikt Kaiser Konstantins aus dem Jahr 313 n. Chr. – jenem Text, der in der Geburtsstadt des Mannes entstand, der einst die Glaubensfreiheit verkündete. Die Version der Studierenden wurde zu einem Manifest für bürgerliche Freiheit: „Wir werden Ungerechtigkeit, Korruption und ein System, das uns einschränkt, nicht länger hinnehmen. Wir wollen Institutionen, die uns allen dienen. Wir wollen ein Land, das Wissen und Anstrengung schätzt – nicht Gehorsam.“
Ihr Mut wirkte ansteckend. Die Bewegung verbreitete sich über Universitäten und Stadtzentren hinaus auf Dörfer und ländliche Gemeinden, die von der nationalen Politik lange Zeit vernachlässigt worden waren. Plenen – offene Versammlungen, bei denen jede Stimme zählt – entstanden im ganzen Land und zogen bald auch die Aufmerksamkeit von Wissenschaftler:innen im Ausland auf sich. Der Ruf „Pumpaj!“ („Mach weiter!“ oder „Gib nicht auf!“) hallte bei jeder Demonstration – sowohl als Appell zur Ausdauer als auch als Herzschlag der Solidarität, und ist inzwischen sogar weit über die Bewegung hinaus bekannt geworden.
Am ersten Jahrestag füllten erneut Zehntausende die Straßen von Novi Sad. Mehr als viertausend Studierende, von denen einige über zwei Wochen lang aus so weit entfernten Städten wie Novi Pazar anmarschiert waren, kamen an dem Bahnhof an, wo alles begonnen hatte. Punkt 11:52 Uhr – dem Moment, als das Vordach einstürzte – verharrte die Menge sechzehn Minuten lang in Schweigen, eine Minute für jedes verlorene Leben. Dasselbe geschah weltweit, überall dort, wo Gedenkveranstaltungen stattfanden. Viele waren zu Fuß oder mit dem Fahrrad gekommen, genau wie vor einem Jahr.
Dieses Schweigen sprach lauter als jede Rede. Es verurteilte ein System, in dem Korruption die Norm ist, Aufsicht versagt und öffentliches Vertrauen so leicht zusammenbricht wie Beton. Die Tragödie von Novi Sad – entstanden aus Fahrlässigkeit und Gier – ist nicht nur zu einer nationalen Wunde geworden, sondern auch zu einem moralischen Scheideweg. Die Verantwortung bleibt bis heute ungeklärt. Doch die Katastrophe hat das Kontrollbedürfnis in Hinblick auf Serbiens Regierungsführung verstärkt und die Forderung nach Transparenz, Menschenrechten, Umweltschutz und systemischen Reformen verschärft. Der Ruf nach Odgovornost – Verantwortung – ist zusammen mit dem Kampf gegen Korruption und dem wachsenden Widerstand gegen die politische Struktur um Präsident Aleksandar Vučić, der seit 2017 an der Macht ist, zum zentralen Thema der zivilgesellschaftlichen Unzufriedenheit und der Massenmobilisierung geworden.
In Belgrad wurden in den vergangenen Monaten Demonstrierende – darunter Studierende und Professor:innen – vor der Fakultät für Darstellende Künste von niederrangigen Funktionär:innen und Mitgliedern der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) angegriffen. Diese Angriffe lösten eine Welle von Fakultätsbesetzungen und Universitätsblockaden aus. Durch Plenarsitzungen organisierten sich die Studierenden mit bemerkenswerter Effizienz und Entschlossenheit. Was als Student:innenrevolte begann, wurde zu einer nationalen – und schließlich globalen – Bürgerbewegung, gestützt durch die aktive Beteiligung der serbischen Diaspora, die logistische Unterstützung bei der Fahrt nach Straßburg und für den Marathon von Belgrad nach Brüssel leistete.
In Brüssel versammelten sich erneut Hunderte unter Regenschirmen am Carrefour de l’Europe, gegenüber dem Hauptbahnhof. Sie hielten ein Banner mit den Namen aller sechzehn Opfer hoch, wie sie es schon monatelang getan hatten – auch damals, als die studentischen Marathonläufer:innen nach ihrem siebzehntägigen Lauf nach Brüssel das Europäische Parlament erreichten. Um 11:52 Uhr standen auch sie in stillem Gedenken da, mit Kerzen und Rosen in den Händen.
Für ihre Beharrlichkeit und ihren friedlichen Mut wurden die serbischen Studierenden für den Sacharow-Preis 2025 für geistige Freiheit nominiert, zusammen mit inhaftierten Journalist:innen in Belarus und Georgien sowie humanitären Helfer:innen in Palästina. Auch wenn der Preis an andere ging, markierte die Nominierung einen Meilenstein: die Anerkennung einer Bewegung, die Trauer in Mobilisierung verwandelt hat.
Doch der Kampf geht weiter. Die Pressefreiheit in Serbien steht weiterhin unter Beschuss. Seit dem Einsturz in Novi Sad hat Reporter ohne Grenzen mindestens neunundachtzig physische Angriffe auf Journalist:innen dokumentiert. Viele werden eingeschüchtert, zensiert oder schikaniert, nur weil sie die Wahrheit berichten. Im Oktober verurteilte das Europäische Parlament die Feindseligkeit der Regierung gegenüber unabhängigen Medien und forderte Belgrad auf, seine Kampagne der Desinformation und Angst zu beenden. Auch die Media Freedom Rapid Response (MFRR) bezeichnete nach ihrer Monitoring-Mission die Lage in Belgrad und Novi Sad im April 2025 als „Ausnahmezustand“.
Zensur, politischer Druck, mediale Vereinnahmung, Diffamierungskampagnen und juristische Schikanen haben ein Klima der Strafflosigkeit geschaffen, in dem Täter:innen – auch Staatsbedienstete – ohne Konsequenzen handeln. Ermittlungen, wenn sie überhaupt eröffnet werden, verlaufen schleppend, oberflächlich und führen selten zu Gerechtigkeit. Wie während der Gedenkveranstaltung in Brüssel – am Vorabend des Internationalen Tages der Vereinten Nationen zur Beendigung der Straflosigkeit für Verbrechen gegen Journalist:innen – in Erinnerung gerufen wurde, ist dieser Kampf um Wahrheit nicht nur eine Angelegenheit Serbiens. Er spiegelt eine breitere europäische Krise der Demokratie und der Grundrechte wider.
Zum Abschluss der Veranstaltung sprach Vula Tseti, Ko-Vorsitzende der Europäischen Grünen Partei, im Regen:
„Was jetzt zählt, ist, dass wir hier sind – um die Opfer zu ehren, den Studierenden zu danken, die für Demokratie und Verantwortung eintreten. Ohne sie, ohne ihren Mut, würde alles so weiter gehen, als wäre nichts geschehen. Das hier geschieht nicht nur für die Familien, nicht nur für Serbien – es geschieht für Europa, für die Demokratie, für die Gerechtigkeit.“
Als sich die Menge zerstreute, brannten die Kerzen weiter. Ein Jahr danach bleibt Novi Sad Wunde und Warnung zugleich – eine Erinnerung daran, dass selbst unter Trümmern das Gewissen aufstehen kann, und dass manchmal die mächtigsten Revolutionen mit Schweigen beginnen.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!









