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Silvio Rodríguez ist ein kubanischer Musiker und Liedermacher. Er ist einer der Begründer der Musikrichtung Nueva Trova, die in den 1960er Jahren in Kuba entstand. Bekannt für seine intellektuellen und poetischen Texte, sind seine Lieder ikonische Elemente der linksgerichteten intellektuellen Kultur Lateinamerikas.

Vor zwei Monaten lernte ich in Havanna zum zweiten Mal Silvio Rodríguez kennen. Die erste Bekanntschaft vor zwanzig Jahren war jedoch keine persönliche: Ich bekam eine Kassette mit seiner Musik geschenkt. In jenem Jahr 1999 legte ich das Band in den Player ein und drückte auf Start. Von diesem Moment an verging kein Tag, an dem ich nicht ein Lied von ihm hörte, eines sang, mich daran erinnerte, eines empfahl oder auf der Gitarre spielte.

Cecilia Todd, die Magierin, wirkte das Wunder und organisierte das Treffen. Wie genau, das ist eine lange Geschichte. Für den Moment begnüge ich mich damit, Ihnen zu erzählen, dass ich das Privileg hatte, einem Konzert von Silvios Frau, der Flötistin Niurka González, beizuwohnen. Von dort aus führte Silvio mich durch die Straßen der Altstadt von Havanna, vorbei an der Kathedrale, deren Kacheln vom Licht angestrahlt wurden. Er wies mich auf das Floridita-Schild hin und sagte: „Du bist doch ein Schriftsteller, hier hat Hemingway gerne seinen Rum getrunken.“

Wir gingen ins Nationalmuseum für Musik und genossen Cecilias wunderbare Stimme. Dann aßen wir zu Abend, sprachen über den Sieg des syrischen Volkes und über den Kampf, der in Chile geführt wird. Ich freute mich, dass sich Vicente Feliú [1] dem Gespräch anschloss. Er erzählte von der kollektiven Umarmung, die er jedes Mal fühlte, wenn er nach Argentinien reiste. Und auch davon, wie Vicente allein einen riesigen Schokoladenkuchen gegessen hatte, woran sich Silvios Mutter noch erinnert.

Ich sah seine Augen feucht werden, als er die Geschichte einer nicaraguanischen Guerilla-Kämpferin erzählte, die mit ihrem letzten Atemzug eines seiner Lieder sang. Dann, als ob das noch nicht genug wäre, nahm er mich mit durch die Nacht von Havanna und wir sahen den Malecón. Wir sprachen über die Bedeutung des Sternbildes Kassiopeia und ich erklärte ihm meine Theorie.

Cecilia scherzte mit ihm und sagte, Silvio sei das Einhorn. [„Unicornio“ ist ein bekanntes Lied von Silvio Rodríguez, übersetzt bedeutet es „Einhorn“. Das Einhorn ist ebenfalls ein Sternbild. Anm.d.Ü.] Er lachte auch und erzählte Einzelheiten darüber, wie er auf das Lied gekommen war.

Wir brachten Cecilia nach Hause und fuhren dann weiter nach Marianao. Ich wollte mir so viel wie möglich von diesem Moment einprägen, um im Nachhinein nichts zu vergessen. Als er mich vor der Tür des Wohnheims stehen ließ, schüttelte er mir die Hand und sagte: „Ich werde etwas von dir lesen.“ Ich konnte ihn nur anschauen, ihm danken und wieder sagen: „Du bist der Soundtrack meines Lebens.“

Aus diesem Treffen ging ein Engagement hervor: Der russischen Nachrichtenagentur Sputnik ein Interview zu geben.

Die COVID-19-Pandemie bot eine Gelegenheit, über die aktuellen Zeiten und die kollektiven Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, zu sprechen.

Silvio, der Kapitalismus hat sich angesichts dieser Pandemie entblößt. Er hat sich machtlos gezeigt, um Millionen von Frauen und Männern auf der ganzen Welt zu Hilfe zu kommen. Jetzt sind es Kuba, China und Russland, die aus ihren Grenzen herauskommen, um der Menschheit die Hand zu reichen. Stehen wir vor einer Zeitenwende oder vor einer Neuausrichtung? Glaubst du, dass diese Zeit ein Herz zur Welt bringt [2], wie du in deinem Lied gesungen hast?

