Proteste gegen jüngste EU-Pläne zur Flüchtlingsabwehr nehmen vor EU-Innenministertreffen zu. Brüssel und Berlin unterscheiden faktisch weiterhin zwischen weißen und nichtweißen Flüchtlingen.

Heftige Proteste gegen die jüngsten Pläne zur EU-Flüchtlingsabwehr werden vor dem morgigen Treffen der EU-Innenminister laut. Die Minister wollen auf ihrem Treffen in Luxemburg unter anderem die umfassende Einführung von Grenzverfahren, die damit verbundene Internierung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen sowie die Ausweitung angeblich sicherer Drittstaaten beschließen. Wie es in einem Appell heißt, den mehr als 50 Vereinigungen unterzeichnet haben, darunter eine Reihe von Menschenrechtsorganisationen, protestantische Landeskirchen und Wohlfahrtsverbände, rütteln die Maßnahmen „an den Grundfesten des Rechtsstaates“. Sie sollen zu einer Zeit beschlossen werden, zu der die Länder Europas mit der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge beweisen, dass sie zu einem humanen Umgang mit Kriegsopfern in der Lage sind – aber nur dann, wenn es um weiße Europäer geht: Dass die EU Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, nicht aber aus Sudan aufnimmt, wird jenseits Europas genau registriert. Während die Chancen für nichtweiße Flüchtlinge, Zuflucht in der EU zu erhalten, sinken, wirbt die Bundesregierung Pflegepersonal in Brasilien an, um schlecht bezahlte Arbeitsstellen zu besetzen.

Grenzverfahren und Lager

Die Pläne für das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS), die die EU-Innenminister auf ihrem Treffen morgen in Luxemburg beschließen wollen, werden von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen als eine umfassende Entrechtung von Menschen eingestuft, die sich in einer akuten Notlage befinden. So sind sogenannte Grenzverfahren vorgesehen, in denen zunächst kein Asylantrag geprüft wird, sondern nur, ob ein solcher überhaupt gestellt werden darf. Letzteres kann prinzipiell verweigert werden, wenn ein Flüchtling über einen sogenannten sicheren Drittstaat eingereist ist; die Kriterien dafür, welche Länder als sichere Drittstaaten gelten können, werden aufgeweicht. Damit können Kriegsflüchtlinge jederzeit etwa in die Türkei abgeschoben werden. Auch die Deportation in ein weit entferntes Land, zum Beispiel nach Ruanda, ist möglich. Rechtlicher Beistand wird künftig nur eingeschränkt erhältlich sein – wenn überhaupt –, auch der Klageweg wird reduziert; das Mittel dazu ist die Fiktion, die Grenzverfahren würden noch vor der Einreise durchgeführt, also noch jenseits des Hoheitsgebiets des Staats, der das Verfahren organisiert. Flüchtlinge können während der Dauer des Grenzverfahrens an einer Weiterreise gehindert, also faktisch in Lager gesperrt werden.[1]

Entwertung von Grundrechten

Das Vorhaben stößt in der Bundesrepublik auf selten breiten Protest. So haben mehr als 50 Vereinigungen, darunter zahlreiche Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen, mehrere protestantische Landeskirchen, die Diakonie, der Deutsche Caritasverband, Brot für die Welt und diverse weitere Zusammenschlüsse einen Appell unterzeichnet, in dem es heißt, die geplanten Maßnahmen trügen dem derzeitigen „Trend der Entwertung europäischer Grund- und Menschenrechte“ Rechnung und rüttelten „an den Grundfesten des Rechtsstaates“; die Bundesregierung dürfe ihnen nicht zustimmen.[2] Rund 700 Rechtsanwältinnen und Juristen warnen in einem Offenen Brief, unterstütze die Bundesrepublik das EU-Vorhaben, dann mache sie „die Ausgrenzung von Geflüchteten in Deutschland und deren Inhaftierung und Abschiebung zu ihrem Markenkern“.[3] Der Unmut ist mittlerweile so massiv, dass die Regierungsmitglieder von Bündnis 90/Die Grünen – deren Wählerklientel ist in den zitierten Organisationen überdurchschnittlich vertreten – zur Schadensbegrenzung fordern, zumindest Minderjährige und Familien mit Kindern von den Grenzverfahren und der Lagerinternierung auszunehmen.[4] Eine Abkehr von dem gesamten Vorhaben ist jedoch nicht im Gespräch.

Weiße und nichtweiße Flüchtlinge

Die Maßnahmen werden zu einer Zeit verabschiedet, zu der die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge in der EU zeigt, dass selbst Europa zu einem halbwegs angemessenen Umgang mit Menschen, die fliehen mussten, in der Lage ist – jedenfalls im Fall weißer Flüchtlinge: Nichtweiße Bürger afrikanischer Staaten, die sich zum Studium in der Ukraine aufhielten und ebenfalls vor dem Krieg fliehen mussten, genießen in Deutschland keinen Schutz und sind unmittelbar von Abschiebung bedroht.[5] Der Unterschied, den die EU und auch Deutschland zwischen weißen und nichtweißen Flüchtlingen machen, wird jenseits Europas – nicht zuletzt in den Herkunftsländern nichteuropäischer Flüchtlinge – genau registriert und weithin als offen rassistische Praxis eingestuft. Gegenwärtig stößt etwa auf Protest, dass, anders als Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, solche aus Sudan nicht in Europa Zuflucht finden. Falls einige von ihnen nach Europa fliehen wollten, müssten sie wohl den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer nehmen, hielt kürzlich ein Kommentator aus Südafrika fest.[6] Damit werde faktisch „sudanesischen Asylsuchenden eine Zuflucht in Europa … verweigert“, „weil sie nicht ‘zivilisierte‘ (sprich ‘weiße‘) Opfer eines Konflikts wie die Ukrainer“ seien.

