Der Wald ist lichter geworden, die Debatte darüber leiser. Das scheint paradox. Ein Rückblick und der Versuch einer Erklärung.

Hanspeter Guggenbühl für die Online-Zeitung INFOsperber

Red. Unter dem Titel «Mehr Schäden im Schweizer Wald als während des ‘Waldsterbens’» berichtete Infosperber am 26. Oktober, wie sich der Zustand des Schweizer Waldes langfristig veränderte. Den Fokus richtete der Autor dort auf die jüngste Entwicklung, die der extrem trockenen und heissen Vegetationsperiode im Jahr 2018 folgte. Im heutigen Artikel schaut der Schreibende zurück auf die alarmierenden Berichte in den 1980er-Jahren, und er analysiert die sich wandelnden Erkenntnisse über die Ursachen und Folgen der Waldschäden.

Zwischen der aktuellen Corona-Epidemie und den Waldschäden seit den 1980er-Jahren gibt es eine Reihe von Parallelen:

– Beide Themen alarmierten und dominier(t)en während längerer Zeit die öffentliche und politische Debatte. Die Corona-Epidemie tut das intensiv seit acht Monaten, das sogenannte «Waldsterben» beschäftigte die Gesellschaft und Politik, wenn auch weniger intensiv, ab 1983 während mehreren Jahren.

– Beide Themen nähren sich aus Daten, deren Aussagekraft heute in Frage gestellt wird: Die Zahl der positiv auf Covid-19 getesteten Personen bestimmt den Alarmpegel bei Corona, der Anteil der zu mehr als 25 Prozent verlichteten Bäume jenen der Waldschäden.

– Bei beiden Themen wechselten Dramatisierung und Beschwichtigung kurzzeitig.

– Beide Themen spalten Politik und Gesellschaft in Alarmierende und Verharmlosende. Beim Wald wandelte sich die anfängliche Angst vor einem grossflächigen Absterben zum Hohn über die «Waldsterbens-Lüge».

– Bei beiden Themen ging die Zunahme an Wissen einher mit einer zunehmenden Ungewissheit.

Das Paradox und der Versuch einer Erklärung

Das Paradoxe beim Thema Wald: Obwohl die Schweizer Waldbäume heute im Schnitt kahler sind als während des Höhepunkts der «Waldsterbens»-Debatte, berichten die Medien nur noch spärlich darüber. Und trotz mehr Wissen wagen sich die Interpreten der Waldschäden heute weniger weit auf die Äste hinaus.

Das erste Paradox lässt sich erklären. Aufmerksamkeit erhalten Dinge, die sich verändern. Wenn ein Problem klein ist, aber schnell stark zunimmt wie etwa der Anteil der zu einem Viertel verlichteten Bäume in den 1980er-Jahren, gibt die Abweichung mehr zu reden, als wenn das Problem langfristig unverändert gross bleibt. Das zweite Paradox erkannte schon Sokrates. Je mehr wir forschen oder nachdenken, desto detaillierter erkennen wir, was wir nicht wissen. Das gilt in besonderem Mass, wenn wir die vielfältigen Wirkungen einer Mischung aus verschiedenen Giften auf ein komplexes Ökosystem wie den Wald erkennen wollen.

Die Entwicklung und Diagnose der Waldschäden

Blenden wir zurück: Der Wandel vom Normal- zum Alarmzustand im Schweizer Wald verlief zu Beginn der 1980er-Jahre ziemlich rasant. Das illustrieren zwei Zitate aus dem Kanton Zürich: «Der Gesundheitszustand der Wälder hat sich nach Beobachtungen der Forstorgane gegenüber früher nicht verschlechtert», beruhigte der Zürcher Regierungsrat noch im Februar 1982. Nur anderthalb Jahre später, im August 1983, berichtete ein Sprecher des Zürcher Oberforstamtes: «Wir stehen vor einem gehäuften Sterben von Einzelbäumen.»

