EU beschließt erste, vorerst folgenlose Maßnahmen gegen Israel. Die Bundesregierung war dagegen, konnte den Schritt aber nicht mehr verhindern. Anlass ist die Hungerblockade – und der sich konkretisierende Plan, Gazas Bevölkerung zu vertreiben.
Gegen den Willen Deutschlands hat die EU am Dienstag erste, vorerst noch folgenlose Maßnahmen gegen Israel beschlossen. Anlass ist die israelische Kriegsführung im Gazastreifen, die zum einen – mit einer totalen Blockade von Lebensmittellieferungen – eine Hungersnot provoziert, zum anderen die Bevölkerung in den Süden des Territoriums zwingt, wo sie zur Ausreise genötigt werden sollen. „Dies ist eine Wende in der Geschichte“, wird Israels Finanzminister Bezalel Smotrich zitiert. Der Plan hat in den vergangenen Tagen erste Konsequenzen seitens europäischer Staaten hervorgerufen. Frankreich und Großbritannien denken laut einer gemeinsam mit Kanada verabschiedeten Erklärung über „Maßnahmen, darunter gezielte Sanktionen“ gegen Israel nach; London hat seine Freihandelsgespräche mit dem Land eingefroren. Die EU hat sich am Dienstag auf eine Überprüfung ihres Assoziierungsabkommens mit Israel geeinigt. Berlin war zwar dagegen, konnte den Schritt aber nicht verhindern. Der Vorsitzende des israelischen Parteienbündnisses The Democrats warnt, das Vorgehen der israelischen Regierung mache Israel zum Pariastaat und bringe seine Existenz in Gefahr.
„Bilder vermeiden“
Israel hat seine Angriffe im Gazastreifen in den vergangenen Tagen erneut dramatisch ausgeweitet. Seit der Wiederaufnahme der Bombardements am 18. März kamen durch sie mindestens 3.300 Menschen zu Tode; die Gesamtzahl der Todesopfer in Gaza seit dem 7. Oktober 2023 wird auf annähernd 53.500 Menschen geschätzt, darunter nach UN-Angaben mehr als 28.000 Frauen und Mädchen.[1] Die israelische Regierung hat angekündigt, ihre Offensive weiter verschärfen zu wollen. Auch die Blockade der Hilfslieferungen für die Bevölkerung dauert faktisch an. Israel gibt zwar offiziell an, wieder Transporte zuzulassen, begrenzte deren Zahl aber am Montag auf fünf. Vor Kriegsbeginn trafen laut UN-Angaben täglich 500 Transporte im Gazastreifen ein. Am Dienstag warnte UN-Nothilfekoordinator Tom Fletcher, werde die Zahl der Hilfslieferungen nicht erhöht, dann könnten binnen 48 Stunden bis zu 14.000 Säuglinge und Kleinkinder sterben.[2] Daraufhin hieß es aus Israel, man werde die Zahl der genehmigten Transporte am Dienstag womöglich auf bis zu 100 steigern. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gibt an, Washington habe gewarnt, sollten „Bilder einer massenhaften Hungersnot“ öffentlich werden, dann könne man Israel „nicht mehr unterstützen“. „Deshalb“, erklärte Netanjahu am Montag, „müssen wir das Problem irgendwie lösen“.[3]
Unbewohnbar machen
Zugleich setzt die israelische Regierung ihre Vorbereitungen für die gewaltsame Vertreibung der Zivilbevölkerung aus dem Gazastreifen fort. So heißt es, „wiederholte Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen“ seien aktuelle „Beispiele dafür“, wie „die israelischen Behörden den Gazastreifen unbewohnbar machen“.[4] Finanzminister Bezalel Smotrich hatte bereits Ende April erklärt, zu den Zielen der aktuellen Militäroperationen gehöre nicht nur, „Syrien zu zerlegen“, sondern auch, „Hunderttausende“ zum Verlassen von Gaza zu zwingen.[5] Am Montag wurde Smotrich nun mit der Äußerung zitiert, in der aktuellen Offensive zögen die Streitkräfte sich nicht mehr nach ihren Angriffen zurück, sondern gingen „präzedenzlos“ vor [6]: „Wir eliminieren Minister, Beamte, Geldwechsler und wichtige Persönlichkeiten im wirtschaftlichen und Verwaltungsapparat der Hamas“; „alles, was vom Gazastreifen übrig bleibt, wird dem Erdboden gleichgemacht“ – dies „einfach, weil dort alles zu einer einzigen großen Terrorstadt geworden ist“.[7] Der „Kern der Sache“ sei es, die Bevölkerung in den Süden des Gazastreifens zu zwingen, von wo aus sie auswandern solle: „Dies ist eine Wende in der Geschichte. Nicht weniger.“
Erste Konsequenzen