Zumindest habe ich das Gefühl, dass es aktuell eine große Ungewissheit gibt.

Als ich vor einem halben Jahrhundert das Lied „La era está pariendo un corazón“ („Diese Zeit bringt ein Herz zur Welt“) sang, hatten Männer wie Ernesto „Che“ Guevara den Revolutionskrieg in Kuba gewonnen, nur um nach kurzer Zeit von ihren Ämtern und ihren Privilegien zurückzutreten. Sie gingen mit einem befremdlichen Edelmut in andere Länder an die Front und versprachen sich vom bewaffneten Kampf Erfolge, die sich nicht einstellten.

Als Che und seine Kameraden gingen, leistete ich gerade meinen Militärdienst. Damals (1964-1965) verstand ich die Idee des Internationalismus nicht. Mir schien, dass es in Kuba zu viel zu tun und zu konsolidieren gab, um wegzugehen, auch wenn es mit so ehrenwerten Absichten war. Doch das Scheitern der bolivianischen Revolution und der Tod so vieler guter Männer haben mich dazu gebracht, so wie sie sein zu wollen. So ist die Jugend manchmal: sie lässt einen Lehren aus den Hormonen ziehen, statt aus Tatsachen.

Es heißt, dass Dichter*innen, Musiker*innen, Schriftsteller*innen und Künstler*innen aufgrund ihrer Intuition der Zeit einen Schritt voraus sein können. Wie stellst du dir die Welt nach der Pandemie vor? Was sollten wir aus dieser Zeit lernen? Können wir dadurch besser werden?

Es ist offensichtlich, dass die Pandemie auf menschlicher Ebene die Mängel des sogenannten liberalen Systems, das nur auf die Privatisierung setzt, an die Oberfläche gebracht hat. Es ist offensichtlich, dass es Ländern mit starken Staaten in vielerlei Hinsicht besser geht. Aber ich glaube nicht, dass sich dadurch die Mentalitäten ändern werden, geschweige denn die Eigeninteressen, die normalerweise die Welt bewegen. Ich leugne nicht, dass es positive Dinge geben wird. Eine starke Strömung fortschrittlichen Denkens manifestiert sich bei Themen wie der Ungleichheit und dem schlechten Umgang mit unserem Planeten. Das ist zweifellos positiv und ich hoffe, dass es am Ende einen Einfluss haben wird. Aber es wäre sehr ungewöhnlich, wenn eine Pandemie die Welt verändern würde. Wo blieben dann die ganzen Denker*innen, Lehren und Beispiele?

Was auch immer passiert, ich glaube, das Allerschlimmste wäre der Versuch, alles so zu belassen, wie es ist. Es bleibt abzuwarten, welches Bewusstsein und welche Kraft die ganz offensichtlichen Mängel des Systems erzeugen werden.

Der ideologische Krieg, den die Vereinigten Staaten im letzten Jahrhundert entfesselt haben, führte dazu, dass die Menschen dachten, die amerikanische Gesellschaft und ihre Werte seien das Modell, dem sie folgen sollten. Aber trotz der Belege, trotz der schmerzhaften Bilder im Fernsehen von Menschen, die sich eine Behandlung für COVID-19 nicht leisten können, scheint es schwierig zu sein, die Leute aus diesem Traum aufzuwecken. Nicht zuletzt weil Hollywood die Menschen blendet, wie ein großer unantastbarer Altar der menschlichen Phantasie. Wie können wir den Kampf gegen dieses kollektive Trugbild führen? Welche Werkzeuge sollten wir einsetzen, damit wir in diesem neuen Jahrhundert nicht den Anschluss verlieren? Wo haben wir versagt, wenn dies der Fall ist?

Nichts und vor allem niemand ist mächtig genug, um so viele Herausforderungen allein zu bewältigen. Verschiedene Gruppen und Einzelpersonen müssen ihre Arbeit fortsetzen. Die Überlegenheitskomplexe und Ausschweifungen einiger Länder sind Teil einer Natur, einer Kultur. Nichts davon wird durch einen Erlass abgeschafft, denn nicht nur die Regierenden glauben daran, auch viele Menschen innerhalb der Bevölkerung sind davon überzeugt.

