Mesut Bayraktar – Aydin. Erinnerung an ein verweigertes Leben: Der Roman erinnert an den die Lebensrealitäten von Arbeitsmigrant:innen unter Klassengewalt und Rassismus sowie an den Widerstand gegen herrschende Diskriminierungs- und Ausbeutungsverhältnisse. 

Von Berfe Budak (kritisch-lesen.de)

„Immer wenn ich an den Körper meines Vaters denke, kommt mir bis heute zuerst der Geruch in den Sinn. Dieser Geruch ist ölig, es ist der Geruch der Fabriken und Maschinen, ein Geruch, der sich wie eine zweite Haut auf den Körper meines Vaters gelegt hatte, als ich ihn nach seiner Nachtschicht in der kleinen Küche bei Morgendämmerung begrüßte.“ (S. 77 f.)

Ein Geruch, den auch ich kenne. Solche biografischen Anekdoten sind Erinnerungen, die sich in das Gedächtnis eines jeden (Gast-)Arbeiter:innenkindes eingeprägt haben, so auch in meines – als Enkelin von Arbeitsmigrant:innen und Tochter eines Facharbeiters. Mesut Bayraktar gelingt es in seinem Roman „Aydin – Erinnerung an ein verweigertes Leben“ nicht nur, die Geschichten seines Onkels auf Grundlage von Berichten und Beobachtungen wiederzugeben, sondern er erzählt auch über das Leben vieler Menschen dieser Gesellschaft, die unter Klassengewalt leiden.

Mit Äußerungen wie „Denke nie, dein Leben ist etwas Einzigartiges. Das ist es nicht“ (S. 13), macht Bayraktar auf geteilte Lebensgeschichten der Arbeitsmigrant:innen und ihrer Kinder aufmerksam, die aus Dörfern und Städten in der Türkei stammen. Es geht um zerrissene Familien oder den Wunsch nach besseren Lebensverhältnissen – und gleichzeitig um die Entmündigung und Entrechtung durch einen kapitalistischen Staat, der nur darauf aus ist, die Arbeitskraft junger Frauen und Männer zu verwerten.

Der Weg in die Zwänge und Ketten

Zu diesen jungen Menschen gehört auch Aydin, der 1982 mit 15 Jahren aus der Türkei nach Deutschland einreist, um die Sehnsucht nach seinem Vater zu stillen, ohne den er bis dahin aufgewachsen ist. Der Weg führt Aydin aber vor allem in die Zwänge und Ketten der deutschen Industrie. Die Anerkennung und Zuneigung, die er seinem Vater entgegenbringt, werden nicht erwidert, da sein Vater wegen der gebrochenen Bindung und der Härte des Lebens im Arbeitsexil nicht dazu fähig ist, Emotionen zu zeigen. Zudem konnte er durch die lange Trennung keine Erfahrungen im Umgang mit den eigenen Kindern machen. So wächst Aydin in der Obhut seines älteren Bruders auf: „Die Pubertät hatte er (…) übersprungen, nein, sie wurde ihm verwehrt“ (S. 47). Aydin beginnt nach seiner Schulpflicht, ohne eine Wahl gehabt zu haben, seine Arbeitskraft in einer Gürtelfabrik zu verkaufen. Lebenserfahrung sammelt er vor allem auf der Straße, durch Freund:innen, in der Disco und durch seine Liebe zu Britta. Neun Jahre lebt Aydin in Deutschland, neun Jahre, in der Rassismus und die Klassengewalt seinen Körper zeichnen. Neun Jahre, bis er, als sein Körper und Verstand nicht mehr genug verwertet werden können, vom deutschen Staat in die Türkei abgeschoben wird. Und auch dort, ausgelaugt und kaputt nach Jahren der Ausbeutung, kann er nicht mehr an vorherige Verbindungen anknüpfen.

