Durchbruch oder Abbruch? Das EU-Lieferkettengesetz soll Unternehmen verpflichten, in ihrer gesamten Lieferkette darauf zu achten, dass die Menschenrechte von Beschäftigten gewahrt und die Umwelt nicht geschädigt wird. Am 9. Februar 2024 soll nun nach jahrelanger Verhandlung die finale Version des Gesetzes von den Mitgliedstaaten bestätigt werden. Eigentlich nur eine reine Formalität, nachdem sich die Kommission, der Rat und das Parlament im Dezember 2023 bereits geeinigt hatten. Doch kurz vor knapp legen sich der österreichische Wirtschaftsminister Martin Kocher und die deutsche FDP quer. Das Gesetz könnte scheitern. Worum geht es?

Warum braucht es ein Lieferkettengesetz?

Kinderarbeit, ausbeuterische Löhne und Arbeitsbedingungen, Raubbau an der Umwelt, klimaschädliche Produktion: In der Lieferkette von vielen Produkten werden Menschenrechte missachtet, das Klima und die Natur geschädigt. Die Lieferkette beginnt damit, benötigte Rohstoffe zu gewinnen, etwa Baumwolle für ein T-Shirt. Danach nähen Arbeiter:innen die Stoffe zu Kleidung – meist in Ländern, in denen Rechte von Beschäftigten kleingeschrieben werden und Löhne niedrig sind.

Die fertige Ware wird zu uns verschifft und landet in den Regalen von Geschäften und Lagern des Online-Handels. Ist das T-Shirt abgetragen, entsorgen wir es. Passiert das alles umweltgerecht und kommen Menschen dabei nicht zu Schaden? Dafür soll ein EU-weites Lieferkettengesetz sorgen.

Was ist der aktuelle Stand des EU-Lieferkettengesetzes?

15 Monate nachdem die Kommission ihren Richtlinienvorschlag vorgelegt hat, hat das EU-Parlament Anfang Juni 2023 seine Position festgelegt und deutlich strengere Regeln gefordert. Lange wurde darum gerungen, 429 Änderungsanträge wurden eingebracht. Entschieden wurde dann über einen Kompromissvorschlag, den der Rechtsausschuss des EU-Parlaments Ende April 2023 beschloss. Den Parlamentarier:innen ging der ursprüngliche Entwurf an manchen Stellen nicht weit genug. So soll das EU-Lieferkettengesetz für alle Unternehmen ab 250 Mitarbeiter:innen und 40 Millionen Euro Nettoumsatz gelten, und nicht erst ab 500 Beschäftigten.

Nachdem sich der Trilog aus Kommission, Rat und Parlament nach vielen Verhandlungsrunden im Dezember 2023 auf eine finale Gesetzesversion geeinigt hat, muss der Ausschuss der ständigen Vertreter:innen der Mitgliedstaaten am 9. Februar 2024 nochmals darüber abstimmen und ihn bestätigen. Dabei handelt es sich eigentlich um eine reine Formsache.

Lobbyverbände fahren aber derzeit nochmals ihre gesamten Geschütze aus, um ein EU-Lieferkettengesetz doch noch zu verhindern. Die neoliberale, deutsche FDP folgt dem Wunsch der Unternehmenslobbyist:innen und stellt sich im letzten Moment gegen das Gesetz – sie besetzt in der deutschen Ampel-Regierung zuständige Ministerien. Und Österreich? Justizministerin Alma Zadic (Grüne) und Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) haben wie alle zuständigen Minister:innen von EU-Staaten den Letztentwurf mitverhandelt. Zadic hat bereits öffentlich zugestimmt, Kocher zögert das hinaus. NGOs fürchten, er könnte den österreichischen Vertreter doch noch anweisen, sich bei der Abstimmung zu enthalten. Das würde einer Ablehnung gleichkommen. Die Wirtschaftslobby-nahen Parteien ÖVP, Neos und FPÖ sprechen sich nach wie vor gegen das Lieferkettengesetz aus.

Diese Ministerien und Parteien untergraben damit auch demokratische Prozesse. Der lange und komplexe Prozess der Gesetzgebung in der EU ist dazu da, einen Kompromissvorschlag zu erarbeiten, bei dem möglichst viele verschiedene Positionen einfließen. Das EU-Lieferkettengesetz wurde auf Wunsch der Gegner:innen immer wieder an wichtigen Stellen abgeschwächt. Trotzdem legen sich nun Leute quer, die den Kompromiss selbst ausverhandelt haben.

Welche Regeln sollen beim EU-Lieferkettengesetz gelten?

Unternehmen sollen verpflichtet werden, zu ermitteln, ob in der Lieferkette ihrer Produkte die Menschenrechte verletzt oder die Umwelt geschädigt wird. Die Firmen sollen dann dafür sorgen, “negative Auswirkungen ihrer Tätigkeit zu verhindern, abzustellen oder zu vermindern”. So schrieb es die EU-Kommission, als sie im Februar 2022 einen Entwurf für das EU-Lieferkettengesetz vorlegte.

Große Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten und einem Nettoumsatz von 150 Millionen Euro oder mehr sollen unter diese “Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit” fallen. Dazu kommen Firmen mit mehr als 250 Beschäftigten und 40 Millionen Euro Umsatz, die in besonders ressourcenintensiven Branchen tätig sind. Das sind etwa Textilunternehmen, Bergbaubetriebe und Produzenten von Nahrungsmitteln. Für letztere sollen die Regeln erst zwei Jahre später gelten.

