Ein Raum, nicht größer als 10 m², Lehmwände, Lehmboden, ein Fenster ohne Rahmen und Glas, ein Dach durch dessen Löcher Licht ins Dunkel fällt: Violet*, die alleinerziehende Mutter von sechs Kindern im Alter zwischen 6 und 21, muss dafür jeden Monat umgerechnet acht Euro aufbringen, die sie nicht hat. Jedes Kind hat einen anderen Vater, keiner zeigt Verantwortung. Violets ganzer Besitz sind ein paar Blech- und Plastikschüsseln, Matratzen, Decken und seit heute ein Koffer mit Second Hand Kleidung, die wir, fünf deutsche Frauen auf Projektreise in Uganda, gespendet haben.

Violet in ihrem Zuhause

Violet entspricht „unserer Vorstellung“ von einer „afrikanischen“ Frau: arm, hilflos, bedürftig, primitiv, vermutlich durch männliche Gewalt geschwängert. „Unsere Vorstellung“ meint die der Weißen im globalen Norden, die dieses Bild seit der Kolonialzeit bewahrt haben.

„Afrikanisch“ ist eine Verallgemeinerung für einen ganzen Kontinent, auf dem mehrere hundert verschiedene Völker leben. Als Weiße 1884 auf Bismarcks Kongokonferenz in Berlin ohne Rücksicht auf Gemeinschaften Grenzen zum Teil mit dem Lineal zogen, schürten sie Rivalitäten und zerstörten Zusammengehörigkeiten.

Tatsächlich forderten die britischen Kolonialherren (ab 1894) von ihren Untertanen in ihrer Kolonie Uganda eine Hüttensteuer. Um die zu bezahlen, mussten die Männer Geld verdienen. Zuvor war Land in Gemeinschaftsbesitz gewesenund wurde nach Bedürftigkeit zur Nutzung an Familien gegeben oder nomadischen Völkern zum Durchzug freigegeben.

Großbritannien brachte zunächst Buganda unter seine Kontrolle, stattete dessen König(sfamilie) mit Privilegien aus und ließ ihn Buganda und das übrige heutige ugandische Staatsgebiet 1894 zu britischem Protektorat umformen. 1900 etablierte die Unterzeichnung des (B)Uganda-Abkommens die indirekte Herrschaftsform: Das britische Königshaus herrschte, indem es einheimische traditionelle Oberhäupter für die Verwaltung einsetzte und dafür „belohnte“ – mit Privatbesitz an Land, festem Einkommen für Ämter, Kontrolle, Macht und sogar Nutzung einheimischer Menschen als Arbeitskräfte. Dabei blieben die einheimischen Herrschenden Ausführende –  tonangebend war Großbritannien. Weißen Siedler:innen wurde schriftlich alles Land zugesprochen, das nicht explizit den einheimischen Oberhäuptern vertraglich zugesichert worden war. Darunter fiel alles (nach europäischem Verständnis) „ungenutzte“ oder „leere“ Land.

Die Bauern wurden also einerseits (eines Teils) ihres Landes beraubt, andererseits mussten sie Hüttensteuer aufbringen. Es blieb ihnen kaum anderes übrig als auf den großen Plantagen weißer Siedler:innen zu arbeiten, oft sogar länger getrennt von ihren Frauen und Kindern. Hatten Mann und Frau zuvor in Großfamilien komplementär gearbeitet, fiel nun häufig alle Arbeit auf dem Feld und im Haushalt auf die Frau allein. Es wird geschätzt, dass weltweit heute die Grundversorgung (durch Subsistenzwirtschaft) bis zu 70 % allein von Frauen gewährleistet wird.

Teeplantage bis über den Horizont hinaus

Frau bei der Feldarbeit

Gehorsam und patriarchalische Formen wie „Die Frau sei dem Manne untertan“ wurden im Kolonialismus von Missionaren und in deren Schulen mit dem Christentum eingeführt – dabei die indigenen Formen verächtlich abgetan.