Auf der anderen Seite sind mit dem Internet und der weit verbreiteten Kommunikation Meinungen aufgetaucht, die viele Leute vorher für sich behalten oder nur in kleinen Gruppen geteilt haben. Viele Rentner*innen, auch viele, die zuvor in verantwortungsvollen Positionen tätig waren, sind in der virtuellen Welt und geben ihre Meinung ab. Ich bin manchmal überwältigt von so vielen Informationen, von so vielen Leuten, die sagen, wie die Welt sein sollte. Angesichts dieser unkontrollierbaren Lawine fühle ich mich wie ein winziges Teilchen, wie ein Hauch von Nichts. Deshalb neige ich dazu, das Elementare, das Wesentliche zu betrachten. Ich glaube, dass wir andere so behandeln müssen, wie wir selbst gerne behandelt werden möchten. Das strategische Werkzeug der Zukunft ist der Humanismus, es gibt nichts Besseres. Unser Problem liegt in der Abkehr von grundlegenden Wahrheiten, die selbst bei komplexen Themen oft nützlich sind.

Wie kommt Silvio Rodríguez mit dieser Quarantäne zurecht? Liest er etwas? Komponiert er vielleicht? Hat er irgendwelche literarischen oder musikalischen Empfehlungen für unsere Leserschaft? Vielleicht auch eine Filmempfehlung?

Ich bin da, wo ich sein möchte: bei meiner Familie. Natürlich gibt es viel zu tun. Ich bringe etwas Musik zu Papier. Das ist schön und es ist eine gute Arbeit. Natürlich lese ich etwas, im Moment „One more for the road“, das sind Geschichten von [Ray] Bradbury. Ich habe noch einmal den prophetischen Steven-Soderbergh-Film „Contagion“ gesehen. Er ist von 2013 und beschreibt Schritt für Schritt, was uns in den letzten Monaten geschehen ist. Ich gieße auch die Sträucher und versuche, so viel wie möglich zu Fuß zu gehen. Am meisten beunruhigt mich, dass wir nicht in der Lage sind zu lernen.

Wie ich dir in Havanna gesagt habe, „bist du der Soundtrack meines Lebens.“ Wenn du dir die Tausenden von Kommentaren anschaust, die Leute zu deinen Videos im sozialen Netzwerk YouTube schreiben, könnte dieser Spruch auf Millionen von Menschen auf der ganzen Welt zutreffen. Es gibt einen Kommentar, den ich auf YouTube gelesen habe und den ich an dich weitergeben wollte: „Ich habe mich in den 80er Jahren in Silvios Lieder verliebt. In Valparaíso und Santiago de Chile waren die Kassetten Goldwert. Sie wurden von der Diktatur verboten, aber wir hörten sie trotzdem und kopierten sie. Silvio begleitete uns in unserer Jugend unter einem restriktiven, faschistischen Regime. So viele schöne Erlebnisse, die ich mit seinen Liedern verbinde.“ Was fühlst du, wenn eine Person auf dich zukommt und dir erzählt, dass deine Musik ihr Leben verändert hat? Gibt es eine Erfahrung, die dich in diesem Sinne besonders geprägt hat?

Zunächst einmal wäre es schwierig als jemand, der mehr als ein halbes Jahrhundert in einem Beruf tätig war, nichts zu erzählen zu haben… Dabei hat die Musik den Vorteil, Menschen zu verbinden. Es war mir nicht möglich, alles, was ich bekomme, auch zu behalten, aber ich habe noch mehrere Briefe, Fotos, Zeichnungen, Bücher und andere nette Dinge, die mir aus menschlicher Großzügigkeit mein ganzes Leben lang geschenkt wurden.