Und: Die Firmen sollen sicherstellen, dass ihre Geschäftstätigkeiten mit der “Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius gemäß dem Übereinkommen von Paris vereinbar sind”, wie es im Kommissionsentwurf heißt. Dazu gehört, den Ausstoß von klimaschädlichen Treibhausgasen zu reduzieren. Unternehmen sollten haftbar gemacht werden, wenn sie die Richtlinien nicht einhalten. Haben sie negative Auswirkungen auf Menschen und Umwelt in ihrer Lieferkette nicht abgestellt oder minimiert, sollen sie zivilrechtlich belangt werden können.

Was soll das EU-Lieferkettengesetz bringen?

Vieles von dem, was wir täglich nutzen, kaufen und verbrauchen, wird nicht in Europa hergestellt. Die billige Herstellung in anderen Ländern sorgt bei uns für niedrige Preise. Das geht aber oft auf Kosten der dortigen Arbeitskräfte und der Umwelt. Zwei von drei Unternehmen in der EU achten nicht in ihrer gesamten Lieferkette auf Umweltschutz und Menschenrechte. Auf Freiwilligkeit zu setzen, funktioniert anscheinend nicht. Deshalb sollen Unternehmen nun per Gesetz zu mehr Nachhaltigkeit und Transparenz verpflichtet werden.

Zahlreiche der Richtlinien sind schwammig formuliert. Dennoch wäre das Lieferkettengesetz ein Durchbruch dabei, weltweit Menschenrechte zu wahren und das Klima zu schützen. Katastrophen, wie der bekannte Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza mit mehr als 1.100 Toten, zeigen: Freiwillig machen Unternehmen hier wenig. Zehn Jahre nach der Katastrophe “kehren wir zu den alten schlechten Bedingungen zurück”, sagte Gewerkschafter Rashedul Alam Raju jüngst zu MOMENT.at.

Im Jänner 2019 brach der Damm bei einer Eisenerzmine des Konzerns Vale im brasilianischen Brumadinho. 272 Menschen starben. Zwölf Millionen Kubikmeter giftiger Schlamm zerstörten die Umwelt und verseuchten einen Fluss. Es war ein Desaster mit Ansage. Dem Unternehmen war schon Wochen vorher bekannt, dass der Staudamm abzurutschen drohte. Der deutsche TÜV Süd prüfte den Damm und beanstandete nichts. Solche Katastrophen sollen durch das Lieferkettengesetz verhindert werden und Opfer leichter zu ihrem Recht und Entschädigungen kommen.

Noch mehr Argumente für ein starkes EU-Lieferkettengesetz findest du hier.

Worum wird beim Lieferkettengesetz gestritten?

Teile der Wirtschaft und bestimmte politische Vertreter:innen versuchen immer wieder, gegen ein EU-Lieferkettengesetz zu mobilisieren und Gesetzesentwürfe zu verwässern. Laut ihnen sei es viel zu aufwendig für Unternehmen, sich um ihre Lieferketten zu kümmern. Vor allem für die „kleinen heimischen Betriebe“. Neben der Tatsache, dass kleine Betriebe nicht unter die Richtlinie fallen, klammert dieses Argument auch aus, dass regionale Produkte aufgrund der hohen Sozial- und Umweltstandards in Österreich sogar einen Vorteil gegenüber internationaler Handelsriesen hätten. Lokale Hersteller:innen kämpfen aktuell oft mit höheren Produktionskosten und können mit der Billigproduktion im Ausland nicht mithalten. Unternehmen, die bereits jetzt sorgfältig handeln und auf saubere Lieferketten achten, hätten durch das Gesetz dann sogar einen Wettbewerbsvorteil und würden profitieren.

Kurz vor der Abstimmung im EU-Parlament legten sich aber etwa zahlreiche Abgeordnete der konservativen EVP-Fraktion – zu der auch die ÖVP gehört – quer. Mit zahlreichen Änderungsanträgen wollten sie den Entwurf abschwächen. Sie forderten, dass die Richtlinie generell nur für Unternehmen gelten sollte, die mehr als 1.000 Beschäftigte haben. Sie sollte auch nicht mehr für die gesamte Wertschöpfungskette gelten, sondern nur noch für die Beschaffung. Unter welchen Bedingungen Produkte verkauft, transportiert und entsorgt werden, sollte nicht Teil des Lieferkettengesetzes werden. Auch der verpflichtende Einklang mit den Pariser Klimazielen und die Haftung bei Schäden sollte gestrichen werden.

Viele Unternehmen befürworten jedoch auch ein starkes EU-Lieferkettengesetz, wie ein offener Brief vom Herbst 2023 zeigt: Dieser wurden von mehr als 70 österreichischen Firmen unterzeichnet.

Klar ist: Natürlich verändert ein Lieferkettengesetz den Aufwand. Das ist aber auch notwendig, um eine gerechtere und nachhaltige Zukunft zu gewährleisten. Unternehmen müssen sich verändern, Ausbeutung und die Zerstörung der Natur dürfen nicht mehr als „normal“ akzeptiert werden.

Gibt es Interessenkonflikte bei EU-Abgeordneten?

Pikant bei der Abstimmung im EU-Parlament war außerdem: Die deutsche Europaabgeordnete Angelika Niebler von der CSU (auch EVP) war federführend bei zahlreichen Anträgen auf Änderung des EU-Lieferkettengesetzes. Sie arbeitet nebenbei für die amerikanische Anwaltskanzlei Gibson, Dunn & Crutcher. Die Kanzlei vertritt große Unternehmen in Klagen wegen negativer Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeiten auf Menschenrechte und die Umwelt – also genau das, worum es beim Lieferkettengesetz geht. Dazu steht Niebler auf der Gehaltsliste der TÜV-Süd-Stiftung, die Miteigentümer des Zertifizierungsunternehmens TÜV Süd ist. Jener TÜV Süd, der das Rückhaltebecken der Eisenerzmine von Brumadinho im Jahr 2018 prüfte und für sicher befand. Drei Monate später brach der Damm.

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