Es ist etwas Seltsames passiert

„Etwas Seltsames ist passiert … In den letzten ein bis zwei Jahren hat sich etwas verändert.“ Wahrscheinlich hast du in letzter Zeit solche Sätze von anderen gehört. Wenn ich so drüber nachdenke, hast du dich in letzter Zeit wahrscheinlich sogar selbst diese Dinge denken und sagen hören. Und vielleicht hast du den leisen Verdacht, dass diese Gedanken und dieses Gefühl der Befremdlichkeit nicht nur ein Produkt der COVID-19-Pandemie sind.

Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten

Die gute Nachricht ist: Du bist überhaupt nicht verrückt, wenn du diese Dinge denkst und fühlst.

Die schlechte Nachricht ist: Du bist überhaupt nicht verrückt, wenn du diese Dinge denkst und fühlst.

Wir sind als Nation und als Weltwirtschaft in ein postkapitalistisches Zeitalter eingetreten. Was bedeutet das?

Der größte Geldsegen seit 72 Jahren

Bevor wir zum Kern der Sache kommen, hier ein paar wichtige Informationen aus aktuellen Wirtschaftsnachrichten: Laut dem aktuellen Market Watch Economic Report sind die US-Konzerngewinne im vergangenen Jahr um 25 % gestiegen und haben damit einen noch nie dagewesenen Höchststand erreicht.(1) In der Tat hat der reichste Teil der amerikanischen Gesellschaft laut der gestrigen Ausgabe von Bloomberg Business Week seit 72 Jahren keinen derartigen Geldsegen mehr erlebt.(2)

Nur die Hälfte der Geschichte

Unmittelbar neben diesen Berichten über noch nie dagewesene Profite von 0,01% der Bevölkerung gibt es Berichte über steigende Inflation und eine bevorstehende Rezession (für den Rest von uns), die die USA seit fast einem halben Jahrhundert nicht mehr erlebt haben. Manche sagen, dass diese „neue“ Phase des Abschwungs das Ergebnis der Einmischung der USA in den Ukraine-Russland-Konflikt ist. Das ist einfach nicht wahr. In Wirklichkeit häuften sich schon Monate vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine Berichte über einen bevorstehenden Anstieg der Inflationsraten und einen bevorstehenden Wirtschaftsabschwung.(3) Was dieses Mal (2021 – 2022) passiert ist, ist nicht nur eine Sache der Reichen, die auf Kosten aller anderen reicher werden. Wir sind in eine Ära eingetreten, in der diese alte Weisheit nur noch die Hälfte der Geschichte darstellt.

Wie ihr wohl wisst

Seit April 2009 klafft eine immer größere Lücke zwischen den Finanzmärkten und dem Rest der Wirtschaft. Diese Kluft entstand und vergrößerte sich, als die Zentralbanken und Regierungen auf der Ebene der G-20 beschlossen, riesige Geldmengen zu drucken, um die großen Finanzinstitute nach dem Wirtschaftscrash 2008 zu retten. Wie ihr wohl wisst, hatten viele dieser Institute fast ein Jahrzehnt lang große Summen von ihren Kunden gestohlen. Anstatt das frisch gedruckte Geld wieder in die Wirtschaft zu investieren, behielten die Chefs dieser riesigen Unternehmen das Geld für sich, indem sie ihre eigenen Aktien zurückkauften. Ironischerweise kauften diese großen Finanzinstitute die Aktien mit Geld zurück, das letztlich aus den Taschen der Steuerzahler kam, die von diesen Unternehmen bestohlen worden waren.

Wiederholen, wiederverwerten

Die gleiche Prozedur, frisch gedrucktes Geld an große Finanzinstitute zu verschenken, wurde in den letzten zwei Jahren als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie wiederholt. Und natürlich werden auch hier die monströsen Gewinne, die das direkte Ergebnis des Leids und des Unglücks großer Teile der Bevölkerung während der Pandemie waren, von genau der Bevölkerung mittels Inflation und Sparmaßnahmen subventioniert werden, die das Leid und das Unglück ertragen musste.

Der Unterschied dieses Mal

Der Unterschied diesmal, im Jahr 2022, ist, dass die Finanziers des Marktes sozusagen die Stratosphäre verlassen haben, während der Rest der Wirtschaft schrumpft. Die Kluft zwischen den Märkten und dem, was in der allgemeinen Wirtschaft passiert, ist zu einem Abgrund geworden. Wir sind in eine wirtschaftliche Phase eingetreten, die im wahrsten Sinne des Wortes auf Sozialismus für die extrem Reichen und ständig wachsende Sparmaßnahmen für die Vielen hinausläuft. Ich hatte diese Phase als umgekehrten Sozialismus bezeichnet, bis ich vor kurzem eine bessere Definition von dem griechischen Wirtschaftswissenschaftler Yanis Varoufakis hörte. Er nennt es Techno-Feudalismus.

