Die chilenische Generalstaatsanwaltschaft muss sicherstellen, dass gegen eine Reihe von Polizeikommandanten eine Strafuntersuchung wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen an Demonstrierenden eingeleitet wird. Das fordert Amnesty International in einem Bericht zum ersten Jahrestag der Massenproteste in Chile.

Zu den mutmasslich Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen gehört der Präsident der Nationalpolizei (Carabineros de Chile), der stellvertretende Polizeipräsident und der Leiter des Bereichs Öffentliche Ordnung und Sicherheit ebenso wie gewisse Einsatzleitende im Grossraum Santiago de Chile.

In dem Bericht «Ojos sobre Chile – Violencia policial y responsabilidad de mando durante el estallido social» (PDF, spanisch) analysiert Amnesty International das Vorgehen der Nationalpolizei zwischen dem 18. Oktober und 30. November 2019. Die Organisation kommt zum Schluss, dass auf breiter Ebene schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Demonstrierende begangen wurden. Die die verantwortlichen Führungskräfte tolerierten diese und taten nichts, um sie zu verhindern.

Auflösung der Proteste um jeden Preis

«Die strategische Einsatzleitung der Nationalpolizei liess Folter und andere Misshandlungen an Demonstrierenden zu, da sie diese als notwendiges Übel betrachtete, um die Menschenmenge um jeden Preis auseinanderzutreiben. Durch stillschweigende Befehle oder absichtliche Unterlassungen leisteten sie schweren Fällen Vorschub, wie denjenigen von Gustavo Catica oder Fabiola Campillai, die aufgrund von Schüssen aus nächster Nähe erblindeten»

«Die strategische Einsatzleitung der Nationalpolizei liess Folter und andere Misshandlungen an Demonstrierenden zu, da sie diese als notwendiges Übel betrachtete.»

Erika Guevara-Rosas, Direktorin der Region Amerikas bei Amnesty International

Die strategische Einsatzleitung der Polizei hätte die Menschenrechtsverletzungen zu verschiedenen Zeitpunkten beenden können. Die Untersuchung von Amnesty International deckt eine Serie von Unterlassungen entlang der Befehlskette auf. Sie zeigt, dass es sich bei den Gewalttaten nicht um Einzelfälle handelt, die von Polizisten in Eigeninitiative begangen wurden, sondern dass diese wahrscheinlich deshalb verübt wurden, weil die Polizei die Proteste um jeden Preis unterbinden wollte.

Amnesty International führte mit Hilfe von Ermittlungs- und Gerichtsakten sowie Interviews mit Betroffenen und Behörden – darunter auch mit für die Ermittlungen zuständigen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte –  Untersuchungen zu Verstössen gegen das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit durch. Zusätzlich analysierte die Menschenrechtsorganisation mehr als 200 Videos-Clips und stellte 14 formelle Anfragen an mehrere Ministerien.

Der Bericht zeigt, dass es Grund zu der Annahme gibt, dass zumindest der Polizeipräsident, der stellvertretende Polizeipräsident und die Leitung des Bereichs Öffentliche Ordnung und Sicherheit der Nationalpolizei von den Menschenrechtsverletzungen gewusst haben. Amnesty International ist zudem der Ansicht, dass die verantwortlichen Polizeikommandanten anders gehandelt hätten, wenn die Regierung von Präsident Sebastián Piñera eine angemessene Kontrolle ausgeübt hätte.

Umfassende Polizeireform notwendig

Für die Ereignisse in der Zeitspanne, die Amnesty International untersucht hat, wurden nahezu keine disziplinarischen Sanktionen verhängt, obwohl im Büro der Staatsanwaltschaft mehr als 4000 Anzeigen über Verstösse der Nationalpolizei eingingen. Bei nur 16 der 170 Sanktionen, die im Juli 2020 durch die Polizei angekündigt wurden, handelte es sich um Amtsenthebungen.

«Polizeibeamte unterdrückten die Proteste, indem sie unter Verstoss gegen internationale Standards hochgefährliche, sich breitflächig verteilende Munition abfeuerten. Statt diese Gummi- und Metallgeschosse beim Einsatz gegen Demonstrierende zu verbieten, liess man deren unkontrollierten Einsatz zu. Dies geschah teils mit der Absicht, Protestierende zu verletzen, oder im Wissen, dass dies eine wahrscheinliche Folge wäre», kommentiert Erika Guevara-Rosas. Allein im Monat Oktober haben Polizeibeamte über 104’000 dieser Geschosse abgefeuert und dabei täglich Demonstrierende schwer verletzt.

Exzessive Gewaltanwendung und deren Duldung und die Straffreiheit bei Menschenrechtsverletzungen, die durch die Nationalpolizei begangen werden, gibt es nicht erst seit den Ereignissen im Oktober 2019, sondern sind Teil eines langjährigen Musters. Es braucht eine gründliche strukturelle Reform der chilenischen Polizei. Unabhängige Stellen müssen die Kontrolle der Polizei wirksam sicherstellen und der Straflosigkeit ein Ende setzen.

Der Originalartikel kann hier besucht werden