Mehrheit der Flüchtlinge in Griechenland ist von Kriegsschauplätzen westlicher Staaten geflohen. US-Studie schlägt Wiedergutmachung für sie vor.

Die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge in Griechenland, darunter diejenigen auf den Ägäisinseln, sind von Kriegsschauplätzen westlicher Mächte geflohen, werden aber von Deutschland und der EU ausgesperrt. Mehr als drei Fünftel aller Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr in Griechenland registriert wurden, stammen aus vier Ländern, in denen die Bundeswehr operiert (Afghanistan, Irak, Syrien) oder die Vereinigten Staaten Drohnenangriffe durchführen (Pakistan). Auf Lesbos sind insbesondere Flüchtlinge vom Hindukusch präsent. Dies entspricht den Resultaten einer aktuellen, an einer US-Elitehochschule (Brown University) erstellten Studie, der zufolge die Kriege der USA und ihrer Verbündeten, darunter Deutschland, in den vergangenen zwei Jahrzehnten mindestens 37 Millionen Menschen auf die Flucht getrieben haben. Nur der Zweite Weltkrieg hat mehr Flüchtlinge produziert als sie. Berlin und Brüssel stellen hohe Summen zur Verfügung, um die Grenzen gegen unerwünscht Einreisende abzuschotten. Das Zugeständnis, zu dem sich Berlin nach dem Brand im Lager Moria bereit findet: die Aufnahme von nicht mehr als 1.700 Menschen.

Das „Costs of War Project“

Den Anteil, den die Kriege der westlichen Mächte an der aktuellen globalen Massenflucht haben, hat zuletzt das „Costs of War Project“ analysiert, das das Watson Institute for International and Public Affairs an der Brown University (Providence/Rhode Island), einer der acht „Ivy League“-Elitehochschulen der Vereinigten Staaten, seit dem Jahr 2010 unterhält. Das Projekt, getragen von insgesamt rund 50 Experten, erforscht systematisch die Schäden, die US-Kriege in aller Welt seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verursacht haben – von der Zahl der Toten über die Zerstörung der betroffenen Gesellschaften bis hin zu den Auswirkungen, die die ungebrochene Kriegspolitik auf das Innere der kriegführenden Staaten hat. Vergangene Woche haben Mitarbeiter des Projekts eine Studie publiziert, die sich allein der Frage widmet, wie viele Menschen die US-Kriege seit 2001 auf die Flucht getrieben haben.[1] Die Resultate der Studie betreffen auch die Berliner Politik, da Deutschland an zahlreichen US-Kriegen auf die eine oder andere Art beteiligt war und ist.

Vor westlichen Kriegen geflohen

Im Mittelpunkt der Studie stehen acht Länder, in denen die USA entweder die maßgebliche (Irak 2003) oder eine unter mehreren führenden Kriegsparteien (Afghanistan, Libyen) waren bzw. sind – oder in denen sie mit Drohnenangriffen bzw. mit dem Bereitstellen notwendiger Aufklärungsdaten (Somalia, Jemen) zumindest eine tragende Rolle innehaben.[2] Das „Costs of War Project“ weist ausdrücklich darauf hin, dass es bei der Zählung der Flüchtlinge vorsichtige Schätzungen wählt; in seine Statistik über afghanische Flüchtlinge in Pakistan gehen beispielsweise nur Flüchtlinge ein, die offiziell als solche registriert wurden, nicht aber die unregistrierten Flüchtlinge, deren Zahl in Pakistan 2015 auf 1,3 Millionen geschätzt wurde. In Syrien haben die Autoren der Studie lediglich Flüchtlinge aus denjenigen fünf Gouvernements aufgenommen, in denen US-Militärs ab 2014 im Rahmen des Kriegs gegen den IS operierten. Selbst bei dieser – definitiv zu niedrig angesetzten – Zählweise ergibt sich, dass in den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten 37 Millionen Menschen in den acht analysierten Ländern auf die Flucht getrieben wurden; tatsächlich könnte die Zahl sogar bei bis zu 59 Millionen liegen. Hinzu kommen zahllose weitere Flüchtlinge – in Ländern wie Mali, Burkina Faso oder Niger, in denen ebenfalls US-Truppen operieren. Zwar sind gut 25 Millionen mittlerweile in ihre Herkunftsorte zurückgekehrt; dies ist aber in zahlreichen Fällen nicht freiwillig geschehen, etwa durch Abschiebung oder Vertreibung, und zudem herrscht in den Herkunftsorten oft immer noch Elend, Hunger und Krieg.

Fast so viel wie im Zweiten Weltkrieg

Um die Fluchtsituation zu verdeutlichen und eine Einschätzung des Geschehens zu erleichtern, weist die Studie zunächst darauf hin, dass allein in fünf Herkunftsstaaten – Afghanistan, Pakistan, Irak, Syrien, Jemen – bei Kampfhandlungen, erneut vorsichtig geschätzt, rund 800.000 Menschen ums Leben gekommen sind; rechnet man die Opfer direkter Kriegsfolgen wie Unterernährung oder Krankheiten ein, kommt man auf mindestens drei Millionen, vielleicht sogar eine zweistellige Millionenzahl an Kriegstoten. In Afghanistan sind seit 2001 26 Prozent der Vorkriegsbevölkerung auf die Flucht getrieben worden, im Irak und in Syrien jeweils 37 Prozent, in Somalia sogar 46 Prozent. Schon in der vorsichtigen Schätzung des „Costs of War Project“, die von gut 37 Millionen Flüchtlingen ausgeht, haben die US-Kriege seit 2001 zusammengenommen inzwischen ein Niveau erreicht, das die Flüchtlingsströme des Ersten Weltkriegs (zehn Millionen), des Vietnamkriegs (13 Millionen) und der von Massengewalt begleiteten „Teilung“ Indiens im Jahr 1947 (14 Millionen) bei weitem übersteigt; lediglich der Zweite Weltkrieg zwang mehr Menschen als die Kriege seit 2001 auf die Flucht. In diese ist Deutschland überwiegend involviert: als Kriegsteilnehmer, etwa in Afghanistan sowie im Krieg gegen den IS in Syrien und im Irak; mit dem Stellen von Personal in NATO-Stäben wie 2011 in Libyen; als Standort für US-Basen, die zum Transport von Truppen und Material oder für die Durchführung von Drohnenoperationen (US-Basis Ramstein [3]) genutzt werden.