Das Lied ist die Kunstform, die die meisten Verbindungen schafft, denn es kann in allen Lebenslagen begleiten: bei einer Reise, bei Krankheit, in der Liebe, bei Verlust, bei Angst oder Glück… Lieder haben diese Kraft und darüber hinaus können sie leicht wiederholt werden, wenn nicht mit der Stimme, so doch im Kopf einer jeden Person. Diese Gabe verbindet die Künstler*innen unterschiedlich stark mit Einzelschicksalen oder gemeinsamen Erfahrungen des Publikums. Es ist ein Wunder, am Leben so vieler Menschen teilzuhaben, es ist ein bedeutungsvolles Geschenk.

Du bist ein Lateinamerikaner, der weltweit bekannt ist. Hast du im Laufe deiner Karriere andere Persönlichkeiten kennen gelernt, die eine ähnliche Bekanntheit hatten? Ich frage dich nach zweien: Hugo Chávez und Fidel Castro. An was erinnerst du dich in Bezug auf die beiden?

Seit den 90er Jahren habe ich zunehmend gezögert, das Land zu verlassen. Ich lernte Chávez kennen, weil Fidel mich überzeugte, in Venezuela ein Konzert zu geben. Ich erinnere mich, dass sich Amaury Pérez und Carlos Varela mir begeistert anschlossen. Chávez war so freundlich, uns zu empfangen und mit uns zu essen. Er lud auch einige Musiker ein, die mit Harfe, Cuatro [3] und Maracas [4] sangen. Mich erinnerte das an einen schönen Morgen, den ich in San Fernando de Apure im Haus von Indio Figueredo verbrachte. An diesem Abend in Miraflores servierte man uns Hallacas [5], die ich noch nie gegessen hatte, und sie schmeckten mir so gut, dass ich mehrmals zulangte. Zum Glück überlebte ich die Nacht [nach diesem üppigen Mahl] und konnte am Konzert teilnehmen, wenn auch ziemlich mitgenommen. Das war leider Pech.

Als ich zum zweiten Mal dort war, gab es gerade ein Abberufungsreferendum. Es kamen Menschen aus vielen Ländern; ich erinnere mich an meinen Freund Roy Brown, einen puertoricanischen Sänger. Diesmal verzichtete ich darauf, Hallacas zu essen, und konnte besser singen. Bis Chávez selbst auf die Bühne kam. Auch wenn es niemand wüsste, sagte er, seien er und ich – Silvio und Hugo – ein Duo und würden nun unsere Show zeigen. Er sah mich an und begann, ein wunderschönes Gedicht über [Simón] Bolívar zu rezitieren, und ich folgte ihm auf der Gitarre, begleitete ihn, so gut ich konnte, und so machten wir lange weiter. Die Leute drehten fast durch.

Chávez hatte neben seinem großen Herzen auch ein großes darstellerisches Talent. Er war ein sehr charismatischer Mann. Dieser Abend war einer der ungewöhnlichsten, die ich je auf der Bühne erlebt habe; er war absolut unvergesslich.

Dein kreatives, poetisches und musikalisches Schaffen ist von historischen Momenten geprägt. Darin finden sich Fragmente aus der Geschichte Lateinamerikas und der Welt. Die Abkehr und Verurteilung vom Imperialismus in Ländern wie Nicaragua, Chile und Kuba selbst. Ich denke an dein Lied „Cita con Angeles“ („Treffen mit Engeln“), das ein Sinnbild deines Schmerzes zu sein scheint, aber auch deiner Bewunderung für Personen, die für das Wohl der Menschheit gekämpft haben. Was wäre das Lied dieser Zeiten?

Das wüsste ich auch gerne.

Meist wird Dienstag, der 13. Juni 1967, als dein ‚musikalisches Debüt‘ in der Fernsehsendung „Música y estrellas“ („Musik und Stars“) bezeichnet. Fünfzig Jahre später wirst du immer noch gehört und gefeiert, genau wie die Beatles. Menschen im Alter von 70 oder 80 Jahren hören dir mit der gleichen Leidenschaft zu wie 20-jährige Studierende. Worin liegt deiner Meinung nach der Grund für dieses Phänomen?

