Die G7 sollten aufhören, den Hunger zu fördern, und stattdessen die Bewegungen für Ernährungssouveränität und Agrarökologie unterstützen.

Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine werden die Schlagzeilen von der Warnung vor einer drohenden Nahrungsmittelkrise beherrscht. Laut Schlagzeilen machen Russland und die Ukraine 25 bis 30 Prozent des Welthandels mit Weizen und mehr als 50 Prozent des Handels mit Sonnenblumenöl, Samen und Mehl aus, so dass die aktuelle Invasion sowohl das globale Angebot an Grundnahrungsmitteln als auch die globalen Preise unter Druck setzt. In den Schlagzeilen und in den Nachrichten heißt es jetzt, dass die weltweite Nahrungsmittelversorgung zusammenbrechen werde, weil „Europas Kornkammer“ in absehbarer Zeit nicht mehr produzieren könne. Nach Angaben der FAO, der Weltbank und des Internationalen Expertengremiums für nachhaltige Ernährungssysteme (IPES) besteht jedoch derzeit keine Gefahr einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit. Das liegt an den weltweit überdurchschnittlich hohen Weizenvorräten und einem komfortablen Verhältnis zwischen Vorräten und Verbrauch. Nach Angaben des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums konnte das Land seine Ernte 2021/ 2022, die ebenfalls überdurchschnittlich hoch ausfiel, vor der Invasion ausliefern. Warum also sind so viele Länder jetzt mit einem erhöhten Risiko der Ernährungsunsicherheit und im schlimmsten Fall einer Hungersnot konfrontiert?

Ungeachtet des ausreichenden weltweiten Angebots erreichten die Lebensmittelpreise in der Woche vom 7. März 2022 den höchsten Preisanstieg in der Geschichte. Hunger und Lebensmittelpreise stiegen bereits während der COVID-Pandemie, aber seit der russischen Invasion haben die Finanzspekulationen auf dem Rohstoffmarkt stark zugenommen, da riesige Mengen an Kapital von Investmentfirmen verschoben werden, die auf Profit aus sind. Übermäßige Spekulation, höhere Preise für Rohstofftermingeschäfte und eine größere Volatilität auf dem Markt sind die Ursachen für die Krise. Das bedeutet größere Gewinne für Finanzakteure und große Agrarkonzerne, aber auch einen allgemeinen drastischen Anstieg der Lebensmittelpreise in der Welt.

Dr. Vandana Shiva, Präsidentin von Navdanya International, erklärt: „Jede Krise in der Geschichte wurde von den Weizenmonopolen genutzt, um ihre Profite und ihre Kontrolle zu erhöhen. Lebensmittel wurden zu einer Ware, zu einem Finanzwert gemacht. Das vom Finanzcasino erzeugte Finanz- und Geldwachstum führt nicht zu einem wirklichen Wachstum der Prozesse, die das Leben unterstützen und erhalten. Vielmehr hat die Deregulierung das globale Finanz- und Ernährungssystem destabilisiert. Sie hat Vermögensverwaltungsfonds wie Black Rock und Vanguard hervorgebracht. Indexmanagement-Fonds können Finanzen vermehren, aber keine Nahrungsmittel.

Was bei den meisten Diagnosen der aktuellen Ernährungskrise gründlich übersehen wird, ist die Tatsache, dass das Problem nicht im mangelnden Angebot oder in der fehlenden Marktintegration liegt, sondern in der Art und Weise, wie das Ernährungssystem um die Macht herum strukturiert ist.

Tatsache ist, dass die Welt schon lange vor dem aktuellen Konflikt mit einer Nahrungsmittel- und Unterernährungskrise zu kämpfen hatte. Von der Kolonialzeit, in der die Ausbeutung von Kleinbauern und -bäuerinnen begann, über die Grüne Revolution bis hin zur Konkretisierung des globalisierten Freihandelsregimes haben wir die vorsätzliche Zerstörung von Kleinbauern und -bäuerinnen und der Ernährungssouveränität zugunsten der Macht von Konzernen erlebt. Es ist daher kein Zufall, dass wir heute die dritte große Nahrungsmittelkrise in den letzten 15 Jahren erleben.

Darüber hinaus hat das globalisierte, industrialisierte Agrar- und Ernährungssystem selbst den Präzedenzfall für diese wiederholten Nahrungsmittel- und Hungerkrisen geschaffen, obwohl es immer wieder verkündet, dass es die beste Lösung für die globale Ernährungssicherheit sei. Eine Kombination aus historischen und aktuellen Bedingungen, die von der Agrarindustrie geschaffen wurden, hat ein starres, globalisiertes System geschaffen, das auf industrieller Landwirtschaft, Finanzialisierung und der Vorherrschaft von Konzernen basiert. Diese Einschränkungen in Kombination mit dem Versagen bei der Umgestaltung der Nahrungsmittelsysteme, der aktuellen Überspekulation und den Nachwirkungen der Pandemie treiben uns nun auf eine mögliche Hungersnot zu.

