Mit einem eigenen Vorstoß zur angeblichen Versorgung ärmerer Länder mit Covid-19-Impfstoffen bremst die EU die Forderung nach einer Aussetzung der Impfstoffpatente aus. Der Vorstoß, der am Freitag offiziell der WTO unterbreitet wurde und dort diese Woche diskutiert werden soll, schlägt neben der Aufhebung von Exportbeschränkungen vor allem den Aufbau einer Lizenzproduktion von Vakzinen in Schwellen- und Entwicklungsländern vor.

Freilich tun das Unternehmen aus Großbritannien, China und Russland längst; nur Firmen aus der EU weigern sich bisher – aus Sorge um ihre Profite. Eine Freigabe der Patente verweigert die Union; entsprechend heißt es aus der südafrikanischen WTO-Mission, ihr Vorschlag sei „heiße Luft“. Der indische WTO-Botschafter schätzt die Zahl der Menschenleben, die die EU-Blockade inzwischen gekostet hat, auf zwei Millionen. Nach wie vor beliefern Unternehmen aus der EU vorwiegend reiche Länder mit Vakzinen und versorgen weniger Menschen in ärmeren Ländern, als es Unternehmen aus Indien (67 Millionen Impfdosen) und aus China (bis Mai mindestens 278 Millionen Impfdosen) tun.

Der Vorstoß der EU

Der Vorschlag zur Versorgung ärmerer Länder mit Covid-19-Impfstoffen, den die EU am Freitag der WTO vorgelegt hat, sieht erstens vor, „die Anwendung von Ausfuhrbeschränkungen“ von Impfstoffen und Vorprodukten „zu begrenzen und Lieferketten offen zu halten“.[1] Dies zielt vor allem auf die USA, die mit Exportrestriktionen die Vakzinproduktion in anderen Ländern, zum Beispiel in Indien, behindert haben. Freilich stünde es der EU jederzeit frei, ihre eigenen Maßnahmen zur Ausfuhrkontrolle, die sie zu Jahresbeginn verhängt hat [2] und die ebenfalls ein Produktionshindernis darstellen, eigenständig aufzuheben. Zweitens fordert die EU die großen Impfstoffhersteller auf, die Lizenzproduktion ihrer Vakzine in Ländern jenseits der reichen westlichen Welt zu ermöglichen. Drittens sucht Brüssel die Forderung, die Patente für Covid-19-Impfstoffe zumindest zeitweise auszusetzen, mit dem Argument zu entkräften, dies sei schon mit den geltenden WTO-Regeln möglich. Diese ermöglichen es Regierungen in der Tat, in Notlagen Zwangslizenzen zu vergeben. Kritiker weisen allerdings darauf hin, die Regeln dazu seien so schwerfällig, dass sie Zwangslizenzen faktisch unwirksam machten. Zudem umfassten sie längst nicht alle zur Lizenzproduktion benötigten Formen geistigen Eigentums.[3]

Lizenzproduktion in ärmeren Ländern

Die zweite Forderung der EU, Vakzine verstärkt in Schwellen- und Entwicklungsländern in Lizenz produzieren zu lassen, mutet recht eigentümlich an, da Unternehmen mit Sitz außerhalb der Union dies schon längst tun. So wird etwa der Impfstoff von AstraZeneca (Cambridge/Großbritannien) unter anderem in Indien (Serum Institute of India/SII) sowie in Brasilien (Fundação Oswaldo Cruz/Fiocruz) hergestellt. Sinovac (Beijing) hat bereits im vergangenen Jahr begonnen, eine Lizenzproduktion in Brasilien (Instituto Butantan) aufzubauen und das indonesische Unternehmen Bio Farma in die Herstellung seines Vakzins einzubinden; zudem hat Sinovac weitere Lizenzen etwa an Unternehmen aus Ägypten und der Türkei vergeben. CanSino (Tianjin) führt Teile seiner Produktion unter anderem in Mexiko durch. Sinopharm (Shanghai) wiederum hat der Group 42 aus Abu Dhabi (Vereinigte Arabische Emirate) die Lizenz zur Impfstoffherstellung übertragen und will helfen, das Unternehmen zur regionalen Produktions- und Verteilzentrale für Covid-19-Vakzine auszubauen.[4] Das Gamaleya Institute (Moskau) hat Lizenzen an Unternehmen etwa aus Indien, Serbien sowie Argentinien vergeben. Dabei handelt es sich nur um Beispiele; die Tätigkeit der genannten Unternehmen in Schwellen- und Entwicklungsländern reicht weit darüber hinaus.

