Jeden Tag registriert die Polizei in Deutschland einen Tötungsversuch an einer Frau oder einer queeren Person. Fast jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Expartners. Daher ist es schockierend, wie wenig in der deutschen Politik und den Medien eine ernsthafte Debatte über geschlechtsspezifische Gewalt geführt wird.

Editorial „Die Redaktion“

Erst 2018 ratifizierte Deutschland die Istanbul-Konvention, die diesen Typ von Gewalt als strukturelles Problem definiert. Darin werden auch Maßnahmen zur Prävention von Gewalt gegen FLINTA* (Frauen/Lesben/Intersex/Nichtbinär/Trans/Agender) benannt. Allerdings fehlt eine klare Strategie zur Umsetzung und damit auch ein wirkliches Bekenntnis zum Regelwerk.

Das Hauptaugenmerk der deutschen Regierung bei geschlechtsspezifischer Gewalt scheint auf der Außen- und Entwicklungspolitik zu liegen. So werden die Augen vor der Gewalt gegen Frauen im eigenen Land verschlossen und ein falsches Bild von Deutschland als fortschrittlicher Kraft vermittelt, die anderen bei der Lösung dieses Problems helfen kann. Dass wir in Deutschland überhaupt eine Debatte über Feminizide und ihre Ursachen anstoßen können, verdanken wir heute vor allem der analytischen Schlagkraft feministischer Bewegungen in Lateinamerika und einer transnationalen Vernetzung mit Feministi*nnen in anderen Ländern. Der Widerstand gegen Feminizide und Gewalt gegen FLINTA* sind bei Protesten von Mexiko-Stadt bis Buenos Aires der Kitt, der verschiedene Fraktionen feministischer Bewegungen miteinander verbindet. Die Anliegen innerhalb der Bewegungen sind durchaus unterschiedlich. Aber die geteilte Wut über patriarchale Gewalt und die Gewissheit, „wenn sie eine anfassen, fassen sie uns alle an“, wird immer wieder zum Katalysator für Massenproteste. „Niemals hätte ich erträumt, dass wir Frauen eine derartige Massenpräsenz in der Öffentlichkeit erreichen würden,“ sagt die Direktorin von Amnesty International in Mexiko, Edit Olivares Ferreto dazu.

Die sich organisierende Wut ist und bleibt entscheidend für die massiven und zugleich radikalen feministischen Proteste auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Die Wut über brutale Feminizide, die Wut über die Bedingungen, die diese Gewalt nicht nur ermöglichen, sondern sie auch noch straflos bleiben lassen. Dabei sind Feminizide das äußerste Ende eines breiten Spektrum von Gewalt gegen FLINTA*, das bei sexueller Belästigung beginnt und über Vergewaltigungen bis hin zum Mord reicht (LN Dossier Nr. 18). Dennoch ist es wichtig, nicht nur körperliche Gewalt und ihren extremsten Ausdruck im Feminizid zu thematisieren. Sondern auch strukturelle Gewalt, wie etwa die ungleiche Verteilung von Einkommen und Ressourcen, die alltäglich überall politisch hingenommen werden, nicht zu reden von festgefahrenen Geschlechterrollen. Diese Perspektive verdeutlicht, dass Gewalt gegen FLINTA* nicht eindimensional zu begreifen ist, sondern als Ausdruck einer kapitalistischen und patriarchalen Ordnung.

Eine zunehmende transnationale Vernetzung hat es in Deutschland ermöglicht, von den Genoss*innen aus Lateinamerika zu lernen und auch hier eine Diskussion um Feminizide anzustoßen. Durchaus notwendig bei mehr als 100 ermordeten Frauen jährlich. Obwohl Debatten um Feminizide in Deutschland immer noch ein Nischenthema sind, tut sich etwas. Es sind vor allem feministische Kollektive, die Fälle dokumentieren, systematisieren und so sichtbar machen. Insofern ist der 8. März, wie auch der 25. November, mehr als ein ritualisierter Erinnerungstag, sondern ein zentrales Datum des Widerstandes gegen patriarchale Gewalt. Die dadurch erzeugte Aufmerksamkeit trägt Früchte: In überregionalen Zeitungen ist der Begriff des Feminizids endlich zu lesen und auch Politiker*innen verwenden ihn. Nur so wird das Phänomen sichtbar und kann die Erzählung vom tragischen Einzelfall verdrängen. Inspiriert von Bewegungen wie „Ni Una Menos“ und zahlreichen weiteren feministischen Gruppen ist es gelungen, auch in Deutschland mit dem Konzept des Feminizids in Debatten um Gewalt gegen FLINTA* zu intervenieren.

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