Durch die persönlichen Gedanken Bayraktars, die mehrere Seiten füllen, ist es möglich, auch ihn als Autor näher kennenzulernen. Zeitgleich ist es ein Versuch, auf Kontinuitäten in unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen, die in Verbindung stehen mit Ausbeutung, Rassismus, Schmerz und Sehnsucht. Immer wieder zeigt Bayraktar die gesellschaftlichen Widersprüche auf, spricht von institutioneller Diskriminierung und verweist auf historische Ereignisse wie den Militärputsch 1973 in Chile, der eine sieben Jahre lange Militärdiktatur zur Folge hatte. Bayraktar mahnt mit Worten der Erinnerung an den Mord von Oury Jalloh im Jahr 2005, die NSU-Mordserie oder den rechten Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020. Als DNA des Rassismus bezeichnet er die kapitalistische Gesellschaft, die durch die bürgerliche Ideologie versucht, die Arbeitenden und die Gesellschaft zu spalten. Fragmente des persönlichen Gedenkens, verschüttete Erinnerungen, und Erinnern als politische Aktion, als Widerstand gegen Klassenabwertung und rassistische Zurichtungen werden dabei vom Autor immer wieder von neuem zusammengefügt.

Auch wenn im Roman öfter von „Leid“, den „Besiegten“ oder den „Geschlagenen“ gesprochen wird, handelt es sich dabei nicht um eine Viktimisierung von Menschen mit Migrationsgeschichte. Es wird im Gegenteil auf ihren Mut aufmerksam gemacht, gegen das ausbeuterische System das Leben in die Hand zu nehmen.

Erinnerung heißt, nach Veränderung zu streben

„Aydin“ erschien 2021, dem Jahr, in dem sich das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei zum 60. Mal jährte. Ein Grund zum Feiern? Nein – und dennoch: Zu feiern sind die geführten Kämpfe der Arbeitsmigrant:innen für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Ihr Widerstand gegen die herrschenden Diskriminierungs- und Ausbeutungsverhältnisse ist jener Teil der deutschen Arbeiter:innenbewegung, der häufig in Vergessenheit gerät. Das Erstreiten gleicher Rechte innerhalb der gesellschaftlichen, politisch-ökonomischen und sozialen Verhältnisse war ein bedeutsamer Motor für Veränderung: Errungenschaften wie die Veränderung des Betriebsverfassungsgesetzes vor 50 Jahren und das Erlangen des aktiven und passiven Wahlrechts und somit betrieblicher Mitbestimmung sind Rechte, die wir den Kämpfen von Arbeitsmigrant:innen zu verdanken haben. Auch wenn wir nie genau erfahren werden, ob und in welche Arbeitskämpfe Aydin involviert war, zeigt sein Leben, dass er auf individueller Ebene Widerstand leistete: Etwa, indem er nicht nur der „fleißige Arbeiter“ war, wie der deutsche Staat es haben wollte. Wie vielen anderen gelang es ihm dennoch nicht, den Widerstand politisch zu organisieren und er zerbrach an den Widersprüchen der herrschenden Gesellschaft.

Mesut Bayraktar verwendet eine ausdrucksvolle Sprache, die Emotionen und Verstand anspricht, und Leser:innen Teil der Geschichte werden lässt. Zugleich kommen die Kritik am herrschenden System sowie eine politische-ökonomische Einordnung der Verhältnisse und philosophische Gedanken nicht zu kurz. Bayraktar hat einen Roman geschaffen, in dem er Menschen eine Stimme gibt, die oft nicht gehört werden. Erinnern heißt, nach Veränderung zu streben: Das Vergangene in die Gegenwart zu holen, für die politischen Kämpfe von heute auf Spuren zu untersuchen. Der Roman leistet genau das.


Mesut Bayraktar – Aydin. Erinnerung an ein verweigertes Leben.
Unrast Verlag, 2021 – 148 Seite, 14 Euro.
ISBN: 978-3897716148

Mesut Bayraktar – Aydin. Erinnerung an ein verweigertes Leben (Unrast Verlag)

Dieser Beitrag wurde am 17.01.2022 auf kritisch-lesen.deKooperationspartner von Unsere Zeitung, unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE veröffentlicht. Diese Lizenz ermöglicht den Nutzer*innen eine Weiterverwendung, Vervielfältigung und Verbreitung der textlichen Inhalte unter Namensnennung der Urheberin/des Urhebers sowie unter gleichen Bedingungen zu nicht kommerziellen Zwecken.

 

 

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