Es ist eine sehr hohe Hürde, an ein Land zu appellieren, das militärisch überfallen wurde – nach jahrzehntelangen militärischen Verteidigungs- (und Angriffs-) Vorbereitungen und der damit einhergehenden kulturellen Indoktrination in die vermeintliche Notwendigkeit militärischer Verteidigung -, um dieses Land aufzufordern, kurzerhand einen unbewaffneten zivilen Verteidigungsplan zu erstellen und trotz des nahezu universellen Mangels an Training oder gar Verständnis danach zu handeln.

Wir stellen fest, dass es eine hohe Hürde ist, ein unbewaffnetes Team zur Verteidigung eines Atomkraftwerks mitten in einem Krieg zu entsenden.

Ein vernünftigerer Vorschlag wäre, dass die Regierungen der Länder, die sich nicht im Krieg befinden, sich über die unbewaffnete zivile Verteidigung informieren und (wenn sie sich wirklich darüber informieren würden, würde dies zwangsläufig dazu führen) Abteilungen für die unbewaffnete zivile Verteidigung einrichten. World BEYOND War stellt sowohl eine jährliche Konferenz im Jahr 2023 als auch einen neuen Online-Kurs zu diesem Thema zusammen. Eine Möglichkeit, ein erstes Verständnis dafür zu entwickeln, dass unbewaffnete Aktionen das Militär zurückdrängen können – auch ohne ernsthafte Vorbereitungen oder Training (stellen Sie sich vor, was eine angemessene Investition bewirken könnte) – ist diese Liste von fast 100 Fällen, in denen Menschen erfolgreich gewaltfreie Aktionen anstelle von Krieg eingesetzt haben.

Eine gut vorbereitete, unbewaffnete Verteidigungsabteilung (was eine Investition von 2 oder 3 Prozent des Militärbudgets erfordert) könnte eine Nation unregierbar machen, wenn sie von einem anderen Land oder einem Staatsstreich angegriffen wird, und damit immun gegen Eroberung. So beschreibt World BEYOND War dies in seinem Buch A Global Security System: An Alternative to War:

Der Gewaltfreiheitsforscher Gene Sharp hat die Geschichte durchforstet, um Hunderte von Methoden zu finden und aufzuzeichnen, die erfolgreich eingesetzt wurden, um Unterdrückung zu vereiteln. Seine Suche führte ihn zu der Vision der zivilen Verteidigung (Civilian-Based Defense, CBD), einem alternativen System, das die „Sicherheits“-Funktionen übernehmen könnte, die das Kriegssystem angeblich bietet. CBD: „…bezeichnet die Verteidigung durch Zivilist:innen (im Gegensatz zu militärischem Personal) unter Einsatz ziviler Kampfmittel (im Gegensatz zu militärischen und paramilitärischen Mitteln). Dies ist eine Politik, die darauf abzielt, ausländische militärische Invasionen, Besetzungen und interne Usurpationen abzuschrecken und zu besiegen“. Diese Verteidigung „soll von der Bevölkerung und ihren Institutionen auf der Grundlage von Vorbereitung, Planung und Ausbildung geführt werden“.

Es handelt sich um eine „Politik, bei der die gesamte Bevölkerung und die Institutionen der Gesellschaft zu den kämpfenden Kräften werden. Ihre Waffen bestehen aus einer großen Vielfalt von Formen des psychologischen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Widerstands und Gegenangriffs. Diese Politik zielt darauf ab, Angriffe abzuschrecken und abzuwehren, indem Vorbereitungen getroffen werden, um die Gesellschaft für potenzielle Tyrannen und Aggressoren unangreifbar zu machen. Die geschulte Bevölkerung und die Institutionen der Gesellschaft sollen darauf vorbereitet werden, den Angreifer:innen ihre Ziele zu verwehren und die Konsolidierung der politischen Kontrolle unmöglich zu machen. Diese Ziele würden durch massive und selektive Verweigerung der Zusammenarbeit und durch Widerstand erreicht. Darüber hinaus würde das verteidigende Land nach Möglichkeit versuchen, den Angreifer:innn maximale internationale Probleme zu bereiten und die Zuverlässigkeit ihrer Truppen und Funktionäre zu untergraben.

Das Dilemma, vor dem alle Gesellschaften seit der Erfindung des Krieges stehen, nämlich sich entweder zu unterwerfen oder ein Spiegelbild des angreifenden Aggressors zu werden, wird durch CBD gelöst. So kriegerisch wie der Aggressor oder noch mehr als dieser zu werden, beruht auf der Tatsache, dass das Aufhalten des Aggressors Zwang erfordert. CBD setzt mächtige Zwangsmittel ein, die keine militärischen Maßnahmen erfordern.

Bei CBD wird der angreifenden Macht jegliche Kooperation entzogen. Nichts funktioniert. Die Lichter gehen nicht an, die Heizung bleibt aus, der Müll wird nicht abgeholt, das Verkehrssystem funktioniert nicht, die Gerichte funktionieren nicht mehr, die Menschen befolgen keine Befehle. So geschehen beim „Kapp-Putsch“ in Berlin 1920, als ein Möchtegern-Diktator und seine Privatarmee versuchten, die Macht zu übernehmen. Die vorherige Regierung floh, aber die Berliner Bürger:innen machten das Regieren so unmöglich, dass die Machtübernahme trotz überwältigender militärischer Macht innerhalb weniger Wochen zusammenbrach. Nicht alle Macht kommt aus dem Lauf einer Waffe.

