Hilfe für Flüchtlinge wird in der EU mit harten Strafen bedroht. Wer hingegen Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen bei illegalen Pushbacks auf unbewohnten Inseln aussetzt, geht straflos aus.

Lebensrettende Hilfe für Flüchtlinge wird in der EU mit einem Vierteljahrhundert Haft bedroht. Am heutigen Donnerstag beginnt auf der griechischen Insel Lesbos ein Prozess gegen zwei Flüchtlingshelfer, denen wegen ihrer Hilfstätigkeit unter anderem „Menschenschmuggel“ und „Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung“ vorgeworfen wird. Das Strafmaß: bis zu 25 Jahre Haft. Dabei handelt es sich keineswegs um einen Einzelfall: Amnesty International hat bereits im vergangenen Jahr dokumentiert, dass in zahlreichen Ländern Europas vermutlich Hunderte verfolgt werden, weil sie Flüchtlinge unterstützen. In Deutschland wurde kürzlich ein Pfarrer zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, weil er einem von Abschiebung bedrohten Iraner Kirchenasyl gewährt hatte. Gleichzeitig gehen Grenzbeamte, die an den Außengrenzen der EU völkerrechtswidrige Pushbacks durchführen – nicht nur in Polen und Litauen, auch in Griechenland sowie in diversen anderen Ländern -, straflos aus. Bei Pushbacks etwa aus Griechenland werden immer wieder Flüchtlinge auf unbewohnten Inseln oder in motorlosen Schlauchbooten ausgesetzt.

In den Grenzfluss gestoßen

Völkerrechtswidrige Pushbacks aus Griechenland in die Türkei werden seit Jahren regelmäßig durchgeführt. Bereits 2014 veröffentlichte die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl einen detaillierten Bericht, in dem sie Pushbacks sowohl an der Land- wie auch an der Seegrenze zwischen den zwei Staaten dokumentierte. Sie schätzte die Zahl der betroffenen Flüchtlinge damals auf 2.000.[1] Pushbacks an der Landgrenze, die über weite Strecken durch den Grenzfluss Evros festgelegt ist, hat zuletzt Amnesty International umfassend untersucht. Demnach konnten allein von Juni bis Dezember 2020 zahlreiche Fälle belegt werden, von denen laut Schätzung der Organisation rund 1.000 Menschen betroffen waren. Griechische Grenzbeamte, aber auch nicht identifizierbare Personen in ziviler Kleidung misshandelten Flüchtlinge dabei mit Tritten sowie Faust- und Stockschlägen; in einigen Fällen müsse ihr Vorgehen gar als Folter klassifiziert werden, berichtet Amnesty.[2] Mindestens ein Flüchtling, der nicht schwimmen konnte, wurde in den Grenzfluss gestoßen und trieb flussabwärts; ob er überlebt hat, ist unbekannt. Abgeschoben wurden sogar offiziell registrierte Asylbewerber, die von 700 Kilometer entfernten Orten an die Grenze verschleppt, ihrer Papiere beraubt und über den Grenzfluss gezwungen wurden.

Auf einem Schlauchboot ausgesetzt

Pushbacks werden seit geraumer Zeit auch an der griechisch-türkischen Seegrenze dokumentiert – teils sogar von der EU-Grenzbehörde Frontex. So hielten Frontex-Beamte bereits im vergangenen Jahr fest, wie die griechische Küstenwache in der Nacht vom 18. auf den 19. April 2020 rund 30 Flüchtlinge auf einem Schlauchboot vor Lesbos aufgriff, sie dann zunächst auf ein Schiff der Küstenwache, anschließend auf ein anderes Schlauchboot ohne Motor verfrachtete – und dieses in türkische Gewässer schleppte, wo die Flüchtlinge schließlich hilflos im Meer trieben, bis sie die türkische Küstenwache aufnahm. Gelegentlich sind Frontex-Beamte auch selbst in Pushbacks involviert (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Erst vor kurzem wurde der bisher wohl größte Versuch eines völkerrechtswidrigen Pushbacks dokumentiert. Dabei griff die griechische Küstenwache südlich von Kreta – in Sichtweite der Küste – ein in Seenot geratenes Schiff mit 328 Flüchtlingen auf, schleppte es aber nicht auf die griechische Mittelmeerinsel, sondern in Richtung Türkei. Der Versuch, die türkische Küstenwache zu einer Übernahme des Schiffs zu veranlassen, scheiterte jedoch; die Flüchtlinge wurden daher in ein stacheldrahtumzäuntes Lager auf der griechischen Insel Kos gebracht.[4]

Die Türkei als „sicherer Drittstaat“

Die Mehrzahl von ihnen könnte allerdings umgehend ohne weitere Prüfung ihres Asylbegehrens in die Türkei abgeschoben werden oder schon dorthin abgeschoben worden sein. Wie berichtet wird, stammten allein 252 der 328 Flüchtlinge aus Pakistan und aus Bangladesch.[5] Für Flüchtlinge aus diesen beiden Ländern sowie aus Afghanistan, Syrien und Somalia wird die Türkei laut einem Beschluss der griechischen Regierung vom 7. Juni 2021 offiziell als „sicherer Drittstaat“ eingestuft. Das wird nicht nur deswegen scharf kritisiert, weil sich die Menschenrechtslage in der Türkei seit Jahren dramatisch verschlechtert, sondern auch, weil Ankara die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit Bezug auf Flüchtlinge aus Europa unterzeichnet hat. Gut zwei Drittel aller Asylsuchenden in Griechenland kommen aus einem der fünf genannten Staaten. Der rückwirkend geltende Beschluss vom 7. Juni gestattet es den griechischen Behörden daher prinzipiell, den überwiegenden Teil der Flüchtlinge aus dem Land zu werfen. Dabei seien die EU und ihre anderen Mitgliedstaaten faktisch Komplizen, urteilt die Anwältin Yiota Massouridou von der Hilfsorganisation Refugee Support Aegean: „Griechenland nimmt die heiße Kartoffel, die alle anderen fallen lassen, in die Hand – und die EU und ihre Mitglieder sind froh darüber.“[6]