Nun, ich hatte mein Debüt am Dienstag, den 13. (heirate nicht und schiffe nicht ein, sagt man in Kuba über diesen Tag). Ich wollte Karikaturist werden. Als ich 15 Jahre alt war, begann ich bei der Wochenzeitung Mella zu arbeiten, damals ein Sprachrohr der Sozialistischen Jugend. Bis ich 20 war, zeichnete ich in den Zeitschriften Venceremos und Verde Olivo, beides Militärpublikationen. Aber ich entdeckte die Gitarre und verliebte mich. In Wahrheit hat mich das Instrument mehr begeistert als die grafische Gestaltung. Es war eine Welt, die mich seit meiner Kindheit gereizt hat; plötzlich eröffnete sich mir die Gelegenheit und ich verlor mich darin.

Ich frage mich auch, warum es in dieser Reihenfolge geschah; das ist auch für mich ein Rätsel. Aber ich erinnere mich, dass ich nie daran interessiert war, sehr modische Lieder zu machen, das heißt, um schnell bekannt zu werden. Einige meiner Zeitgenossen empfanden mich als seltsam. Sie sagten mir das auch, aber nicht, um mich zu verletzen, sondern weil sie es interessant fanden, dass ich an meinem eigenen Stil festhielt, der auf andere Weise populärer sein konnte… Als ich anfing, Gitarre zu spielen, las ich bereits Literatur und hatte gewisse Kenntnisse von Welt- und Kunstgeschichte, zwar etwas dürftig, aber ich verstand einige Gesichtspunkte. Ich war auch süchtig nach der sogenannten klassischen Musik. Vielleicht hatte all dies mit der Entscheidung zu tun, meine eigenen Wege zu gehen und nicht nachzuahmen. Ich bemühte mich, Musik mit einem kritischen Bewusstsein zu hören, einschließlich meiner eigenen, und ich hatte den Wunsch, niemandem ähnlich zu sehen, nicht einmal mir selbst.

Wohin geht Silvio Rodríguez? Gibt es ein Land, in das er zurückkehren möchte? Gibt es Projekte, in die er uns einen Einblick geben kann?

Ich bin versucht zu antworten, dass ich keine andere Wahl habe, als bald in Rente zu gehen… Wenn das nicht zu viel schwarzer Humor für dich ist (obwohl ich Humor mag, egal welche Farbe er hat)… – Ehrlich gesagt, es ist großartig zu reisen, die Welt zu sehen; man entwickelt ein Gefühl für die Größe unserer Weltkugel, man lernt eine Menge. Ich würde immer noch gerne Griechenland, Ägypten, Japan und zumindest ein Stückchen von Indien sehen; ich würde gerne Madagaskar sehen und am Kap der Guten Hoffnung vorbeischauen. Ich würde gerne [den Gletscher] Perito Moreno sehen. Ich würde auch unheimlich gerne Machu Picchu, den Grand Canyon und die Niagarafälle besuchen (obwohl ich in Iguazu war). Aber ich fürchte, ich werde nicht genug Zeit haben, um alles zu sehen, was ich mir wünsche. Und nicht, dass ich ein Langweiler werde, aber ich glaube, dass ich Glück hatte, so viel sehen zu können. Mein wertvollstes Projekt im Moment ist es also, so bald wie möglich im Studio weiterarbeiten zu können, um einige angefangene Platten fertigzustellen. Darunter eine mit der Band Diákara, von vor fast 30 Jahren. Und viele andere Lieder, die ich später aufgenommen habe und die ich noch verbessern und/oder bearbeiten muss. Ganz zu schweigen von denen, die mir andauernd in den Sinn kommen.

Gerade jetzt, in der Pandemie, habe ich vor, ein virtuelles Album mit Liedern auf der Gitarre herauszubringen: zehn oder elf Lieder, die zusammen „Para la espera“ („Für das Warten“) heißen werden. Dabei wird ein Lied sein, das meinem Freund Eduardo Aute gewidmet ist: „Noche sin fin y mar“ („Nacht ohne Ende und Meer“).

Gibt es etwas, was du bedauerst? Etwas, das du anders machen würdest, wenn du die Zeit zurückdrehen könntest?