In manchen Fällen wäre Sabotage gegen Regierungseigentum angebracht. Als die französische Armee nach dem Ersten Weltkrieg Deutschland besetzte, legten deutsche Eisenbahner Lokomotiven lahm und zerstörten Gleise, um die Franzosen daran zu hindern, Truppen zu verlegen, um Großdemonstrationen entgegenzutreten. Wenn ein:e französische:r Soldat:in in eine Straßenbahn einstieg, weigerte sich der:die Fahrer:in, sie zu bewegen.

Zwei zentrale Tatsachen sprechen für CBD: Erstens, dass alle Macht von unten kommt – alle Regierung beruht auf der Zustimmung der Regierten, und diese Zustimmung kann jederzeit widerrufen werden, was den Zusammenbruch einer Regierungselite zur Folge hat. Zweitens: Wenn eine Nation aufgrund einer starken CBD-Kraft als unregierbar angesehen wird, gibt es keinen Grund zu versuchen, sie zu erobern. Ein Land, das durch militärische Macht verteidigt wird, kann im Krieg durch eine überlegene Militärmacht besiegt werden. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Es gibt auch Beispiele dafür, dass Völker sich erhoben und rücksichtslose diktatorische Regierungen durch gewaltlosen Kampf besiegten, angefangen bei der Befreiung von einer Besatzungsmacht in Indien durch Gandhis People-Power-Bewegung, über den Sturz des Marcos-Regimes auf den Philippinen, die von der Sowjetunion unterstützten Diktaturen in Osteuropa und den Arabischen Frühling, um nur einige der bemerkenswertesten Beispiele zu nennen.

(Siehe Gene Sharp, The Politics of Nonviolent Action, Making Europe Unconquerable und Civilian Based Defense neben anderen Werken. Eine Broschüre, From Dictatorship to Democracy, wurde vor dem Arabischen Frühling ins Arabische übersetzt).

In einer CBD werden alle fähigen Erwachsenen in den Methoden des Widerstands geschult. Es wird ein ständiges Reservekorps von Millionen organisiert, das die Nation in ihrer Unabhängigkeit so stark macht, dass niemand auf die Idee käme, sie zu erobern. Ein CBD-System wird weithin bekannt gemacht und ist für die Gegner völlig transparent. Ein CBD-System würde nur einen Bruchteil des Betrags kosten, der heute für die Finanzierung eines militärischen Verteidigungssystems ausgegeben wird. CBD kann eine wirksame Verteidigung innerhalb des Kriegssystems bieten, während es ein wesentlicher Bestandteil eines robusten Friedenssystems ist. Sicherlich kann man argumentieren, dass gewaltfreie Verteidigung als eine Form der sozialen Verteidigung über den Fokus des Nationalstaates hinausgehen muss, da der Nationalstaat selbst oft ein Instrument der Unterdrückung der physischen oder kulturellen Existenz von Völkern ist.

Wie bereits erwähnt, ist es wissenschaftlich erwiesen, dass gewaltfreier ziviler Widerstand im Vergleich zu Bewegungen, die Gewalt anwenden, doppelt so wahrscheinlich erfolgreich ist. Die heutigen Erkenntnisse in Theorie und Praxis lassen den langjährigen Aktivisten und Wissenschaftler der gewaltfreien Bewegung, George Lakey, auf eine starke Rolle der CBD hoffen. Er erklärt:

„Wenn die Friedensbewegungen Japans, Israels und der Vereinigten Staaten sich dafür entscheiden, auf einem halben Jahrhundert Strategiearbeit aufzubauen und eine ernsthafte Alternative zum Krieg zu entwickeln, werden sie mit Sicherheit an Vorbereitung und Training gewinnen und die Aufmerksamkeit der Pragmatiker:innen in ihren Gesellschaften auf sich ziehen.“

Der Fall Litauen bietet einige Anhaltspunkte für einen Weg nach vorn, aber auch eine Warnung. Nach der gewaltfreien Vertreibung des sowjetischen Militärs hat das Land einen Plan zur unbewaffneten Verteidigung aufgestellt. Es hat jedoch nicht vor, die militärische Verteidigung in den Hintergrund zu stellen oder abzuschaffen. Militarist:innen haben hart daran gearbeitet, die zivile Verteidigung als subsidiär zu militärischen Maßnahmen und zu deren Unterstützung darzustellen. Wir brauchen Nationen, die die unbewaffnete Verteidigung genauso ernst nehmen wie Litauen, und sogar noch viel ernster. Nationen ohne Militär – Costa Rica, Island usw. – könnten dies von der anderen Seite her angehen, indem sie stattdessen unbewaffnete Verteidigungsabteilungen aufbauen. Aber Nationen mit Militär und mit Militär- und Waffenindustrien, die den imperialen Mächten untergeordnet sind, werden die schwierigere Aufgabe haben, eine unbewaffnete Verteidigung zu entwickeln und gleichzeitig zu wissen, dass eine ehrliche Einschätzung die Abschaffung der militärischen Verteidigung erfordern könnte. Diese Aufgabe wird jedoch viel leichter sein, solange sich diese Nationen nicht im Krieg befinden.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Anita Köbler vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!