Helmut Ortner plädiert für zivilisierten Streit – nicht nur in diesen Corona-Zeiten. Denn eine offene Gesellschaft braucht Gegenrede und Widerstreit. Sein neues Buch möchte er als Streitschrift gegen jede Form der Demokratie-Verachtung verstanden wissen.

Interview: Ann-Luise Treibjahn

Ihr neues Buch »Widerstreit« liest sich wie ein Plädoyer für eine vielstimmige Streitkultur. Wird derzeit nicht schon genug gestritten im Land?

Helmut Ortner: Keineswegs. Streit ist der Sauerstoff für unsere Demokratie. Man könnte auch sagen: die Bereitschaft zum Streiten ist „systemrelevant«. Dies gilt besonders in Zeiten, wo die Pandemie das ganze Land in Griff hat. Politische Entscheidungen müssen von der Mehrheit unterstützt werden, aber Minderheiten müssen gehört werden. Sie müssen sich in den Entscheidungen wieder finden können. Es muss diskutiert und gestritten werden. Das ist die Grunderkenntnis von Demokratie.

Wann aber wird aus einem konstruktiven Streit eine aggressive Abgrenzung, die nicht zusammenführt, sondern spaltet?

Helmut Ortner: Die Corona-Pandemie wirkt wie ein Brennglas für gesellschaftliche Missstände und Defizite. Und da gibt es derzeit nun wirklich viel zu diskutieren. Vieles von dem, was wir jetzt erleben, was in unserem Land nicht funktioniert, hat auch mit der Frage zu tun: Wer hat dieses Land eigentlich die letzten 16 Jahre regiert? Politik- und Verwaltungs-Versagen sind vielfältig spürbar, noch nie haben so viele Menschen den politischen Entscheidungs- und Funktionsträgern ihre Loyalität aufgekündigt. Viele misstrauen dem Staat und seinen Institutionen. Unsere Demokratie steht auf dem Prüfstand. Klar ist: unsere Grundrechte stehen zur Disposition. Was folgt nach den Ausgangssperren? Nein, Politik muss mehr sein als Abwehrkampf gegen den Virus. Mehr als Ausgangssperren Es braucht Strategien über den Tag hinaus, eine Antwort auf die Frage: Wie wollen wir als offene Gesellschaft mit der Pandemie leben? Darüber muss und soll gestritten werden…

Streit um die beste Lösung ja… Aber nicht allein in digitalen Foren wird gehetzt und polarisiert. Aggression und Hass statt Argument und Austausch. Einige wittern sogar eine Meinungs-Diktatur…

Helmut Ortner: Nein, es gibt keinen Plan zur Abschaffung der Demokratie durch eine “Merkel-Diktatur« oder andere böse Kräfte… In Krisenzeiten grassiert nicht nur eine Realitätsverleugnung, sondern es kursieren wahnhafte Verschwörungstheorien – ­ nicht nur in digitalen Echo-Räumen. Extremismus kann sich hier ungestört entfalten. Kein guter Zustand. Demokratie aber braucht Vertrauen, das ist die tragende Währung. Mangelt es daran, schafft es ein Klima des Misstrauens, der Angst, der Aggression. Mit anderen Worten: es braucht den offenen, zivilisierten Streit. Ich sehe ihn nirgendwo eingeschränkt, man muss sich nur daran beteiligen wollen…

Eine andere, meinetwegen auch abwegige Meinung lautstark zu äußern, ist hierzulande nicht gefährlich. Es eignet sich nicht als heroische Geste. Wer sich bei uns das Etikett eines »Quer-Denkers« anheftet, muss keinen Mut aufbringen. Und wer von Meinungs-Diktatur schwafelt, weiß nicht, was Diktatur ist …

In ihrem Buch geht es nicht allein um die aktuelle Corona-Debatte. Es ist auch eine Bestandaufnahme historischer Beispiele von unterlassenem Widerstand und Widerstreit – ­gegen politischen Fanatismus und religiösen Wahn, gegen Gesichtsvergessenheit und Populismus …

Helmut Ortner: Die Corona-Debatte überdeckt ja vieles, was aktuell “streit-würdig“ wäre: die katastrophale Klimapolitik unserer Regierung, der beschämende Umgang mit der Flüchtlings-Wirklichkeit, bis hinein in die verbrecherischen Missbrauch-Verbrechen der katholische Kirche… Kurzum: an Anlässen für Widerstreit besteht kein Mangel…. Im meinem Buch beschreibe ich anhand historischer und aktueller Beispiele, wohin jede Form von Konformismus und Gleichförmigkeit führen können. Sie sind Gift für die Demokratie.

Sie plädieren nicht nur für die unbedingte Verteidigung freier Meinungsäußerung, sondern auch für die Pflicht des Widerstreits als Grundelement der Demokratie…

Helmut Ortner: Auch unsere Geschichte kennt totalitäre Epochen. Hier gab es keine eigene, widerspenstige Meinung – sondern nur Denken und Reden im Gleichschritt. Das Besondere an der Demokratie ist, dass sie nicht das „totale Wir” anstrebt. Zweifel, Aufbegehren, Widerstand sind keine Untugenden in einer freien Gesellschaft, sondern deren Grundlage. Demokratie bedeutet immer Pluralität. Demokratie ist Differenz, Divergenz und Dissidenz. Hannah Arendts Diktum, das es „kein Recht zu gehorchen“ gibt… findet sich auf den ersten Seiten meines Buches. Es hat bis heute Gültigkeit.

»Konformismus und Gleichförmigkeit sind Gift für die Demokratie.«

Helmut Ortner – WIDERSTREIT. Über Macht, Wahn und Widerstand
Nomen Verlag, Frankfurt – 254 Seiten, 20 Euro
ISBN: 9783939816805

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