In einem offenen Brief an den brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva fordern Gründungsmitglieder des Weltsozialforums und langjährige Aktivisten die Freilassung des indischen Journalisten Prabir Purkayastha. Mit 78 Jahren befindet sich Purkayastha, ein Mitbegründer des Weltsozialforums in Indien und engagierter Förderer sozialer Bewegungen durch seine Publikation Newsclick, seit drei Monaten unter politisch motivierter Inhaftierung durch das Regime von Premierminister Narendra Modi. Der Brief zeichnet Parallelen zwischen Purkayasthas ungerechtfertigter Inhaftierung und der von Präsident Lula selbst erlebten, betont die kritische Rolle, die Purkayastha bei der Aufdeckung der Bhopal-Katastrophe 1984 spielte, und hebt sein lebenslanges Engagement für soziale Gerechtigkeit und politische Freiheit hervor.

Geehrter Präsident Lula,

wir schreiben Ihnen als alte Mitstreiter. Wir sind Mitglieder der Gruppe, die das Weltsozialforum ins Leben gerufen und dazu beigetragen hat, es weltweit zu etablieren und wenden uns an Sie, um Ihnen eine ernste Angelegenheit vorzutragen und im Ihre Unterstützung zu bitten.

Der indische Journalist Prabir Purkayastha, einer der Mitbegründer des Weltsozialforums in Indien in 2004, ist derzeit im Alter von 78 Jahren inhaftiert. Er wird seit drei Monaten vom Regime des Premierministers Narendra Modi festgehalten. Diese Inhaftierung ist politischer Natur. Sie zielt darauf ab, Newsclick zum Schweigen zu bringen, eine von Prabir gegründete und betriebene demokratische Publikation, die sich für soziale Bewegungen einsetzt. Sie stützt sich auf ein ultra-autoritäres Gesetz, das zuvor von UN-Berichterstattern als Angriff auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erklärt wurde. Da Indien zusammen mit Brasilien zu den BRICS-Staaten gehört, glauben wir, dass Sie dazu beitragen können, diese Ungerechtigkeit und diesen Angriff auf die politischen Freiheiten zu bekämpfen.

Sie werden, Herr Präsident, Parallelen zwischen der Inhaftierung von Prabir und Ihrer eigenen willkürlichen und infamen Inhaftierung erkennen. Die Haftanordnung basiert auf einer trivialen Tatsache: einem Zeitungsartikel. Am 5. August des letzten Jahres veröffentlichte die New York Times einen Artikel über ein angebliches internationales Mediennetzwerk, das China unterstützte. Es wurde gesagt, es werde von einem amerikanischen Millionär namens Neville Roy Singhan gesponsert – der während des Booms der Internetplattformen reich geworden war und angeblich beschlossen hatte, Publikationen mit redaktionellen Positionen, die Peking wohlgesonnen sind, zu unterstützen. Beachten Sie die Heuchelei, Herr Präsident. Medien, die großen Wirtschaftsgruppen wohlgesonnen sind, erhalten ständig Geldflüsse von lokalen und internationalen Unternehmen, die am Status quo interessiert sind. Dennoch produzieren sie gefälschte „Berichte“, um sich darüber zu beschweren, dass ein einzelner wohlhabender Mann angeblich beschlossen hat, diejenigen zu stärken, die anders denken.

Prabirs Inhaftierung sollte ursprünglich sechs Tage dauern, wurde aber ab dem 3. Oktober verlängert und kann auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werden. Im August 2014 verabschiedete der indische Kongress im Schnellverfahren (24 Tage Bearbeitungszeit in beiden Parlamentskammern) eine Änderung des Gesetzes zur Verhinderung rechtswidriger Aktivitäten (UAPA). Das seit 1963 geltende Gesetz wurde völlig ausgehebelt. Der neue Text erlaubt es der Regierung, Gruppen oder Einzelpersonen als „Terrorverdächtige“ zu bezeichnen. Die „Beweise“ können so fadenscheinig sein wie die, die Prabir zum Opfer fielen. Aber die als Verdächtige identifizierten Bürger werden für die Dauer der „Ermittlungen“ in Gewahrsam genommen.

Die „vorbeugenden“ Inhaftierungen werden verlängert, bis sie zu Urteilen ohne Prozess werden. Daten der indischen Regierung selbst wiesen 2022 auf die massenhafte politische Inhaftierung aufgrund dieser Bestimmung hin. In vier Jahren wurden 24.134 Personen gemäß dem UAPA festgenommen. Von diesen wurden nur 589 vor Gericht gestellt (von denen 386 freigesprochen wurden). 23.545 blieben inhaftiert – oder 97,5% insgesamt.

Das Gesetz autorisiert auch die Einziehung der Vermögenswerte der Personen, die untersucht werden – was bereits bei der von Prabir geleiteten Publikation Newsclick der Fall war. Am Vorabend von Weihnachten 2023 wurden die Bankkonten der Zeitung eingefroren. Gehälter und andere Verpflichtungen werden seitdem nicht mehr bezahlt. Der Einschüchterungsversuch ist offensichtlich.