Eine Reihe von EU-Mitgliedstaaten hat im Verlauf des vergangenen Jahres begonnen, in Reaktion auf Israels Kriegsführung im Gazastreifen und die dort verübten Kriegsverbrechen erste Konsequenzen zu ziehen. So haben Irland, Spanien und der Nicht-EU-Staat Norwegen am 28. Mai 2024 Palästina als Staat formal anerkannt; am 4. Juni 2024 folgte Slowenien. Bereits zuvor hatten acht EU-Staaten diesen Schritt getan – schon im Jahr 1988 Polen, Tschechien und die Slowakei (beide damals gemeinsam als Tschechoslowakei), Ungarn, Rumänien und Bulgarien sowie Zypern; 2014 schloss sich Schweden an. Malta hat 1988 das Recht der Palästinenser auf einen Staat, nicht aber diesen selbst anerkannt. In Griechenland forderte das Parlament Ende 2015 die Regierung auf, Palästina als Staat anzuerkennen. Dem kam die Regierung jedoch nicht nach. Im April kündigte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an, die Anerkennung anlässlich einer Konferenz Anfang Juni in New York vornehmen zu wollen; allerdings plant Macron, dies im Gegenzug zu einer Anerkennung Israels durch mehrere arabische Staaten zu tun, die zur Zeit wegen des Krieges nicht in Sicht ist.[8] Insgesamt erkennen inzwischen 147 UN-Mitgliedstaaten und der Vatikan den Staat Palästina an. Deutschland zählt nicht dazu und bewegt sich in dieser Frage auch keinen Millimeter.
Praktische Schritte
Ähnlich verhält es sich bei der Frage, ob die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre Beziehungen zu Israel in der einen oder anderen Form anpassen sollen. In den Niederlanden hat ein Gericht bereits im Februar 2024 die Lieferung von Bauteilen für den US-Kampfjet F-35 an Israel untersagt.[9] Jenseits der EU hat Großbritannien im September 2024 gewisse Restriktionen bei seinen Waffenlieferungen an Israel verhängt; allerdings nahmen in den drei Folgemonaten die Exportgenehmigungen zu.[10] Einen kleinen Schritt weiter gingen die Niederlande, als Außenminister Caspar Veldkamp am 7. Mai mitteilte, Den Haag verlange eine Überprüfung des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel – denn dessen Regierung halte die Verpflichtung aus Artikel 2 des Vertrags, in den äußeren Beziehungen grundlegende Menschenrechte zu wahren, nicht mehr ein.[11] Am Montag suchten Frankreich und Großbritannien gemeinsam mit Kanada den Druck zu erhöhen, übten in einer gemeinsamen Erklärung deutliche Kritik an Israels Kriegsführung und brachten „weitere Maßnahmen, darunter gezielte Sanktionen“, ins Gespräch.[12] Großbritannien setzte am gestrigen Dienstag außerdem seine aktuellen Freihandelsgespräche mit Israel aus.[13]
Haftbefehl ohne Folgen
Berlin freilich hält sich von allen Maßnahmen gegen Israel fern. Bundeskanzler Friedrich Merz bekräftigte in der vergangenen Woche sogar, Ministerpräsident Netanjahu, gegen den der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag einen Haftbefehl verhängt hat, müsse dennoch „grundsätzlich nach Deutschland reisen können“: „Wie wir das ermöglichen, wenn es denn geplant werden sollte“, teilte Merz mit, darüber werde man die Öffentlichkeit „rechtzeitig informieren“.[14] Netanjahu trotz des Haftbefehls empfangen hat bislang nur Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán, der während des Besuchs ankündigte, sein Land werde aus dem IStGH austreten. Diesen Schritt hat Ungarns Parlament am gestrigen Dienstag formal beschlossen.[15]
Ungewisse Konsequenzen
Auf dem ebenfalls gestern abgehaltenen Treffen mit seinen EU-Amtskollegen sprach sich Außenminister Johann Wadephul klar dagegen aus, das Assoziierungsabkommen der EU mit Israel – wie von den Niederlanden gefordert – zu überprüfen. Allerdings konnte er sich nicht durchsetzen: Alles in allem 17 Staaten, darunter Frankreich, Spanien und Polen, stimmten dafür; Deutschland wurde zum Beispiel von Ungarn und Italien unterstützt.[16] Laut der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas wird die EU-Kommission nun beginnen zu überprüfen, ob Israel insbesondere die menschenrechtlichen Verpflichtungen des Abkommens respektiert. Ist das nicht der Fall, dürfte die Vereinbarung ausgesetzt werden, was nicht zuletzt den Handel zwischen beiden Seiten verteuern würde. Allerdings kann sich die Überprüfung massiv in die Länge ziehen. Zudem ist die Zustimmung der EU-Mitgliedstaaten zu einer Aussetzung des Abkommens ungewiss.