Die „Solidarität“ der EU

Ähnlich verhält es sich mit der irreführenden Behauptung, die EU habe, wie beispielsweise Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Ende vergangener Woche behauptete, „seit Beginn der Pandemie aktiv Solidarität mit der Welt gezeigt“ und „etwa die Hälfte der Gesamtmenge der in Europa hergestellten Impfstoffe exportiert“.[5] Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erklärte gleichfalls zum Wochenende: „Die Europäische Union hilft gerade, die Welt zu impfen.“[6] Die Aussage irritiert. Zwar hat die EU laut Angaben des Europaparlaments bis zum 30. Mai nicht nur 260 Millionen Impfdosen unter ihren Mitgliedern verteilt, sondern auch 226 Millionen exportiert.[7] Jedoch handelt es sich dabei weitgehend um Lieferungen an wohlhabende Länder. Während andere Unternehmen, etwa AstraZeneca, ihre auswärtigen Kunden über den Aufbau regionaler Produktionsstandorte beliefern, ist dies etwa bei BioNTech/Pfizer bisher nicht der Fall; stattdessen exportieren sie gewinnbringend von Standorten in der EU. Nach EU-Angaben gingen von den 178 Millionen Impfdosen, die bis zum 8. Mai ausgeführt wurden, 72 Millionen nach Japan, 18,6 Millionen nach Großbritannien, 18,4 Millionen nach Kanada, zudem sieben Millionen nach Saudi-Arabien, je fünf Millionen in die Schweiz und die Türkei, je drei Millionen nach Singapur und Südkorea.[8] Lieferungen an ärmere Länder fallen bisher kaum ins Gewicht.

Die Hauptlieferanten

Die Hauptlast bei der Versorgung der Schwellen- und Entwicklungsländer tragen bisher, ähnlich wie beim Aufbau einer dortigen Lizenzproduktion, andere. So hat etwa Indien mehr Impfdosen in ärmere Länder geliefert als die EU – mehr als 67 Millionen -, bis es von der zweiten Welle der Pandemie überrollt wurde und die Ausfuhr zugunsten der Versorgung seiner eigenen Bevölkerung einstellen musste. Aufgrund dieses Exportstopps sieht sich New Delhi jetzt mit Drohungen aus der EU konfrontiert: Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte kürzlich mit Blick darauf, dass Indien schon seit Jahren zahlreiche Medikamente nach Europa liefert, man habe das Land „überhaupt nur zu einem so großen Pharmaproduzenten werden lassen in der Erwartung, dass Zusagen auch eingehalten werden“; sollte dies aktuell „nicht der Fall sein, werden wir umdenken müssen.“[9] Während Washington die Ausfuhr von 80 Millionen AstraZeneca-Dosen angekündigt hat – teils in reiche Länder -, die im eigenen Land nicht benötigt werden, hat China bis Ende Mai mindestens 278 Millionen Impfdosen in Schwellen- und Entwicklungsländer geliefert und die Ausfuhr von mehr als 450 Millionen weiteren Impfdosen zugesagt.[10] Russland verfügt über geringere Produktionskapazitäten, hatte aber Mitte Mai von 33 Millionen hergestellten Dosen Sputnik V bereits 15 Millionen in fast ausschließlich ärmere Länder exportiert.[11]