Bessere schlechte Löhne

Während die EU völkerrechtliche Standards einreißt, um unerwünschte Nichteuropäer aus Europa zu halten, bereisten Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in den vergangenen Tagen Brasilien, um dort gut ausgebildete Arbeitskräfte für in Deutschland traditionell schlecht bezahlte Tätigkeiten anzuwerben, die hierzulande nicht genügend Menschen freiwillig ausüben. So bleibt schon heute eine fünfstellige Zahl an Arbeitsplätzen im Pflegebereich unbesetzt. Kürzlich warnte die Beratungsgesellschaft PwC, im Jahr 2035 könnten allein im Gesundheitssektor 1,8 Millionen Arbeitskräfte in Deutschland fehlen.[7] Bereits heute arbeiten nach Schätzungen zwischen 300.000 und 600.000 Menschen in der Bundesrepublik als 24-Stunden-Betreuerinnen, meist schlecht bezahlt, oft unter desolaten Arbeitsbedingungen, viele davon aus Ost- und Südosteuropa.[8] Ebenfalls schon heute sind in Deutschland gut 60.000 Ärzte tätig, die aus dem Ausland kommen – bei einer Gesamtzahl von 421.000 Ärzten ein Anteil von 14 Prozent.[9] Baerbock und Heil wollen nun noch zusätzliches Pflegepersonal aus Brasilien nach Deutschland holen; sie locken faktisch damit, schlechte Löhne in der Bundesrepublik seien besser als schlechte Löhne in Brasilien.[10]

Auf Kosten der Ärmeren

Die Folgen der Abwerbung von Personal im Gesundheitssektor sind bekannt. Die Ausbildung von Medizinern etwa ist teuer. Ein Land, das – wie Deutschland – seine Ärzte systematisch aus dem Ausland holt, spart sich die Ausbildungskosten zu Lasten derjenigen Staaten, in denen die Mediziner ihr Studium absolviert haben. Dort fehlen dann außerdem die Ärzte. Ein Beispiel bietet Rumänien, das jahrelang Tausende Ärzte durch Abwanderung in reichere Länder verlor – nicht zuletzt nach Deutschland –, das mittlerweile erste Gegenmaßnahmen eingeleitet hat und jetzt wieder über fast 65.000 Ärzte verfügt: ein Siebtel der deutschen Zahl bei einem Viertel der deutschen Bevölkerungsgröße, also immer noch viel zu wenig.[11] Auch die Abwerbung von Krankenpflegern hat gravierende Folgen. So ist gegenwärtig die Krankenversorgung in Ghana nicht mehr im notwendigen Umfang gewährleistet, weil immer mehr Personal ins Ausland abgeworben wird, im ghanaischen Fall ganz besonders nach Großbritannien. Zur Zeit werde die Abwerbung von Personal „von sechs oder sieben Ländern mit hohem Einkommen getrieben“, die sich vor allem in ärmeren Ländern bedienten, heißt es beim International Council of Nurses (ICN) – dies zu Lasten derjenigen, die es sich am wenigsten leisten könnten, „ihre Krankenschwestern zu verlieren“.[12] Wer allerdings aus diesen Ländern nach Europa zu fliehen versucht, wird an der Grenze abgewiesen – in Zukunft noch effizienter mit den neuen Grenzverfahren und Lagern.

 

[1] Haftlager an den Außengrenzen und Abschiebungen in Drittstaaten: Ist das die Zukunft? proasyl.de 12.05.2023.

[2] Keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes. Gemeinsames Statement von über 50 Organisationen.

[3] Das Recht auf Schutz darf nicht abgeschafft werden. rav.de 26.05.2023.

[4] Grüne gegen Grenzverfahren für Familien mit Kindern. n-tv.de 05.06.2023.

[5] Claudia Heissenberg: Zerplatzte Träume – Afrikanische Studierende aus der Ukraine. swr.de 13.02.2023.

[6] Tafi Mhaka: Sudanese refugees deserve as much help as Ukrainians. aljazeera.com 12.05.2023.

[7] Luise Sammann: Warum viele kommen und wieder gehen. deutschlandfunk.de 08.05.2023.

[8] Betreuungskräfte aus Osteuropa: Immer da und ausgenutzt? ndr.de 09.01.2023.

[9] Stefanie Hanke: In Deutschland arbeiten: Woher kommen ausländische Ärztinnen und Ärzte? aerztestellen.aerzteblatt.de 24.05.2023.

[10] Tjerk Brühwiller, Matthias Wyssuwa: Patient mit Kammerflimmern. Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.06.2023.

[11] Catalina Mihai: Romania seeks EU-wide solution to address shortage of doctors. euractiv.com 05.05.2023.

[12] Naomi Grimley, Camilla Horrox: Ghana patients in danger as nurses head for NHS in UK – medics. Bbc.co.uk 06.06.2023.

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