Während der wackelige Waffenstillstand hält, steht die humanitäre Krise in Gaza weiterhin auf Messers Schneide. Tom Fletcher, Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen für humanitäre Angelegenheiten und oberster Koordinator für Nothilfe, erklärte gegenüber Reuters, dass „wöchentlich Tausende von humanitären Fahrzeugen einreisen müssen, um eine weitere Katastrophe abzuwenden“.
„Wir haben 190.000 Tonnen Hilfsgüter an den Grenzen, die darauf warten, ins Land gebracht zu werden, und wir sind entschlossen, sie zu liefern. Das sind dringend benötigte Lebens- und Nahrungsmittel“, sagte Fletcher.
Der Waffenstillstand öffnet Türen, doch der Zugang bleibt fraglich.
Nach dem Waffenstillstand vom 8. Oktober konnten bei den Hilfsmaßnahmen bescheidene Fortschritte erzielt werden. Im Rahmen der von den USA vermittelten Waffenruhe wurden rund 600 Hilfs-Lkws zugelassen.
Aufgrund von Streitigkeiten über die Rückgabe der sterblichen Überreste von Geiseln wurde diese Zahl jedoch später auf 300 pro Tag reduziert.
Fletcher und die UN-Organisationen haben Israel wiederholt aufgefordert, weitere Grenzübergänge zu öffnen, insbesondere den nach Rafah, der weiterhin geschlossen ist.
Ohne weitere Zugangspunkte kann die Hilfe den Norden oder entlegenere Gebiete nicht erreichen. Sie bleibt blockiert.
Selbst wenn die Lkws mit Hilfsgütern passieren dürfen, wird ihre Verteilung innerhalb des Gazastreifens durch beschädigte Infrastruktur, unpassierbare Straßen, Sicherheitsbeschränkungen und die Gefahr von Plünderungen erschwert.
Kommunikationsdirektion der Republik Türkei
Präsident Recep Tayyip Erdoğan gab nach der Sitzung des Präsidialkabinetts folgende Erklärung ab:
„Trotz aller Rückschläge sind fast 350 unserer Lastwagen in den Gazastreifen eingefahren, und mehr als 400 weitere Lastwagen warten auf die Einfahrt.
Wir haben gestern unser 17. ‚Goodness‘-Schiff in die Region entsandt.“ … pic.twitter.com/2svFutLVGz
— Republic of Türkiye Directorate of Communications (@Communications) October 15, 2025
EU und Türkei greifen ein – aber der Wiederaufbau ist eine politische Angelegenheit
Die Europäische Union hat einen Dreijahresplan in Höhe von fünf Milliarden Euro für den Wiederaufbau Gazas zugesagt und sich gleichzeitig verpflichtet, in Abstimmung mit UN-Organisationen und NGOs „schnelle, sichere und ungehinderte humanitäre Hilfslieferungen“ zu gewährleisten.
Ein Großteil der Wiederaufbaumaßnahmen wird voraussichtlich über die Palästinensische Autonomiebehörde laufen, die von der EU institutionell unterstützt wird.
Unterdessen gehört die Türkei zu den aktivsten Akteuren in der Region. Präsident Recep Tayyip Erdoğan gab bekannt, dass bereits 350 türkische Lastwagen in den Gazastreifen eingefahren sind und mehr als 400 an den Grenzübergängen warten.
Am 14. Oktober entsandte die Türkei ihr 17. „Goodness”-Schiff mit 900 Tonnen Lebensmitteln, Babynahrung und anderen lebenswichtigen Gütern zum ägyptischen Hafen Al-Arish. Von dort aus sollen die Güter in den Gazastreifen weiterbefördert werden.
Zudem ernannte die Türkei ihren Botschafter Mehmet Güllüoğlu zum Sonderkoordinator für humanitäre Hilfe für Palästina und entsandte ihn nach Gaza, wo er die Hilfslieferungen koordiniert und mit den Behörden der Vereinten Nationen, Ägyptens und Jordaniens in Kontakt steht.