Diese Frage ist merkwürdig, denn sie erinnert mich daran, dass ich in meiner Jugend sehr kritisch mein früheres Selbst analysiert habe. Dabei ging ich davon aus, dass ich bestimmte Fehler nicht wiederholen würde… Es ist gut, selbstkritisch zu sein und der Blick zurück hilft sehr. Wir sollten jedoch auch in der Lage sein, vorausschauend zu handeln und solide Werte als Rückgrat eines wünschenswerten Verhaltens anzunehmen.

Ich werde es nie bereuen, Mitgefühl und Verständnis dafür gehabt zu haben, dass jeder Mensch die gleichen Sorgen und Tragödien erleiden kann. Folglich kann ich nicht anders, als meine Gemeinschaft beziehungsweise mein Land zu verteidigen.

Ich bin Teil dieses Ganzen, somit beleidigt jede ausländische Überheblichkeit meinen freien Willen und meine Souveränität, die auch nicht großartig ist, denn wir sind ein Volk, das sich in mancher Hinsicht kaum entwickeln konnte. Wenn ich Differenzen mit denen hätte, die mich regieren, dann wären diese nur zwischen ihnen und mir. Niemand hat das Recht, sich darin einzumischen. Noch viel weniger diejenigen, die sich so verhalten, als ob ihnen alles auf der Welt gehört. Ich kann die Scheinheiligen nicht ausstehen, die behaupten, dass die Sanktionen gegen Kuba nur gegen die kubanische Regierung gerichtet sind. Jetzt, während der Pandemie, haben Exil-KubanerInnen selbst in den Vereinigten Staaten darum gebeten, dem kubanischen Volk Erbarmen zu zeigen. Aber diejenigen, die so viel über Gott reden, sind taub für den Schmerz der anderen.

Sie wissen, dass sich eine Regierung nur halten kann, weil ein Volk es zulässt. Anders geht es nicht. Deshalb machen sie uns seit 60 Jahren das Leben unmöglich, damit wir den wahren Tribut zahlen. Es ist ein Bestandteil des universellen Humanismus, gegen Folter zu sein. Aber ein ganzes Volk, das kubanische Volk, wird seit mehr als sechs Jahrzehnten von einem mächtigen und rücksichtslosen Nachbarn gefoltert. Ich möchte etwas klarstellen: Auch wenn ich Meinungen habe, auch wenn ich manchmal für einige Dinge bin und andere ablehne, hatte ich nie die geringste Veranlassung, mich der Politik zu widmen. Trotzdem ist mir unsere Situation ganz und gar nicht gleichgültig.

Was ist deine Botschaft an die Welt, an diejenigen, die dieser Pandemie trotzen und sich auch den Bedrohungen eines Systems widersetzen, das es Völkern nicht erlaubt, ihr Schicksal selbst zu bestimmen?

Meine Botschaft ist wie ein Klanggebirge: es wiederholt sich. Lasst uns andere so behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen. Wenn du andere nicht respektierst, dann beschwere dich nicht, wenn du nicht respektiert wirst. Wie sagt man dort drüben, in Mayarí [Stadt auf Kuba]: Was du mir wünschst, bekommst du auch.

Das ist meine Art, optimistisch in die Zukunft zu blicken.

Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde von Laura Schlaphorst vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


[1] Vicente Feliú ist ein kubanischer Musiker und Liedermacher. Wie Silvio Rodriguez wird er zu den Begründern der Musikrichtung „Nueva Trova“ gezählt, die Mitte der 1960er in Kuba entstand.
[2]„La era está pariendo un corazón“, übersetzt „Diese Zeit bringt ein Herz zur Welt“, ist ein bekanntes Lied von Silvio Rodriguez aus den 1960er Jahren.
[3] Kleines Saiteninstrument, ähnlich einer Gitarre
[4] Wie „Rasseln“, die paarweise in beiden Händen gespielt werden
[5] Hallacas sind eine venezolanische Spezialität. Sie bestehen aus einem Teig, der mit Maismehl hergestellt wird, und einer Füllung aus verschiedenen Fleischsorten sowie einigen anderen Zutaten und Gewürzen. Dies wird in Bananenblätter gewickelt und über dem Feuer gegart.