Die indische Regierung will Prabir für seinen Erfolg bestrafen. Gegründet im Jahr 2009, hat Newsclick eine große Reichweite und Wirkung erzielt. Sie produzierte überzeugende Nachrichten und Analysen über Ereignisse in Indien und der Welt und vertrat eine klar antineoliberale Leseart. Sie verbündete sich auch mit bedeutenden sozialen Bewegungen, wie dem großen nationalen Bauernprotest von 2020-2021. Dieser Kampf führte zu der härtesten Niederlage, die Modi in zehn Amtsjahren erlitten hat, und zwang ihn, eine Reihe von Gegenreformen aufzugeben, die die bäuerliche Produktion bedrohten und das Land den Konzernen überließen.

Prabirs Lebensweg wurde seit über 50 Jahren von sozialen Kämpfen und dem Wunsch geprägt, eine gerechtere Welt zu schaffen. Sie werden sich erinnern, Herr Präsident, an ein bedeutendes Ereignis, an dem er beteiligt war. Im Dezember 1984 meldeten der damals junge Ingenieur Prabir und ein Kollege der Welt die Tragödie von Bhopal. Als Gründer des Delhi Science Forum im Jahr 1978 wurden sie beauftragt, die Katastrophe in einem alten Lagerhaus von Union Carbide zu untersuchen, in dem Pestizide hergestellt wurden. Die Fahrlässigkeit des amerikanischen Multinationalen hatte, wie sie feststellten, das Auslaufen einer hochgiftigen Substanz begünstigt – Methylisocyanat. Der Schatten des Todes breitete sich über die Stadt aus. Etwa 20.000 Menschen wurden vergiftet und starben in den folgenden Stunden und Tagen. Weitere 600.000 leiden noch heute unter den Folgen.

Prabir absolvierte sein Ingenieurstudium an den Universitäten von Kalkutta und Allahabad. Er trat 1970 der Kommunistischen Partei Indiens bei. Im Jahr 1975 schrieb er sich an der School of Computing and Systems Science der Jawaharlal Nehru University ein. Er arbeitete über 40 Jahre lang im Computer- und Energiesektor und war Mitglied in staatlichen indischen Ausschüssen zu diesen Themen. In seinem autobiografischen Buch „Den guten Kampf weiterführen“ („Keeping up with the good fight“), das vor einigen Wochen veröffentlicht wurde, während der Autor bereits im Gefängnis saß. In dem schreibt er: „Ich entdeckte, dass ich drei ‚Leidenschaften‘ hatte, und dass ich immer mit ihnen leben würde: Wissenschaft, Technik und natürlich die Politik. Erst mit der Zeit wurde mir klar, wie sie sich in den folgenden Jahrzehnten verbinden würden.“

Seine Leidenschaften vereinten sich in Prabirs unermüdlichem Kampf, Wissen von den handelsüblichen Barrieren zu befreien, die seine Verbreitung einschränken. Neben anderen Initiativen rief er in Indien die internationale Knowledge-Commons-Bewegung ins Leben, die Alternativen zum Konzept und den Mechanismen des „geistigen Eigentums“ vorschlägt, sowie die Free-Software-Foundation.

Kurz bevor er achtzig Jahre alt wurde, wird er inhaftiert, aber Prabir gibt nicht auf. Er lehnt den Opferstatus ab. In seinen Memoiren erklärt er: „Die Opferrolle beraubt uns unserer Rolle als Mitgestalter der Geschichte. Sie reduziert uns auf bloße Objekte. Stattdessen möchte ich die Perspektive der Menschen einnehmen, die Geschichte machen. Ja, die gegenwärtigen Regierungen üben eine Macht aus, die den Einzelnen und seine Organisationen scheinbar klein erscheinen lässt. Aber es sind die Menschen und ihre Handlungen, die letztlich die Geschichte bestimmen – nicht so und so sehr, wie wir es gerne hätten, sondern in einer Weise, die weder die Menschen noch ihre Machthaber vorhersehen können.

Und er schließt mit subtiler Ironie: „Ich bin so alt wie die indische Republik. In meinem Leben von über 75 Jahren habe ich ein oder zwei Dinge gelernt – vielleicht sogar drei. Ich habe gelernt, wie ich ein Teil meines Landes sein kann, das reich und vielfältig ist, und gleichzeitig Teil einer noch größeren, komplexeren und faszinierenderen Welt. Alles, was ich tun muss, ist für eine bessere Welt für alle zu kämpfen.“

Präsident Lula, Prabir Pukayastha muss freigelassen werden. Sie können Narendra Modi umstimmen.

Antonio Martins
Cândido Grzybowski
Chico Whitaker
João Pedro Stedile
Maria Luísa Mendonça
Oded Grajew
Sérgio Haddad

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Sabine Prizigoda vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!