(Santiago, 15. Juni 2020, ANRed).- Mit ihrem Erlass vom 15. Juni hat die Regierung Piñera die Aktivitäten alternativer Medien und kritischer Reporter*innen massiv beschränkt. Der Beschluss wird als direkter Angriff auf die unabhängige Presse gewertet. Diese hatte seit dem Ausbruch der sozialen Proteste am 18. Oktober 2019 und dem damit einhergehenden wachsenden Vertrauensverlust in die etablierten Medien eine fundamentale Rolle gespielt. Lediglich Beschäftigte in sogenannten systemrelevanten Berufen, der öffentlichen Sicherheit und der Presse sind in Chile zurzeit von den Ausgangsbeschränkungen ausgenommen.  Diese Klausel verbannt den Großteil jener Reporter*innen von den Straßen, die uneigennützig dafür arbeiten, über Internet, Radio und Fernsehen die Wahrheit zu verbreiten. Die neuen Gesundheits-Regelungen besagen, dass die Medien bei der Steuerbehörde SII registriert sein müssen. Die Maßnahme wurde zusammen mit dem Beschluss, den staatlichen Ausnahmezustand um drei Monate zu verlängern, bekanntgegeben.

Die neue „Genehmigung“ erschwere die Arbeit auf den Straßen, klagen Vertreter*innen alternativer Medien wie Señal Tres La Victoria oder Primera Linea Prensa. Ohne einen solchen Passierschein könne man während der Ausgangssperre nicht mehr rausgehen und über die Proteste berichten, alternative Medien seien damit nun in ihrer Arbeit stark eingeschränkt. Zudem könnten auch freie-Radios und Kanäle keine Sendungen mehr machen. Für die von der Regierung kontrollierten Medien (Fernsehen, Zeitungen und Radio) sei es hingegen kein Problem, die Zulassung zu bekommen.

Stimmen aus den alternativen Medien

„Der Kontrolldruck macht uns permanent zu schaffen, er macht unsere Arbeit als unabhängige Journalisten auf den Straßen unmöglich. Viele Kameraleute und Reporter*innen wurden festgenommen, teilweise sogar Vertreter*innen aus anderen Ländern. Die Zensur richtet sich gezielt gegen die unabhängigen Medien, denn die zeigen ein anderes Bild von der Situation auf den Straßen, auch, was die Ausbreitung von Covid-19 angeht: Die von der Regierung vorgelegten Angaben waren fünfmal niedriger als die wirklichen Fallzahlen. Das hat den Gesundheitsminister sein Amt gekostet. Wir Medien organisieren uns jetzt, um uns gegen die staatlichen Maßnahmen zu schützen“, erklärt Manuel von der Medieninitiative MegafónPopular. „Die Rolle der unabhängigen und regierungskritischen Presse ist fundamental. Wir sind seit mehr als zwei Jahrzehnten aktiv. Außer uns gibt es noch viele andere Reporter*innen und alternative Medien, die wesentlich dazu beigetragen haben zu zeigen, was im Land passiert, und dafür sind sie kriminalisiert worden. Seit dem 18. Oktober häufen sich die Angriffe der Polizei. Die Regierung geht mit den Vertreter*innen der freien Medien rücksichtslos um. Unsere Ausrüstung wurde zerstört, Menschen wurden verletzt. Am ersten Mai wurden auf der Plaza Dignidad mehr als 20 Fotograf*innen und Reporter*innen festgenommen. Dabei sind das genauso Presseleute wie die, die für die staatlichen Medien arbeiten. Anscheinend stört es jedoch die Regierung, dass Leute wie wir, Menschen ohne Geld und Einfluss, mit unseren Handys unterwegs sind und die Wahrheit dokumentieren. Wir arbeiten für die Bevölkerung“, erklärt Polo, Mitglied von Señal Tres La Victoria.

Das Unrecht in Zahlen

Seit dem Ausbruch der sozialen Unruhen am 18. Oktober und auch schon davor waren alternative Medien wie Prensa Opal, MegafónPopular, El Desconcierto, Piensa Prensa, Radio Villa Francia oder Canal Tres La Victoria in Chile die eigentliche Informationsquelle, während die regierungstreue Presse beschlossen hat, weder zu informieren noch sich wirklich mit der Realität auseinanderzusetzen. Die Stiftung für Datenschutz und Gewährleistung der Kommunikationsfreiheit verfasste mit Unterstützung des Instituts für Kommunikation und Darstellung der Universidad de Chile einen Bericht mit dem Titel „Das Recht auf freie Meinungsäußerung im Kontext von Protest und sozialen Unruhen in Chile zwischen dem 18. Oktober und dem 22. November 2019“. Laut dem Dokument handelte es sich bei den Angriffen auf die Pressefreiheit mehrheitlich um Behinderung beim Zugang zu öffentlichen Informationen, zum Beispiel über Festnahmen und Verletzte oder über „Geheim-Treffen“ von Regierungsvertreter*innen mit Unternehmer*innen und wichtigen Fernsehsendern und Printmedien. Bei Pressekonferenzen bekamen freie Journalist*innen nicht die Möglichkeit, Fragen zu stellen, und hinsichtlich der Rechte während der Ausgangsbeschränkungen herrschte mangelnde Transparenz. Weiter heißt es in dem Bericht: „In diesem Zeitraum wurden 138 Übergriffe, Bedrohungen und Einschüchterungen gegen Vertreter*innen der unabhängigen Presse verübt: Es gab 90 Fälle von Verletzungen durch Abschreckungswaffen, darunter ein Augentrauma, sowie zwei Angriffe auf Journalistinnen, die sich in Polizeistationen nackt ausziehen mussten. In 283 Fällen wurden Nutzer*innen der sozialen Netzwerke Instagram, Facebook, Twitter und YouTube herausgefiltert und ihre Konten kontrolliert bzw. blockiert“. Nikole Kramm, Dokumentar-Fotografin und wichtige Stimme der Menschenrechte in der Kampagne #8M de Chile (8. März, feministische Kundgebungen am internationalen Frauen*tag), filmte am 31. Dezember 2019 für eine Dokumentation, als ein Schuss aus den Reihen der Polizei die Sehkraft ihres linken Auges zerstörte. Insgesamt erlitten mehr als 400 Leute Augenverletzungen, zwei Menschen verloren ihre Sehkraft. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die internationale Menschenrechtscharta am 27. Mai 1992 auch vom chilenischen Staat unterzeichnet wurde. Dort heißt es in Artikel 19:

„Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“

Übersetzung: Anton Kästner

Originalartikel auf Spanisch

Der Originalartikel kann hier besucht werden