Der Ukrainekrieg stand im vergangenen Jahr derart im Fokus, dass die circa 300 anderen Dispute, Krisen und Kriege auf diesem Planeten fast in Vergessenheit zu geraten schienen. Auch der seit 1882 gärende zunächst arabisch-jüdische, später palästinensisch-israelische Konflikt schwelt weiter – im 75. Jahr der Staatsgründung Israels mehr denn je.

von Johannes Zang

Bücher zu Israel und Palästina

Der Ukrainekrieg stand im vergangenen Jahr derart im Fokus, dass die circa 300 anderen Dispute, Krisen und Kriege auf diesem Planeten fast in Vergessenheit zu geraten schienen. Auch der seit 1882 gärende zunächst arabisch-jüdische, später palästinensisch-israelische Konflikt schwelt weiter – im 75. Jahr der Staatsgründung Israels mehr denn je. Das gerade zu Ende gegangene Jahr sah die höchste Zahl an getöteten Palästinensern im West-Jordanland und in Ost-Jerusalem seit 2004: Die meisten der 146 Getöteten, darunter 34 Kinder und Jugendliche, wurden von israelischen Soldaten oder Grenzpolizisten erschossen, einige nach angeblichen oder tatsächlichen Terrorattacken, manche nach einem Steinwurf; andere kamen durch Siedlerhand ums Leben oder erstickten an Tränengas. Zehn Israelis, mehrheitlich Zivilisten, wurden laut israelischer Menschenrechtsorganisation B´Tselem von Palästinensern im West-Jordanland 2022 getötet.

Für ein solides Urteil muss man sich die Wurzeln des Unfriedens und der Militärbesatzung ins Gedächtnis rufen. Da kommt die Neuauflage Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts gerade recht. Endete die vorangegangene Auflage 2017, skizziert die aktuelle, neunte und etwa 50 Seiten umfangreichere, die letzten fünf Jahre, liefert eine neue Karte und erweiterte Literatur- und Medienempfehlungen und listet erstmals deutsche politische Stiftungen in Israel/Palästina auf. Wieder wagt das deutsche Autorenduo am Ende einen Ausblick, nachdem es bilanziert hat: Seit bald neun Jahren haben keine formalen Verhandlungen zwischen den Kontrahenten stattgefunden. „Nicht Konfliktlösung, sondern lediglich Konfliktmanagement steht auf der politischen Tagesordnung“ beginnt das Schlusskapitel. Und es endet: „Das Dilemma wird bleiben, dass (…) Geduld ein schlechter Ratgeber ist, gleichwohl ein langer Atem gebraucht wird.“ Das gilt angesichts der kürzlich eingeschworenen neuen ultrarechts-religiösen Regierung Israels mehr denn je.

Um deren extremste Vertreter besser verstehen zu können, empfiehlt sich die Lektüre eines älteren, leider hochaktuellen Buches: Rabin – ein politischer Mord. Autor Kapeliuk schildert darin den Abend des 4. November 1995, der Israel in seinen Grundfesten erschüttert und bis heute verändert hat. Im Bus nach Tel Aviv traf der Attentäter Amir „einen jungen rechten Aktivisten. Dieser erzählte ihm, jemand von der faschistischen Kach-Bewegung beabsichtige, am gleichen Abend ein Attentat auf Rabin zu verüben. (…) Die Rede war von Itamar Ben-Gvir.“ Dieser, wegen Unterstützung einer Terrorgruppe, Rassismus und Hetze mehrfach vorbestraft, ist seit kurzem Minister für Nationale Sicherheit. Kaum im Amt, stieg der in einer Siedlung Lebende trotz Warnungen der Hamas auf den Tempelberg und hielt sich 13 Minuten auf dem für Christen, Juden und Muslime heiligen Ort auf – gerade für Letztere eine Provokation sondergleichen. Kapeliuks Buch, nach wie vor erhältlich, schildert eindrücklich, wes Geistes Kind die messianisch-gesinnten Siedler und das gesamte national-religiöse Lager sind; welche Mitverantwortung Netanyahu und Peres am Tod Rabins tragen und was im Friedensprozess versäumt wurde. „Die Zukunft wird zeigen, welchen Preis wir für diesen politischen Mord noch werden zahlen müssen“ lautet der Schlusssatz. Seitdem sind etwa 10.000 Menschen ums Leben gekommen, dabei circa siebenmal so viele Palästinenser wie Israelis.

