Soziale Ungleichheit, entfremdete Arbeit und ökologische Zerstörungen breiten sich rasant aus. Profitmaximierendes Wirtschaften sei eine Hauptquelle dieser Übel, sagen Vertreter der Gemeinwohl-Ökonomie. Ihr Gegengift: ein neuer Maßstab für Erfolg.

Ekkehard von Hoyningen-Huene gräbt sich durch, wie er selbst sagt. Er gräbt bei den Rotenburger Stadtwerken, er gräbt in der Kommunalpolitik und er gräbt bei den lokalen Händlern. Vor allem aber gräbt er sich durch über Jahrhunderte gewachsene Vorstellungen, dass profitmaximierendes Wirtschaften in der Natur des Menschen läge. Von Hoyningen-Huene und seine Mitstreiter vom Ottersberger Ableger des Vereins „Gemeinwohl-Ökonomie“ (GWÖ) kommen dabei nur langsam voran, was auch an ihren mächtigen Widersachern liege. „Die Gegenbewegung ist massiv. Fossilunternehmen verdienen Milliarden, Banken fördern zerstörerische Industrien mit hohen Krediten“, sagt von Hoyningen-Huene.

„Nur auf den Dollar zu gucken, führt zu den Problemen, die wir heute haben. Dass die planetaren Grenzen erreicht sind, ist die Folge unseres Wirtschaftssystems.“ – Ekkehard von Hoyningen-Huene

Diese „Verharrungskräfte“ würden ein System am Leben halten, dessen Zenit längst überschritten sei, ist der pensionierte Bauingenieur und parteilose Rotenburger Ratsherr überzeugt: „Nur auf den Dollar zu gucken, führt zu den Problemen, die wir heute haben. Dass die planetaren Grenzen erreicht sind, ist die Folge unseres Wirtschaftssystems.“ Das Gegenmodell von Hoyningen-Huenes und seiner Mitstreiter: Eine Produktionsweise, die dem guten Leben für alle dient und nicht dem Reichtum einiger Weniger auf Kosten von Mensch und Natur.

20 Kriterien für das Gemeinwohl

Was nach einer abstrakten Utopie aus dem revolutionären 20. Jahrhundert klingt, haben die Anhänger der GWÖ-Bewegung in den vergangenen 13 Jahren in eine Matrix mit 20 konkreten Handlungsfeldern übersetzt. Organisationen können so ihren Umgang mit Kunden, Lieferanten oder Mitarbeitern hinsichtlich zentraler Werte wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und Mitbestimmung überprüfen. Diese wegweisenden Werte seien laut von Hoyningen-Huenes in der deutschen Verfassung verbrieft und orientieren sich an den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. Die GWÖ biete „sofort anwendbare Methoden, um sich diesen Zielen anzunähern.“

Ein Beispiel, mit dem der Verein für sein Anliegen wirbt: Ein Gärtnereibetrieb aus Stuttgart entscheidet mit allen Mitarbeitern gemeinsam, ob und wenn ja, an wen, welcher Anteil des Jahresgewinns ausgeschüttet wird. Ein hohes Maß an Transparenz und Mitentscheidung der Teilhaber sowie Mitarbeiter ist ein wichtiges Kriterium der GWÖ.

Experten des Vereins bieten eine intensive Begleitung für Unternehmen und Kommunen an, die eine offizielle GWÖ-Bilanzierung anstreben. Bis zu 1 000 Punkte können dabei erworben werden, die den Bilanzierten aufzeigen, wo sie stehen und eine positive Außenwirkung haben können. „Gerade junge Mitarbeiter werden von diesen weichen Faktoren angelockt“, sagt von Hoyningen-Huene. Durch die Umstrukturierung ändere sich häufig auch die Arbeitsatmosphäre, was auch zu weniger Krankheitsfällen führen könne.

Finanzielle Anreize und Idealismus

Die Kämpfer für die GWÖ streben aber noch handfestere Vorteile für zertifizierte Mitglieder an: Sie fordern eine Verringerung der Steuerlast sowie eine bevorzugte Behandlung bei der Vergabe von Krediten und bei öffentlichen Ausschreibungen. Denn gesamtgesellschaftlich würde sich diese Art der nachhaltigen Subvention lohnen, da ist sich von Hoyningen-Huene sicher. Er geht davon aus, dass die Vorgaben zu ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit in den kommenden Jahren immer strikter werden, eine frühzeitige Umstellung von Organisationsstrukturen sich daher auch für die einzelnen Unternehmen langfristig rechnen könnte.

„Es gibt einen Widerspruch zwischen dem Interesse der Gesamtwirtschaft und dem Interesse des Einzelunternehmens.“ – Ekkehard von Hoyningen-Huene

Viel wichtiger als finanzielle Anreize, sei aber die ethische Überzeugung, dass es so nicht weitergehen kann. „Der Erfolg der GWÖ steht und fällt mit der Ernsthaftigkeit der Geschäftsführung“, sagt von Hoyningen-Huene. Letztlich gehe es darum, einen Entwicklungsprozess anzustoßen, der unsere Lebens- und Wirtschaftsweise sozial und ökologisch transformiert. Die GWÖ-Anhänger wollen das System nicht umstürzen, sondern von innen heraus positiv weiterentwickeln – „Evolution statt Revolution“, lautet die Devise.

Unverpackt-Laden will erster GWÖ-Betrieb Rotenburgs werden

Dass dieser vom einzelnen Unternehmen ausgehende Ansatz nicht nur auf den Widerstand von mächtigen Lobbygruppen trifft, sondern in einer auf Konkurrenz und Profitlogik basierenden Wirtschaft auch strukturell an Grenzen stößt, sei ihm bewusst. „Es gibt einen Widerspruch zwischen dem Interesse der Gesamtwirtschaft und dem Interesse des Einzelunternehmens“, sagt von Hoyningen-Huene und verweist auf Berechnungen, die enorme Kosten durch den Klimawandel prognostizieren.

Insbesondere Aktiengesellschaften dürften schwer zu überzeugen sein, aus ethischen Gründen auf Teile ihres Gewinns zu verzichten. Und auch die Kunden von kleineren Firmen müssten vermutlich tiefer in die Tasche greifen, wenn die Produktion der Waren nachhaltiger laufen soll. Auch Investitionen ins Gemeinwohl muss man sich leisten können.

Von Hoyningen-Huene betont, dass es bei der Komplexität unserer Wirtschaft keine einfachen Antworten und kein Patentrezept für Wandel gebe. Man müsse von Branche zu Branche individuelle Lösungen finden, aber Nichtstun sei angesichts der Dringlichkeit keine Option. Also gräbt Ekkehard von Hoyningen-Huene weiter, ohne zu wissen, ob das jemals zu einem guten Ende führen wird. Immerhin einen Teilerfolg kann er vermelden: Der Rotenburger Unverpackt-Laden wagt den Schritt und will sich demnächst als erstes Unternehmen der Stadt beraten und GWÖ-bilanzieren lassen.

 

Der Artikel von Tom Gath erschien erstmals am 09.11.2023 in der Rotenburger Kreiszeitung.
Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Publikation.

Der Originalartikel kann hier besucht werden