Der Kolonialismus hat das ursprüngliche Gemeinschaftsleben zerstört, die Moralvorstellungen aus der Bibel wurden übernommen, aber nicht unbedingt überzeugend von den herrschenden Weißen vorgelebt. Begehrlichkeiten wurden geweckt, es den Weißen nachzutun: reich zu werden, sich Freiheiten zu leisten.

Wir kennen den Hintergrund dafür nicht, dass Violet sechs Kinder von sechs verschiedenen Männern hat. Doch anscheinend funktioniert noch das traditionelle Füreinander-Dasein der Großfamilie: Violets Schwester hat bisher Miete und Schulgeld für die beiden älteren Mädchen bezahlt. Aber nun ist ihr informelles Straßengeschäft bankrott und sie kann vielleicht nicht einmal mehr Schulgeld für die (qualitätvollere) Privatschule ihrer eigenen Kinder aufbringen.

Frauen auf dem Markt

In Markthallen und auf den Straßen sieht man überall in Uganda Menschen, die etwas zum Verkauf anbieten: Wer zuhause etwas Land hat und bewirtschaftet, verkauft seine Überschüsse, um Geld für all das aufbringen zu können, was man nicht selbst herstellen kann. Mehr als die Hälfte der ugandischen Wirtschaft beruht auf dem informellen Sektor, stellt 80 % der Beschäftigung. Billig- und Second Hand Waren werden in größeren Mengen eingekauft und wieder verkauft. Kleine Köstlichkeiten werden am Straßenrand gekocht und angeboten. – Vermutlich bekommen auch Violet und ihre Kinder darüber täglich etwas zum Kochen und zu essen, versorgt von den Menschen um sie herum; bezahlen kann sie das nicht.

Die Kochstelle teilt sie sich mit Nachbar:innen neben der Hütte, Wasser pumpt sie in Kanister, ein paar Hundert Meter entfernt, mitten im Ort. Damit ist ihr Weg recht sicher vor Übergriffen, wie Frauen im globalen Süden sie oft beim Wasserholen erfahren. Die öffentliche Wasserstelle (anders als ein privater Wasseranschluss) belässt den Frauen auch die Gelegenheit, sich öffentlich zu treffen und auszutauschen.

Öffentliche Wasserstelle

Violets Kochstelle

Doch Violet und ihre Familie wird gemieden. Dass wir sie besuchen und gar in die Hütte hineingehen, wird von Nachbar:innen mit gewisser Distanz beobachtet. Violet und ihre älteren drei Kinder haben Aids.

Das britische Imperium reichte nach dem 1. Weltkrieg auf dem afrikanischen Kontinent vom Kap (der guten Hoffnung in Südafrika) bis Kairo (in Ägypten). Straßen und Eisenbahnen wurden so gebaut, dass Baumwolle, Kaffee, Tee, Sisal und all die vielen Rohstoffe, genannt Kolonialwaren, vom Binnenland zum Hafen am Meer und weiter nach Europa gelangten. Von Norden nach Süden wollte Großbritannien seine Kolonien miteinander verbinden. Auf diesen Straßen läuft auch heute noch Handel und Verkehr: Bodenschätze, Rohstoffe, Warenwerden mit LKWs Tausende von Kilometer transportiert. Die Fahrer sind lange von ihren Familien getrennt, übernachten unterwegs, gönnen sich vergnügliche Abende mit Alkohol, Drogen, Frauen. – So verbreitete sich Aids von Kairo bis zum Kap. In Uganda sind 2023 1,5 Mio. Erwachsene und Kinder HIV infiziert. In Uganda lebten 2023 48,5 Mio. Menschen.

Das Gesicht von Violets 21-jährigem Sohn ist vernarbt; er leidet zusätzlich zu HIV unter Epilepsie und ist bei einem Anfall ins Kochfeuer gefallen. Deshalb lässt die Mutter ihn nicht mehr aus den Augen und sieht keine Möglichkeit, einer auswärtigen Tätigkeit nachzugehen, die Geld brächte. Sie setzt auf gute Schulbildung der beiden Teen-Töchter und zukünftige Versorgung der ganzen Familie durch die zwei, in guter Tradition, dass die Familie füreinander da ist.