„Auf dem Weg zum Pariastaat“
Berlin begründet seine kruppstahlharte Unterstützung der israelischen Regierungspolitik gewöhnlich mit der Aussage, man stehe bedingungslos zur „Sicherheit Israels“; das sei Teil der deutschen „Staatsräson“. Die Behauptung, die aktuelle Politik der israelischen Regierung trage zur Sicherheit des Landes bei, wird inzwischen in Israel selbst offen in Frage gestellt. Am gestrigen Dienstag warnte Generalmajor a.D. Jair Golan, ein ehemaliger stellvertretender Generalstabschef der israelischen Streitkräfte (2014 bis 2017), der seit Juli 2024 den Vorsitz in dem neuen, aus Avoda und Meretz gebildeten Parteienzusammenschluss The Democrats innehat, Israel sei „auf dem Weg, ein Pariastaat zu werden, wie es einst Südafrika war“.[17] Das Vorgehen der aktuellen Regierung unter Ministerpräsident Netanjahu, urteilte Golan, bringe die Existenz des israelischen Staates langfristig in echte „Gefahr“.
[1] UN Women estimates over 28,000 women and girls killed in Gaza since October 2023. unwomen.org 19.05.2025.
[2] Sally Abou AlJoud: 14,000 babies could die in Gaza within 48 hours without aid: UN. middleeasteye.net 20.05.2025.
[3] Christian Meier: Ein Pita-Brot und ein Teller Essen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.05.2025.
[4] Christian Meier: Die tödlichsten Tage seit Monaten. Frankfurter Allgemeine Zeitung 19.05.2025.
[5] Sam Sokol: Smotrich: Fighting won’t end until hundreds of thousands of Gazans leave, Syria partitioned. timesofisrael.com 29.04.2025.
[6] Backing off threat to quit coalition, Smotrich says entry of ‘minimum’ aid in Gaza won’t reach Hamas. timesofisrael.com 19.05.2025.
[7] Christian Meier: Ein Pita-Brot und ein Teller Essen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.05.2025.
[8] Emmanuel Macron souhaite que la France reconnaisse l’existence d’un Etat palestinien « en juin ». lemonde.fr 10.04.2025.
[9] León Castellanos-Jankiewicz: Dutch Court Halts F-35 Aircraft Deliveries for Israel. verfassungsblog.de 14.02.2024.
[10] Dania Akkad: Approved UK arms exports to Israel skyrocketed under Labour, data shows. middleeasteye.net 15.05.2025.
[11] Mared Gwyn Jones: Support grows for Dutch call to review EU-Israel ties amid Gaza aid blockade. euronews.com 14.05.2025.
[12] Joint statement from the leaders of the United Kingdom, France and Canada on the situation in Gaza and the West Bank. gov.uk 19.05.2025.
[13] UK government suspends free trade talks with Israel over Gaza war. aljazeera.com 20.05.2025.
[14] Merz hält Besuch von Netanjahu in Deutschland für möglich – trotz Haftbefehl. welt.de 14.05.2025.
[15] Parlament in Ungarn billigt Austritt aus IStGH. tagesschau.de 20.05.2025.
[16] Mared Gwyn Jones, Jorge Liboreiro: Israel calls on the EU to exert pressure ‘where it belongs’ after Brussels opts to review trade ties. euronews.com 20.05.2025.
[17] James Shotter, David Sheppard: UK halts trade talks with Israel over Gaza offensive. ft.com 20.05.2025.