Ein Prozent der Weltbevölkerung

Dass die westlichen Mächte mit ihren globalen Kriegen und Militäroperationen einen großen Teil der weltweiten Flüchtlingsströme verursachen, zeigt auch ein Blick auf die aktuelle Statistik des UN-Flüchtlingshilfswerks. Laut Angaben des UNHCR ist weiterhin Syrien das Land, aus dem die höchste Zahl an Menschen ins Ausland geflohen ist – rund 6,6 Millionen; Afghanistan befindet sich mit 2,7 Millionen Flüchtlingen auf Rang drei. Zählt man Asylsuchende sowie Binnenvertriebene hinzu, sind insgesamt beinahe 13,5 Millionen Syrer und rund sechs Millionen Afghanen betroffen, zudem 2,5 Millionen Iraker, 3,6 Millionen Somalier, knapp 3,8 Millionen Jemeniten. Insgesamt ist die Zahl der Menschen weltweit, die sich innerhalb oder außerhalb ihres Herkunftslandes auf der Flucht befinden, im vergangenen Jahr auf 79,5 Millionen Menschen gestiegen – fast so viel wie die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik bzw. gut ein Prozent der Weltbevölkerung.[4] Weiterhin hat die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge in Entwicklungsländern Zuflucht gefunden – 85 Prozent; 80 Prozent aller Flüchtlinge halten sich in Ländern auf, in denen eine sichere Versorgung mit Nahrung nicht sicher gewährleistet ist. Auch unter denjenigen, die über Griechenland nach Europa zu fliehen suchen, sind Menschen aus Staaten in der Mehrheit, in denen der Westen Kriege führt: Nach Angaben des Greek Council for Refugees kamen von den 77.287 Menschen, die vergangenes Jahr in Griechenland um Flüchtlingsschutz nachsuchten, 23.828 aus Afghanistan, 10.856 aus Syrien, 7,140 aus Pakistan und 5.738 aus dem Irak; die übrigen verteilten sich in geringerer Zahl auf andere Länder.[5]

Die Legitimität von Kriegen

Mit Blick auf die Faktenlage urteilen die Autoren der „Costs of War“-Studie: „Die Legitimität und die Effizienz von Kriegen sollte nach fast zwei Jahrzehnten desaströser Ergebnisse mehr denn je in Frage gestellt werden.“[6] Zudem müsse man die Frage aufwerfen, „welche Schritte“ die für die Kriege verantwortlichen Staaten unternähmen, um „den Schaden wiedergutzumachen“, den sie den mindestens 37 Millionen Flüchtlingen zugefügt hätten. Die Antwort, die Deutschland und die EU mit Blick auf die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln geben, spricht eine deutliche Sprache. So wurden nach dem Brand im Lager Moria lediglich unbegleitete Kinder und Jugendliche auf das griechische Festland gebracht; für die anderen über 12.000 Flüchtlinge auf Lesbos wird – mit EU-Geldern – ein neues Lager gebaut. Die Bundesregierung hat sich bereit erklärt, neben 150 unbegleiteten Minderjährigen gerade einmal 408 Familien – 1.553 Menschen – in Deutschland Zuflucht zu gewähren, freilich nur solchen, deren Flüchtlingsstatus bereits anerkannt ist; mehr ist nicht geplant. An Geld mangelt es nicht: Die EU stellt gleichzeitig immense Summen bereit, um weitere Menschen, die von den Kriegsschauplätzen auch europäischer Staaten fliehen, an der Einreise zu hindern; allein der Etat für die Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex ist von 2015 bis zum Jahr 2020 auf mehr als das Dreifache gesteigert worden – von 140 Millionen auf 460 Millionen Euro.

Bitte beachten Sie unsere Video-Kolumne: EU – eine „Werteunion“?

[1] Zitate hier und im Folgenden: David Vine, Cala Coffman, Katalina Khoury, Madison Lovasz, Helen Bush, Rachel Leduc, Jennifer Walkup: Creating Refugees: Displacement Caused by the United States‘ Post-9/11 Wars. Providence, 08.09.2020.

[2] Bei den acht Ländern handelt es sich um Afghanistan, Pakistan, Irak, Syrien, Libyen, Jemen, Somalia und die Philippinen, Letzteres wegen der US-Beteiligung an der Aufstandsbekämpfung im Süden der Philippinen, vor allem auf Mindanao.

[3] S. dazu Drohnenmorde vor Gericht.

[4] UNHCR: Global Trends. Forced Displacement in 2019. unhcr.org 2020.

[5] Statistics: Greece. asylumineurope.org.

[6] David Vine, Cala Coffman, Katalina Khoury, Madison Lovasz, Helen Bush, Rachel Leduc, Jennifer Walkup: Creating Refugees: Displacement Caused by the United States‘ Post-9/11 Wars. Providence, 08.09.2020.

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