Auch in der übrigen Schweiz beobachteten Förster und Forstwissenschaft eine starke Zunahme der Waldschäden. Erhebungen ab 1983 über den Blatt- und Nadelverlust in den Baumkronen, die ab 1985 mit dem nationalen Sanasilva-Inventar systematisiert wurden, bestätigen ihren Befund: Der Anteil der Bäume, die eine Kronenverlichtung von 25 und mehr Prozent aufwiesen, stieg von 8 Prozent im Jahr 1983 auf den Höchststand von 30 Prozent im Jahr 2000 und stabilisierte sich – bei jährlichen Schwankungen – seither auf diesem höheren Niveau. Bäume mit einem Verlichtungsgrad von 25 bis 60 Prozent wurden damals als «mittelstark geschädigt» taxiert. Die Grafiken, die diese Entwicklung ab 1985 zeigen, finden Sie am Schluss dieses Artikels

Von der Alarmierung zur Entwarnung

Die starke Zunahme der verlichteten Bäume alarmierte Förster, Umweltschützerinnen sowie Waldforscher und verleitete sie anfänglich zu voreiligen Diagnosen und schwarzen Prognosen. Beispiel: Der damalige Direktor der Eidgenössischen Waldforschungs-Anstalt (heute WSL), Walter Bosshard, diagnostizierte 1984 und 1985 in mehreren Vorträgen und Aufsätzen, die «primäre Ursache der neuartigen Waldschäden» sei die grossräumige Luftverschmutzung. Falls es nicht gelinge, diese Verschmutzung schnell und massiv zu reduzieren, so prognostizierte Bosshard, dürfte der «Zerfall der Wälder» ein Vorgang sein, «dessen zeitlicher Ablauf nach Jahren und nicht nach Jahrzehnten bemessen sein wird». Ähnlich düstere Prognosen hatten zuvor schon die deutschen Forscher Bernhard Ulrich und Peter Schütt aufgestellt.

Einige Wälder sind tatsächlich gestorben. Davon zeugten Bilder und Berichte etwa aus dem Erzgebirge an der deutsch-tschechischen Grenze. Dort pufften zu DDR-Zeiten Kraftwerke und Industrie riesige Mengen an Schwefeldioxid in die Luft, erzeugten damit sauren Regen und verursachten nachgewiesenermassen die Zerstörung der umliegenden Wälder. Doch das angekündigte grossflächige «Waldsterben» fand nicht statt, weder in der Schweiz noch im übrigen Europa. Das gab jenen Auftrieb, welche die Besorgten der «Waldsterbens-Lüge» bezichtigten.

Ein direkter Zusammenhang zwischen grossräumiger Luftverschmutzung und grossflächigen Waldschäden liess sich nie belegen. Zudem hatte die Luftverschmutzung in der Schweiz gegen Ende der 1980er-Jahre ihren Höhepunkt überschritten und nahm dank strengeren Emissionsvorschriften und Filtertechniken danach wieder ab. Zugespitzt lässt sich sagen: Der «Waldsterbens-Lüge» ist es mit zu verdanken, dass unsere Lungen reinere Luft atmen können.

Erkenntnisse nach 15 Jahren Forschung relativiert

In einer «Zwischenbilanz nach 15 Jahren Waldschadenforschung» relativierte 1998 auch die Forschungsanstalt WSL die früheren Warnungen mit folgenden zusammenfassenden Worten: «Schadstoffeinträge stellen ein Langzeitrisiko für den Schweizer Wald dar; es gibt aber keine Anzeigen dafür, dass er in seiner Existenz unmittelbar bedroht wäre.»

Gleichzeitig stufte dieser WSL-Bericht die Aussagekraft der von der WSL seit 1985 jährlich veröffentlichten Resultate der Sanasilva-Inventare herab: «Die Kronenverlichtung (Ergänzung hpg.: bereits ab 25%) ist nur beschränkt als Indikator für die Vitalität der Bäume geeignet (…) Was die beobachtete Zunahme der Kronenverlichtung bedeutet, ist deshalb schwierig zu beurteilen. Möglicherweise ist diese Zunahme ein Zeichen von zunehmendem Stress.»