Ein Vierteljahrhundert Haft

Die eklatanten Menschenrechtsverletzungen – nicht nur [7], aber auch – an der griechischen EU-Außengrenze gehen mit zunehmender Repression gegen Einzelpersonen und Hilfsorganisationen einher, die Flüchtlingen humanitäre Hilfe leisten. Am heutigen Donnerstag begann auf der griechischen Insel Lesbos ein Prozess gegen den 27-jährigen Seán Binder und die 26-jährige Sarah Mardini, die ab 2017 ehrenamtlich für eine Hilfsorganisation auf Lesbos tätig waren. Sie hielten dort, teilt Amnesty International mit, „Ausschau nach Flüchtlingsbooten und halfen den Menschen, sicher an Land zu kommen.“[8] Für ihre lebensrettenden Aktivitäten wurden sie unter anderem wegen „Menschenschmuggels“, „Betrugs“ sowie „Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung“ angeklagt. Im Fall einer Verurteilung drohen ihnen bis zu 25 Jahren Haft. Juristen stufen den Prozess als Farce ein und weisen darauf hin, dass sich die griechischen Behörden mindestens im Fall von Seán Binder gravierender Verstöße gegen internationale Menschenrechtsnormen schuldig gemacht haben. Beobachter urteilen, das Gerichtsverfahren solle vor allem abschreckend wirken; tatsächlich hätten mittlerweile „hunderte Freiwillige“ Griechenland verlassen – aus Furcht, sie könnten ebenfalls mit Prozessen überzogen werden.[9]

Eine Bedrohung der „Nationalen Sicherheit“

Amnesty International hat bereits im vergangenen Jahr eine Untersuchung vorgelegt, die belegt, dass der aktuelle Prozess kein Einzelfall ist – im Gegenteil. Demnach wurden Einzelpersonen und Organisationen, „die Flüchtlingen und Migranten halfen“, mit ungerechtfertigten polizeilichen Untersuchungen überzogen, eingeschüchtert, belästigt und in ihren Aktivitäten eingeschränkt.[10] Als Beispiele listet Amnesty Fälle in Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kroatien, Malta, der Schweiz und Spanien auf. Einer Studie zufolge seien für Flüchtlingshilfe in Europa allein von 2015 bis 2018 mindestens 16 Hilfsorganisationen und 158 Einzelpersonen juristisch belangt worden, teilt Amnesty mit; es komme eine erhebliche Dunkelziffer hinzu. Die staatliche Repression richte sich dabei gegen Personen, die mit der Rettung und der Versorgung von Flüchtlingen und mit der Dokumentation staatlicher Menschenrechtsverletzungen wie Pushbacks „die Grausamkeit der Migrationspolitik offengelegt haben“. „Akte der Humanität“ würden dabei „als Bedrohung der nationalen Sicherheit“ eingestuft.

Bewährungsstrafe für Kirchenasyl

Das trifft auch auf Deutschland zu, wenngleich die Bundesrepublik aufgrund ihrer geografischen Lage in der Mitte des Kontinents bei der Flüchtlingsabwehr nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Erst vor wenigen Tagen wurde der Pfarrer der evangelisch-methodistischen Kirche im bayerischen Pegnitz, Stefan Schörk, zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren und zur Zahlung von 1.500 Euro verurteilt, weil er einem jungen Iraner zehn Tage lang Kirchenasyl gewährt hatte, um ihn vor einer Abschiebung nach Griechenland zu schützen. Dort sind Flüchtlinge nicht nur von willkürlichen Pushbacks bedroht; sie müssen auch unter katastrophalen Bedingungen leben. So haben in Griechenland, wie die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl konstatiert, „in den vergangenen Monaten tausende Geflüchtete ihr Obdach verloren“ und sind „auf Almosen angewiesen“.[11]

 

[1] Pro Asyl: Pushed Back. Systematische Menschenrechtsverletzungen an den griechisch-türkischen See- und Landgrenzen. Frankfurt am Main, August 2014. S. auch Der Tod der Genfer Flüchtlingskonvention.

[2] Greece: Pushbacks and violence against refugees and migrants are de facto border policy. amnesty.org 23.06.2021.

[3] S. dazu Der permanente Völkerrechtsbruch.

[4], [5] Helena Smith: Greece accused of ‚biggest pushback in years‘ of stricken refugee ship. theguardian.com 05.11.2021.

[6] „Brandgefährlich für die Rechtsstaatlichkeit in Europa“. proasyl.de 22.10.2021.

[7] S. dazu Flüchtlingssterben im Niemandsland (III).

[8] Prozessbeginn in Griechenland: Sarah Mardini und Seán Binder sind angeklagt, weil sie Leben retteten. amnesty.at 15.11.2021.

[9] Helena Smith: On trial for saving lives: the young refugee activist facing a Greek court. theguardian.com 14.11.2021.

[10] Amnesty International: Punishing Compassion. Solidarity on Trial in Fortress Europe. London 2020.

[11] Kirchenasyl: Solidarität mit Pfarrer Schörk – PRO ASYL fordert: Humanitäre Handlungen nicht länger kriminalisieren. proasyl.de 12.11.2021.

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