Bis dann ist sie auf nachbarliche oder familiäre Unterstützung angewiesen. Alle medizinische Hilfe erhält sie im nahen Salem Village, einem Projekt mit Kinderdorf, Kindergarten, Klinik, Baumschule zur Wiederaufforstung und Ausbildungsstätte für Krankenpflege. Das SALEM Projekt Salem wird v.a. über die gemeinnützige Organisation SALEM International unterhalten und u.a. über Spenden des deutschen Vereins Tukolere Wamu e.V. unterstützt.. (Tukolere Wamu e.V.: https://www.tukolere-wamu.de/, SALEM, Uganda: https://www.salem-uganda.org/index.php?seite=about-us)

Kinder im Salem Village

Hospital im Salem Village

Salem Village Projekte: Wiederaufforstung

Näherei

Wir fünf Frauen aus Deutschland erklären uns sofort bereit, Miete und Schulgeld für die beiden Mädchen aufzubringen und besprechen das mit dem Leiter des SALEM Projekts. „Nein,“ erwidert der zu unserer Verblüffung. „Ich schlage euch eine nachhaltigere Lösung vor:“ „Wir kaufen ein Grundstück im Ort, worauf wir ein festes Haus mit zwei Räumen bauen lassen. Vielleicht ist noch etwas Land drumherum, wo Violet mit ihrem Ältesten etwas zum Essen selbst anbauen kann. Oder es wird Land dazu gepachtet, das für Subsistenz reicht – sie könnte es zusammen mit ihrem Sohn bewirtschaften und ihn somit auch bei epileptischen Anfällen schützen. Wir stellen vertraglich sicher, dass das Haus für den Fall von Violets Tod in den Händen der Kinder bleibt und nicht von der Großfamilie beansprucht wird. So würden die Kinder nicht in unser Waisenhaus gehen müssen und sich weiter eigenständig gemeinsam versorgen können.

Eure Spende zahlt ihr bei Tukolere Wamu e.V. ein, die es an Tukolere Wamu Uganda überweisen und das Projekt betreuen werden. Violet wird – mit dieser Starthilfe – erfahren, dass siesich weiter selbst versorgen kann. Die Töchter könnt ihr mit einem Minimalbetrag in ihrer Ausbildung an einer öffentlichen Sekundarschule unterstützen, so dass die beiden eine gute Grundlage für eine Anstellung bekommen; auch sie werden selbstverantwortlich ihre eigene Zukunft gestalten können.“

Der Plan gefällt uns; wir bringen gemeinsam 2000 Euro auf und freuen uns, zum Empowerment einer benachteiligten Frau aus dem globalen Süden nachhaltig beizutragen. Dankbarkeit von der einen Seite, eigenes Schulterklopfen auf der anderen Seite – und Skrupel ohne Ende bei mir, dem guten Gefühl, etwas Gutes getan zu haben, zum Trotz.

Mein finanzieller Anteil ist ein Bruchteil der Kosten für meine anschließende Reise in die berühmten Nationalparks Ugandas und Tansanias, die ich mir leisten kann und die die meisten Einheimischen nie zu Gesicht bekommen. Eine Wiedergutmachung für die Schäden, die der Kolonialismus angerichtet hat, kann er nicht sein.

Mein Beitrag verändert auch kaum das Gefühl von Violet und den Menschen in Uganda, dass sie auf „Hilfe“ aus dem globalen Norden angewiesen bleiben. Und mein Beitrag verändert auch kaum das Denken der Menschen, denen ich von meiner Reise und Violet erzähle und weismachen möchte, dass Violet nicht „die“ Afrikaner:innen repräsentiert und sie nicht „arm und hilflos“ seien.

Allerdings gibt es sieben Menschen eine Chance für ihre Zukunft und auch allen Lesenden dieses Artikels einen Anstoß, ihr Denken zu überdenken.

*  Der Name ist geändert.