#BerlinliesteinBuch – 2024 hat man sich für eines der großartigsten Bücher entschieden, wie ich finde. Deshalb tue ich jetzt etwas, was ich sonst nie tue: Ich hole eine Besprechung noch mal hervor und bitte euch inständig, dieses Buch zu lesen. Nicht wegen Berlin, sondern weil es einfach großartig ist. Sowohl was die Geschichte(n) angeht, die Authentizität der Figuren und Sprache, aber vor allem wegen des formalen Aufbaus, der umwerfend ist. Das war sicher ein Stück Arbeit, dem man das aber überhaupt nicht anmerkt. Ich lese Arbeit noch mal mit, denn so etwas verdammt gutes, authentisches und unterhaltsames gibt es nicht alle Tag.  Wer es genauer wissen will, liest hier noch mal weiter. Bitte.

Guten Morgen Berlin
Du kannst so häßlich sein
So dreckig und grau
Du kannst so schön schrecklich sein*

So singt Peter Fox in seinem großartigen, Berlin so genau zeichnendem Song „Schwarz zu blau“ – Thorsten Nagelschmidts Roman Arbeit ist das absolute Pendant auf literarischer Ebene und wenn ihr den Roman noch nicht gelesen habt, dann müsst ihr das unbedingt tun – nicht wegen Berlin, sondern, weil er einfach verdammt gut ist.

Arbeit – die meisten Menschen benötigen eine, um über die Runden zu kommen. Manchmal sogar mehrere gleichzeitig. Dabei kann das, was man für ein geregeltes Einkommen tut, Erfüllung sein, Spaß machen, Berufung sein oder einen quälen. Manchmal gerät man damit auch in kriminelle Machenschaften. Die Arbeit, die verrichtet werden muss, um eine Stadt am Laufen zu halten, gilt meist als allzu selbstverständlich und wird kaum gesehen. Thorsten Nagelschmidt macht sie sichtbar in seinem Roman „Arbeit“: Die Menschen, die die Städte in Betrieb halten, die Verbindungen der einzelnen, die Berührungspunkte die naturgegeben immer da sind, aber häufig ungesehen bleiben.

Dass Nagelschmidt sich Berlin und hier quasi einen Mikrokosmos rund um das Schlesische Tor als Mittelpunkt seines Romans gewählt hat, mag abschrecken. Es gibt zu viele schlechte oder mittelmäßige Berlin-Romane und manchmal könnte man meinen, alleine der Handlungsort muss genug sein, damit sie gedruckt wurden. Davon sollte man sich in diesem Fall nicht abschrecken lassen. Hier ist der Ort tatsächlich Kulisse, aber dabei so echt, dass man, könnte man wie die Engel aus Wenders „Himmel über Berlin“ alles von oben betrachten, mittendrin wäre. Mittendrin im Roman und gleichzeitig im realen Leben dieser Stadt. Aber Obacht: Wer hier Autofiktion erwartet, wird sie nicht finden. „Arbeit“ ist, wenn es so etwas gibt, real-literarische Großstadt. Und das ist nicht nur gut beobachtet, in Literatur umgesetzt, sondern macht verdammt viel Spaß.

Ein bisschen fühlte ich mich bei der Lektüre, die jetzt schon einige Zeit her aber noch sehr gut im Gedächtnis ist, wie bei einer Schnitzeljagd. Die Erlebnisse der verschiedenen Personen zusammenzuführen, sie im Laufe des Tages der Tag-Nacht-Gleiche des Jahres zu begleiten, bis zum Morgen des nächsten Tages, war wie ein Spiel. Man kann sich darauf einlassen, die Verbindungen zu finden oder man lässt es – und beides funktioniert perfekt. Klug strukturiert und flüssig formuliert, liest sich der Roman weg wie nichts. Tatsächlich lässt sich der Roman, wie zum Beispiel Paul Austers 4321, auf verschiedene Weise lesen. Die Kapitel sind, wie im zuletzt hier von mir vorgestellten Roman von Castle Freeman – mit großartigen Überschriften versehen, was eine Vorahnung davon aufziehen was, was den Menschen, die Nagelschmidt ins Zentrum stellt, so alles passiert.

Der Beginn des Romans ist eine typische Straßenszene – ein Mann, ein wenig verlebt, ein wenig ungepflegt, Plastiktüten neben sich, aber mit strahlend blauen Augen, die an frühere Zeiten erinnern, in denen es ihm wohl besser ging, haut einen anderen Mann um eine Zigarette an. Sie kommen ins Gespräch. Der zweite Mann, Bederitzky, ist Taxifahrer und wir werden ihn immer wieder ein Stück durch seine Geschichte und den Nachmittag begleiten. Wie auch die anderen Figuren Nagelschmidts, ist Bederitzky eigentlich etwas anderes, als man auf den ersten Blick sieht. Er ist als Taxifahrer gestrandet, tatsächlich aber will er Musik machen. Nur, davon kann er nicht leben.

Anders als Felix, auch Flix genannt, der seine Sucht zum Beruf gemacht hat. Er dealt und das obwohl er bereits erwischt wurde und einsaß, jetzt Bewährungsauflagen zu bedienen hat. Aber er hat aufgehört zu konsumieren … nun zumindest eine Zeit lang. Dass sich das vielleiht ändern könnte, wäre ein großer Fehler. Wer jetzt einwerfen mag, hmm, dealen, als Arbeit zu bezeichnen, das wäre nicht korrekt, der sollte mal überlegen, was die Feierwütigen des Nachts am laufen hält.

Neben dem Dealer und dem Taxifahrer treffen wir im Roman auf unter anderem auf die Hostelmitarbeiter und ihre Kunden, SanitäterInnen, eine Buchhändlerin, die des Nachts einer fast einträglicheren Tätigkeit nachgeht als tagsüber, ein paar eher orientierungslosen Jugendlichen, die bei einem etwas undurchsichtigen Mann eine Art Rückzugsort finden, einer Späti-Betreiberin und meiner Lieblingsfigur Ten, seines Zeichens Türsteher, junger Vater und auf dem Weg, sich ein „geregelteres“ Leben zu schaffen. Alle sind irgendwie über bestimmte Berührungspunkte verbunden, ob sie es nun wissen, sich kennen oder eben nicht. Diese Struktur herzustellen, schlüssig durchzuziehen und das als Autor nicht prahlerisch vor sich herzutragen, sondern den LeserInnen auf Augenhöhe zu begegnen ist wahres Können und bietet einen Heidenspaß.

Am Ende des Romans fing ich von vorne an und las noch einmal mit anderem Blick aber mit genauso großem Genuss, wie bei der ersten Lektüre. Alleine dafür liebe ich dieses Buch. Lest es, denn es stellt die ins Licht, die sonst gerne übersehen werden und am Ende ist da immer jemand, der alle sieht, weil sie deren Dreck wegräumt.

Du bist nicht schön
Und das weißt du auch
Dein Panorama versaut
Siehst nicht mal schön von weitem aus
Doch die Sonne geht gerade auf
Und ich weiß, ob ich will oder nicht
Dass ich dich zum Atmen brauch *

*Peter Fox – Schwarz zu blau

Arbeit von Thorsten Nagelschmidt ist im Verlag S. Fischer erschienen. Für mehr Information zum Buch über Doppelklick auf das im Buch abgebildete Cover oder auf der Verlagsseite.

Der Originalartikel kann hier besucht werden