Das Schlimmste ist, dass internationale Institutionen, Regierungen und Unternehmen die aktuelle Krise – wie jede andere Krise – nutzen, um ihr gescheitertes Modell weiter zu betreiben und zu festigen, obwohl es offensichtlich nicht nachhaltig ist. In den Schlagzeilen und internationalen Reaktionen wimmelt es von falschen Lösungen und überflüssigen Rufen nach bereits gescheiterten Ansätzen. Dazu gehören der kollektive Aufruf, die Produktion um jeden Preis zu steigern, die Einführung eines weiteren, noch nicht getesteten GVO-Weizens, mehr synthetische Lebensmittel und eine größere Abhängigkeit von der Digitalisierung.

In Europa drängen nun einige auf die Deregulierung neuer GVOs und Pestizide als Lösung für die Nahrungsmittelkrise.

Jede Katastrophe wird von der GVO-Lobby ausgenutzt, die dasselbe Konglomerat vertritt, das auch giftige Agrochemikalien verkauft„, kommentiert Dr. Vandana Shiva. „Die europäischen Bürger:innen müssen sich erheben und ihre Freiheit, gentechnikfreie Lebensmittel zu essen, und ihr Recht auf Biosicherheit verteidigen. Sie müssen die Regierungen entlarven, die versuchen, den Krieg in der Ukraine zu nutzen, um ungetestete und unregulierte GVO auf die europäische Bevölkerung loszulassen.“

Heute erreichen wir eine Belastungsgrenze. Die derzeitige Preiskrise und die sich anbahnende Hungerkrise sind kein Symptom des Krieges, sondern eines Systems, das zu weit gegangen ist. Wenn wir in unserer derzeitigen Situation, in der sich mehrere Krisen überschneiden, diesen Weg weiter beschreiten, werden wir nur noch schlimmere globale Krisen verursachen. Stattdessen müssen wir auf den internationalen Konsens hören, der besagt, dass wir eine Alternative zur industriellen Landwirtschaft und dem groß angelegten Verteilungsmodell schaffen müssen.

Dr. Vandana Shiva erklärt: „Agrarökologie, die auf biologischer Vielfalt basiert, produziert mehr Lebensmittel, wenn man den Nährwert pro Hektar und nicht den Ertrag pro Hektar betrachtet. Das Nettoeinkommen der Bauern und Bäuerinnen ist höher, wenn sie Biodiversität für die lokale Lebensmittelwirtschaft anbauen, anstatt chemieintensive Monokulturen für die globalen Lieferketten zu produzieren. Biodiversität, chemiefreie und lokale Lebensmittel kommen den Landwirt:innen, dem Volk und der Erde zugute.“ Sie präsentiert uns eine echte Lösung für die derzeitige Nahrungsmittelkrise.

Die Agrarökologie steigert nicht nur das Einkommen der Landwirt:innen, sondern verbessert auch die Ernährung und die Gesundheit, während sie den Boden, das Wasser und die Artenvielfalt regeneriert und gleichzeitig den Klimawandel mildert und die Widerstandsfähigkeit erhöht. Wir brauchen radikale Strategien, die die Bedürfnisse der Menschen anerkennen, ihre Würde achten, die Natur respektieren, den Menschen über den Profit stellen, sich der Vereinnahmung durch Konzerne widersetzen und kollektiv auf ein faires und menschenwürdiges Ernährungssystem für alle hinarbeiten. Was wir brauchen, ist die Schaffung von lokalen Lebensmittelsystemen, Biodistrikten und sozialen und integrativen Wirtschaftsnetzwerken, die auf Wirtschaftsdemokratie basieren, einschließlich Bildungsprogramme und Bauernmärkte, um lokale Biolandwirt:innen mit der Gemeinschaft zu verbinden. Die Regierungen sowie regionale und internationale Institutionen müssen die Vorgehensweisen dieser Gruppierungen unterstützen, um die Lebensmittelsysteme der Konzerne durch Agrarökologie und Ernährungssouveränität zu transformieren.

Der russisch-ukrainische Konflikt hat wieder einmal deutlich gemacht, wie anfällig die globalisierten Lebensmittelsysteme sind und wie schnell sich Marktschwankungen nachteilig auf die Ärmsten auswirken. Das derzeitige globalisierte, industrielle Agrarnahrungsmittelsystem ist ein System, das planmäßig Hunger erzeugt.

Navdanya International
Our Bread, Our Freedom Campaign
info@navdanyainternational.org

Link zur Kampagne „Unser Brot, unsere Freiheit 2022“

 

Übersetzung aus dem Englischen von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!