Der Krieg in der Ukraine hat auch das ungleich schwerer betroffene palästinensische Gebiet – den Gaza-Streifen – aus dem Blickfeld verdrängt, trotz eines traurigen „Jubiläums“ im letzten Jahr: 15 Jahre Blockade durch Israel. Dem Lenos-Verlag ist es zu verdanken, dass die etwa zwei Millionen Palästinenser in diesem Küstenstreifen von der Größe Bremens nicht in Vergessenheit geraten. Diese, unter ihnen etwa 1.000 Christen, sind von der Außenwelt abgeschnitten, Landgrenzen, Küste und Luftraum kontrollieren Israel oder Ägypten, inklusive Reisen, Export und Import. Gaza lebt mit ständigen Stromausfällen, unsauberem Wasser, einer Arbeitslosigkeit von circa 50 Prozent und allgegenwärtiger Angst vor israelischen Militäroperationen. Eine Ahnung von dieser Verzweiflung, aber auch von Träumen und Sehnsüchten vermittelt das Buch We are not numbers (warum hat man das nicht übersetzt?). Von der US-amerikanischen Journalistin Pam Bailey initiiert, haben über 200 junge Gazaner mithilfe englischsprachiger Mentoren Texte verfasst. Knapp 20 von ihnen versammelt das Buch, das von Malak Mattar bebildert wurde. Ihre Gemälde hinterlassen einen traurig und niedergeschlagen. Hier wie auch bei Gedichten oder Erzählungen hätte man gerne etwas zur persönlichen Lage oder Motivation des Autors erfahren. „In diesem Verwunderland kann jeder Gang mein letzter sein, mein Leben in den Händen Israels“, teilt uns Basman Derawi mit. Als Leser solle man jedes Wort lesen, bittet die Initiatorin Bailey, die von israelischen Grenzern festgehalten, deportiert und mit einem zehnjährigen Einreiseverbot belegt wurde. „Werden Sie wütend. Weinen Sie. Lachen Sie zwischendurch. Das ist Gaza.“ Ihre Landsfrau Alice Rothchild, jüdische Ärztin und Friedensaktivistin, erklärt im Nachwort: „Das Projekt möchte das Gefängnis Gaza öffnen, die Belagerung mit Worten überwinden (…). Ich will, dass der Wind frei in alle Richtungen bläst – und lade Sie hiermit zum Handeln ein.“

Dass der Wind nicht nur wegen Besatzung und Blockade am Blasen gehindert wird, zeigt Keine Luft zum Atmen aus demselben Verlag. Darin schildert Asmaa al-Atawna ihre zweifache Flucht aus Gaza nach Spanien und von dort weiter nach Frankreich, auch wenn Vieles nur angedeutet wird. Doppelt marginalisiert ist sie im „Schwarzen Viertel“ in Gaza-Stadt aufgewachsen: als Beduinin und als Nachkomme von Heimatvertriebenen, die im Zuge der Staatsgründung Israels 1948 in Gaza strandeten. Während sie das Gefängnis der Besatzung nur beiläufig streift, wird das traumatisierende Gefängnis der eigenen vier Wände überdeutlich. Die Passagen über den „Terror“ des Vaters und damit des Patriarchats sind kaum auszuhalten: angespuckt, geschlagen, getreten oder an Haaren den Boden entlanggeschleift zu werden.

Ihre Sehnsucht nach Kultur und Literatur ist übergroß, eine Bibliothek „ist der siebte Himmel“ für sie. Doch erst in Spanien betritt sie zum ersten Mal im Leben ein Museum. Auch wenn es nur angedeutet wird, wird ihre islamkritische Sicht deutlich, „da ich selbst zu stark unter Heuchlern mit frommen Bärten gelitten habe.“ Nun, in Europa will die studierte Politologin und Experimentalfilmerin sich „von Lasten befreien“, die man ihr seit ihrer Kindheit aufgebürdet hat.