Am indirekten Risiko, das die Luftverschmutzung darstellt, hielt die WSL hingegen fest: «Das von Luftschadstoffen ausgehende Langzeitrisiko besteht darin, dass Säure- und Stickstoffeinträge zu Bodenversauerung, Nährstoffauswaschung und Nährstoff-Ungleichgewichten führen.» Einen Zusammenhang zwischen zu hohem Stickstoffeintrag in die Böden, daraus resultierendem Phosphormangel und starker Verlichtung (über 60%) der Baumkronen bestätigen auch neuere Forschungsergebnisse.

Nach der Wald- die Klimadebatte

Ab Ende der 1980er-Jahre und vor allem nach der Jahrtausendwende schwand das Interesse am Zustand des Waldes. Das lag daran, dass die Sanasilva-Daten über die Verlichtung der Bäume, die weiterhin, aber auf weniger Flächen erhoben wurden, ab 2000 ziemlich stabil blieben (siehe Grafik am Schluss dieses Artikels). Zudem verminderte sich dank Filtertechniken die Konzentration von Giftstoffen wie Schwefeldioxid, Stickoxiden und Ozon in der Luft weiter.

Im Unterschied dazu nimmt der Ausstoss von Treibhausgasen (CO2, Methan, u.a.) weiter zu, und die grosse Menge dieser klimawirksamen Gase lässt sich in der Atmosphäre weniger leicht herausfiltern als die erwähnten Giftstoffe an den Auspuffrohren. In der Umweltdebatte verdrängte damit das Thema Klimaerwärmung die Themen Luftverschmutzung und Waldschäden. Doch jetzt zeigen neuere Untersuchungen, dass sich Klimaschwankungen – insbesondere extreme Trockenheitsperioden, Hitze und heftige Stürme – zunehmend negativ auch auf den Wald auswirken.

Trockenheit und Hitze verdrängen Buchen und Fichten

Davon zeugt insbesondere die starke Zunahme der stark geschädigten Buchen und Fichten (Verlichtungsgrad ab 60%) in den Jahren 2019 und 2020 im Schweizer Wald (mehr darüber im Infosperber-Bericht vom 26. Oktober). Dazu nochmals die Folgerung der WSL-Forscher Andreas Rigling und Manfred Stähli: «Wir müssen davon ausgehen, dass das kombinierte Auftreten von Trockenheit, Stürmen, Krankheiten und Schädlingen innert kurzer Zeit ganze Landschaften massiv verändern kann und unter anderem auch das Paradigma der stabilen Buchenmischwälder infrage stellt.»

Ob und wie stark sich diese Wetterextreme häufen, werden wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erfahren. Doch solange will die Forstwirtschaft nicht zuwarten: Waldbesitzer und Försterinnen haben bereits damit begonnen, absterbende Fichten und Buchenbestände zu ersetzen durch Bäume, die Hitze und Trockenheit besser aushalten, zum Beispiel durch Eichen.

Eine – vorsichtige – Prognose lässt sich damit aufstellen: Der Schweizer Wald als Ganzes wird auch in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten kaum sterben. Aber der Mix an Bäumen und damit das Erscheinungsbild der hiesigen Wälder wird sich stark verändern.

Anhang: Grafiken

Starke Zunahme von 1985 bis 2000: Entwicklung der Kronenverlichtung ab 25% (blau, Skala links) und der Sterberate (rot, Skala rechts) im Schweizer Wald von 1985 bis 2008

Quelle: WSL/Sanasiva-Inventar

Stabilisierung: Entwicklung der Kronenverlichtung von Laub- und Nadelbäumen ab 25% im Schweizer Wald von 2000 bis 2019