Wir leben nicht mehr im Kapitalismus

Wir leben nicht mehr im Kapitalismus. Die letzten Überreste eines wettbewerbsorientierten Marktes sind so gut wie verschwunden. Was wir jetzt haben, ist eine sehr kleine Anzahl von Plattformunternehmen, die den Markt effektiv besitzen. Sie monopolisieren ihn nicht, sie besitzen ihn. Nimm zum Beispiel Amazon und Facebook. Varoufakis sagt: „Wenn du bei Amazon oder Facebook einsteigst, bist du nicht mehr im Kapitalismus, sondern in einer Art Sowjetregime, das einem einzigen Mann gehört. Währenddessen schrumpft der Rest der Marktwirtschaft – sie stagniert. Die Zentralbanken, die darum kämpfen, die allgemeine Wirtschaft am Leben zu erhalten, pumpen Geld hinein. Dieses Geld landet bei den großen Unternehmen, die bereits über Ersparnisse verfügen, die sie nicht investieren, weil die Kaufkraft der Bevölkerung aufgrund der Sparmaßnahmen gesunken ist. Und so verwenden die Finanziers der Unternehmen das Geld, um ihre eigenen Aktien zurückzukaufen. Das Ergebnis ist, dass es den Börsen in London, Frankfurt, New York usw. sehr gut geht, während der Rest der Bevölkerung leidet.“(4)

Was das alles mit unserer Demokratie macht

Man muss kein Wissenschaftler sein, um eine Verbindung zwischen diesen Vorgängen und dem herzustellen, was gerade mit unserer ohnehin schon fragilen Demokratie passiert. In den letzten Jahrzehnten haben wir so gut wie alles abgeschafft, was eine Handvoll reicher Finanziers daran hindern könnte, unsere wichtigsten Institutionen zu übernehmen. Wir haben unser Bankensystem und unsere Medien dereguliert und jede ernsthafte Einschränkung der Wahlkampffinanzierung abgeschafft.

Wenn eine Handvoll exorbitant reicher, ungehemmter Menschen die Bedingungen für alle wichtigen Aspekte einer Gesellschaft diktiert, auch wer die notwendigen Spenden erhält, um für Regierungsämter zu kandidieren, dann haben wir es nicht mehr mit einer wachsenden Demokratie zu tun, sondern mit einer wachsenden Oligarchie. Wenn du glaubst, es sei übertrieben, die USA als Oligarchie zu bezeichnen, dann musst du es mit der New York Times und dem Business Insider aufnehmen – beide haben Artikel veröffentlicht, in denen bestätigt wird, dass wir nicht mehr in einem wirklich demokratischen Staat leben.(5)

Der seltsam hoffnungsvolle Aspekt all dessen

Der seltsam hoffnungsvolle Aspekt an der ganzen Sache ist, krass gesagt, dass so ziemlich alle zu begreifen beginnen, dass wir auf keinen Fall so weitermachen können wie bisher. Auch wenn sie es noch nicht in Worte fassen können, auch wenn sie sich über die Details nicht im Klaren sind, FÜHLEN immer mehr Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft und aus allen Einkommensschichten, dass an unserer Lebensweise, an unseren Überzeugungen und an unserer kollektiven Vorstellung davon, was es bedeutet, ein Mensch auf diesem Planeten namens Erde zu sein, etwas grundlegend kaputt ist.

Ja, die Welt fühlt sich im Moment seltsam und manchmal beängstigend an, aber das liegt daran, dass wir noch nicht aus unserer Isolation ausgebrochen sind. Wir sind noch nicht aus einem Glaubenssystem ausgebrochen, das uns vorgaukelt, wir selbst, jede und jeder von uns, seien das Problem. Der Glaube, wir seien es, die sich weiter anstrengen müssen, um die nötige Punktzahl zu erreichen – um würdig zu sein, in einer Welt mit den 0,01% der Bevölkerung zu leben, die wirklich zählen.

Eine Phase der kollektiven Erkenntnis

Die Phase der kollektiven Bewusstwerdung wird irgendwann kommen. Wir sehen bereits erste Anzeichen dafür, wie z. B. das enorme Wiederaufleben der Gewerkschaften in den letzten 18 Monaten.(6) Wir dürfen nicht vergessen, dass sich vor elf Jahren innerhalb weniger Monate eine weltweite Bewegung von Millionen Menschen gebildet hat. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in einem digitalen Zeitalter leben, das sich exponentiell verändert, und nicht in einem analogen Zeitalter, das sich schrittweise verändert. Wir dürfen uns nicht unterschätzen. Es kann fast alles passieren.

Übersetzung aus dem Englischen von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


Quellen:

(1) https://www.marketwatch.com/story/u-s-corporate-profits-jump-25-in-2021-as-economy-rebounds-from-pandemic-11648644379
(2) https://www.bloomberg.com/news/articles/2022-03-30/2021-was-best-year-for-u-s-
(3) https://www.cnbc.com/2022/02/10/january-2022-cpi-inflation-corporation-profits-since-1950rises-7point5percent-over-the-past-year-even-more-than-expected.html
(4) https://www.youtube.com/watch?v=_jW0xUmUaUc&t=337s
(5) https://www.businessinsider.com/major-study-finds-that-the-us-is-an-oligarchy-2014-4
(6) https://prismreports.org/2022/02/09/unionization-efforts-arent-stopping-as-the-pandemic-wears-on/.