Das Buch hat Schwächen: ein Glossar mit zentralen Begriffen (z.B. UNRWA oder Hamas) fehlt, der Alltag unter Besatzung bleibt ebenso schwammig wie die doppelte Flucht und: Ist es ein Roman, wie man zur eigenen Überraschung im Nachwort erfährt? Das Verdienst dieser autobiographischen Erzählung ist: Dem Leser wird glasklar, dass selbst nach einem Ende von Besatzungsregime und Blockade keine heile Welt die junge Generation Gazas erwartet. Sondern innerpalästinensische Hausaufgaben um die Themen Patriarchat – Rolle der Frau – Konzept von Ehre und Schande – häusliche Gewalt.

Ein willkommener psychohygienischer Ausgleich zu vorgenannten Büchern ist Jerusalem Ecke Berlin, das der Historiker und Journalist Tom Segev aus Jerusalem kürzlich veröffentlicht hat. Auf über 400 Seiten blitzt das Schöne, Menschliche, Lustige, Skurrile, Absurde, Unerwartete und Heitere hervor, dass man trotz allen Unfriedens zwischen Mittelmeer und Jordanfluss vorfinden kann. So folgt man dem fließend deutsch sprechenden Autor durch die gut sieben Jahrzehnte seines Lebens, begleitet ihn ins Bauhaus Dessau (wo seine Eltern studierten und Einrichtungsgegenstände seiner Familie ausgestellt wurden), zu einem Interview mit Mutter Teresa in Indien oder nach Südafrika, wo er sich zum Versöhnungsprozess „Ubuntu“ informieren und sehen wollte, ob er „auch zur Lösung des Konflikts um Palästina beitragen könnte.“ Segev berichtet ehrlich von Kindheit und Jugend, von Begegnungen mit Franziskanern, Benediktinern, äthiopischen Juden und palästinensischen Muslimen. Schon als 12-Jähriger sammelte er Autogramme von „berühmten und hervorragenden“ Persönlichkeiten. Gewieft und einfallsreich, um seinem Ziel näherzukommen, schickte er einmal vor Knesset-Wahlen Parteivorsitzenden ihre Satzung zur Unterzeichnung, darunter Menachem Begin und David Ben Gurion. Mit Erfolg. Ebenso verfuhr er mit Politikern in den USA und Deutschland und erhielt Autogramme von Adenauer, Brandt, Strauß und – das sei die „größte Freude“ gewesen – von Erich Kästner; der habe sich „trotz des damals üblichen Boykotts gegen die deutsche Kultur großer Beliebtheit in Israel“ erfreut. Übrigens: Auch Pablo Picasso und Agatha Christie antworteten dem kleinen Segev, der 1945 als Thomas Schwerin in Jerusalem zur Welt kam. Allein das Hunderte von Namen umfassende Personenregister liest sich wie das Wer ist wer? der Weltgeschichte und reicht von König Abdallah über Beethoven und Helmut Kohl bis zu Frank Sinatra, Stalin und Clara Zetkin. Kurios: Kaiser Wilhelm II. wird öfter erwähnt als Shimon Peres oder Ariel Scharon.


Buchhinweise:

J. Böhme / Chr. Sterzing: Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts, 9., überarb., erw. u. akt. Auflage, Wochenschau Verlag 2022, 248 S.

Amnon Kapeliuk: Rabin – ein politischer Mord. Nationalismus und rechte Gewalt in Israel. Vorwort von Lea Rabin. Palmyra Heidelberg 1997, 228 S.

WE ARE NOT NUMBERS. Junge Stimmen aus Gaza: Lenos-Verlag 2019, 173 S.

Asmaa al-Atawna: Keine Luft zum Atmen. Mein Weg in die Freiheit. Lenos 2021, 172 S.

Tom Segev: Jerusalem Ecke Berlin. Erinnerungen. Siedler 2022, 411 S. 9.900 Zeichen