BioNTechs globale Präsenz

Mit Blick darauf, dass vor allem China, in gewissem Maß auch Russland eine zentrale Rolle in der Versorgung der Schwellen- und Entwicklungsländer mit Covid-19-Impfstoffen übernehmen, sehen sich die westlichen Mächte genötigt, ihre eigenen Aktivitäten zwecks Vermeidung weiterer Einflussverluste zu steigern. Entsprechende Forderungen werden vor dem G7-Gipfel Ende dieser Woche laut. Berlin und Paris haben zudem angekündigt, afrikanische Produktionsstandorte für Vakzine zu errichten: „Wir wollen möglichst schnell allen in ganz Afrika Zugang zu den Impfstoffen ermöglichen“, äußert Gesundheitsminister Spahn und stellt dafür 50 Millionen Euro in Aussicht.[12] Details der Initiative sind unklar; Hauptlieferant und tragende Kräfte beim Aufbau afrikanischer Produktionsstandorte sind zur Zeit China und Russland. Der deutsche BioNTech-Konzern dagegen, der allein im ersten Quartal 2021 einen Reingewinn von 1,13 Milliarden Euro erzielt hat, setzt forciert auf die eigene Expansion in profitable Märkte.[13] Anstatt ungenutzte Fabriken andernorts zu befähigen, schnell Covid-19-Vakzine herzustellen, will BioNTech mehrere hundert Millionen Euro – einen Teil seines bisherigen Pandemieprofits – investieren, um einen Standort in Singapur zu errichten. Die Fabrik wird zwar frühestens 2023 den Betrieb aufnehmen – zu spät, um in der akuten Pandemiephase zu helfen -, ist laut Firmenchef Uğur Şahin aber „ein wichtiger strategischer Schritt für den Ausbau unserer globalen Präsenz“.[14] In Gefahr geriete der Plan allenfalls bei einer globalen Freigabe der Impfstoffpatente.

[1] EU schlägt entschlossene, multilaterale handelspolitische Reaktion auf die Covid-19-Pandemie vor. ec.europa.eu 04.06.2021.
[2] S. dazu Impfstoff-Exporthindernisse in der Pandemie.
[3] Saeed Shah, Gabriele Steinhauser: Europe Pushes Alternative to Waiving Patents on Covid-19 Vaccines. wsj.com 03.06.2021.
[4] Ramola Talwar Badam: China looks to deepen vaccine cooperation with UAE. thenationalnews.com 03.06.2021.
[5] EU schlägt entschlossene, multilaterale handelspolitische Reaktion auf die Covid-19-Pandemie vor. ec.europa.eu 04.06.2021.
[6] USA haben 300 Millionen Impfdosen verabreicht. sueddeutsche.de 05.06.2021.
[7] Motion for a resolution on meeting the global COVID-19 challenge: effects of the waiver of the WTO TRIPS Agreement on COVID-19 vaccines, treatment, equipment and increasing production and manufacturing capacity in developing countries. europarl.europa.eu 02.06.2021.
[8] S. dazu Globale Impfstoffrivalitäten.
[9] Moritz Koch, Mathias Peer: Patentstreit belastet die neue Partnerschaft zwischen Europa und Indien. handelsblatt.com 09.05.2021.
[10] China COVID-19 Vaccine Tracker. bridgebeijing.com 31.05.2021.
[11] Georgi Kantchev: Russia Struggles to Meet Demand for Its Covid-19 Vaccine. wsj.com 14.05.2021.
[12] Claudia Bröll: Spahn auf Mission in Afrika. Frankfurter Allgemeine Zeitung 31.05.2021.
[13] S. dazu Die Pandemie als Chance.
[14] Siegfried Hofmann: Biontech baut mRNA-Produktionsstätte in Singapur. handelsblatt.com 10.05.2021.