Darüber hinaus entsandte die türkische Katastrophenschutzbehörde (AFAD) ein 81-köpfiges Such- und Rettungsteam, um bei der Beseitigung von Trümmern und den Aufräumarbeiten in Gaza zu helfen.
Erdoğan hat signalisiert, dass die Türkei eine Schlüsselrolle beim Wiederaufbau in Gaza spielen wolle, insbesondere beim Bau von Notunterkünften vor dem kommenden Winter. Er bekundete zudem die Absicht, finanzielle Unterstützung von den Golfstaaten, von der EU und von den USA zu mobilisieren.
Hilfe, aber nicht genug – und kein Ersatz für politische Lösungen
Trotz der Zusagen der EU und der Türkei gibt es nach wie vor erhebliche Hindernisse. Die überwiegende Mehrheit der erfassten humanitären Hilfe wird nach wie vor von staatlichen Akteuren bereitgestellt, die in den letzten Jahren über 90 % der internationalen Finanzmittel ausgemacht haben.
Diese Abhängigkeit unterstreicht das Risiko einer politischer Einflussnahme und von Bedingungen bei der Bereitstellung von Hilfe.
Entscheidend ist, dass Hilfe keine Souveränität, institutionelle Kapazitäten oder Strukturreformen ersetzen kann. Der langfristige Wiederaufbau in Gaza hängt davon ab, dass die grundlegenden politischen Probleme angegangen werden – und nicht nur davon, dass Güter geliefert werden. In einer Region, in der die Frage, wer regiert, umkämpft ist, sind auch die Kontrolle über Wiederaufbaufonds, der Zugang zu ihnen und die Prioritäten äußerst umstritten.
Darüber hinaus hat der jüngste Einsatz der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) bei der Verteilung – einer von den USA und Israel unterstützten Alternative zur UNO – scharfe Kritik und Besorgnis ausgelöst. Menschenrechtsgruppen warnen, dass dies gegen humanitäre Grundsätze und sogar gegen internationales Recht verstoßen könnte.
Seit Mai 2025 wurden mehr als 2.600 palästinensische Zivilisten, die Hilfe suchten, in der Nähe von Hilfsverteilungsstellen und Konvoirouten getötet oder verletzt, was große Sorge um die Sicherheit der Hilfesuchenden auslöst. (Wikipedia)
Die kommende Wochen: Worauf zu achten ist
Von entscheidender Bedeutung ist die Frage, ob Israel den Grenzübergang Rafah wieder vollständig öffnet und die Beschränkungen aufhebt. Ohne die Einrichtung mehrerer Zugangspunkte wird der Umfang der Hilfe weiterhin begrenzt bleiben.
Nachhaltige Finanzierung: Die zugesagten Mittel müssen schnell freigegeben werden. Verzögerungen oder Ausfälle könnten den Wiederaufbau verzögern und das Leid der Menschen verschlimmern.
Koordination und Überwachung: Eine transparente und unabhängige Überwachung der Hilfsgüterverteilung durch die UNO und NGOs ist erforderlich, um Politisierung, Zweckentfremdung und Opfer zu verhindern.
Integration mit politischer Lösung: Der Wiederaufbauprozess muss mit den Bemühungen um einen dauerhaften Frieden, eine gute Regierungsführung und den Aufbau palästinensischer Institutionen in Einklang gebracht werden.
Die Herausforderung ist dringend: Angesichts von Hunderttausenden Vertriebenen, einer bestätigten Hungersnot in Teilen des Gazastreifens und einer zerstörten Infrastruktur bedeutet jede Woche der Verzögerung mehr Todesopfer und mehr zerstörte Gemeinden. Wie Fletcher es ausdrückte: „Wir sind fest entschlossen, zu liefern.“ Die Frage ist nun jedoch, ob der politische Wille, die Sicherheitsgarantien und die logistischen Kapazitäten vorhanden sind, um diese Entschlossenheit in die Tat umzusetzen.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Kornelia Henrichmann vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!









