Gansers Buch zur «skrupellosen Weltmacht USA» zeigt nur «eine Perspektive unter vielen möglichen Perspektiven».

Erich Gysling für die Online-Zeitung INFOsperber

Der Historiker Daniele Ganser versieht den Titel seines neuen Buchs «Imperium USA» mit dem Untertitel «Die skrupellose Weltmacht». Er bezieht sich da nicht nur auf die Aussenpolitik der Trump-Administration, sondern greift weit in der Geschichte zurück, bis in die Epoche der Inbesitznahme des nordamerikanischen Kontinents durch die Einwanderer und die Ausrottung der «Indianer» – und, detailliert, vor allem in die Zeit um den Zweiten Weltkrieg und, noch detaillierter, in die Jahrzehnte danach und bis ins Jahr 2020.

Er recherchierte so ziemlich das ganze Spektrum des globalen Anspruchs der USA, immer mit Fokus auf aussenpolitische Strategien. «Keine andere Nation hat seit 1945 so viele andere Länder bombardiert wie die USA. Kein anderes Land hat seit 1945 so viele Regierungen gestürzt und war in so vielen offenen und verdeckten Konflikten verstrickt wie die USA. Kein anderes Land der Welt unterhält in so vielen anderen Ländern Militärstützpunkte, exportiert so viele Waffen und unterhält einen so hohen Rüstungsetat wie die USA.»

Fast am Anfang merkt der Autor an: «Über die USA ist schon viel geschrieben worden. Auch dieses Buch ist nur eine Perspektive unter vielen möglichen Perspektiven.» Ja, da kann ich nur zustimmen – es gibt auch andere Perspektiven. Etwa jene, die besagt, dass die USA zwar ihre Macht sehr oft eigennützig eingesetzt haben, dass aber die meisten Interventionen letzten Endes Schlimmstes verhindert hätten.

Ich teile diese «milde» Sichtweise nicht – oder lasse sie nur für Ausnahmefälle gelten. Ja, die Vereinigten Staaten setzen ihre politische, wirtschaftliche, finanztechnische Übermacht gezielt und oft skrupellos ein. Jüngstes Beispiel: das Diktat, das die US-Politik und auch die US-Banken global ausüben, um die Sanktionen (nennen wir es besser einen Wirtschaftskrieg) gegen Iran durchzusetzen. Oder die (angestrebte) finanzielle Strangulierung der WHO in der Corona-Krise. Nur: Ist das – und mehr – nicht erst durch Donald Trump so geworden? Da vertritt Daniele Ganser eine andere Meinung: Er sieht Kontinuität in der «Skrupellosigkeit». Und verweist u.a. auf Meinungsumfragen, die, international, bereits in der Obama-Zeit gemacht wurden und die darauf hinwiesen, dass auch Obamas Amerika in relativ breiten Bevölkerungskreisen in und ausserhalb Europas mit Misstrauen betrachtet wurde.

Wie erklärt sich das? War Obama nicht darauf bedacht, die internationale Zusammenarbeit zu fördern, spielte er nicht mit im «Orchester» der (einigermassen) klimabewussten Regierungen?

Man muss diese Fragen, im Kontext einer Rezension von Daniele Gansers Buch, so stehen lassen – der Autor geht auf diesen Aspekt nicht weiter ein. Abgesehen davon, dass er die Auszeichnung Obamas mit dem Friedensnobelpreis als ungerechtfertigt bezeichnet. Und es gab ja, tatsächlich, auch in den acht Jahren Obamas problematische Entscheidungen – etwa rund um den Drohnenkrieg und die Ermordung von Osama bin Laden (den die politisch einflussreiche Klasse in Washington offenkundig lieber tot sehen wollte, als ihn vor ein Gericht zu stellen). Oder die Politik gegenüber Syrien.

Am Syrien-Beispiel lässt sich eine bei Daniele Ganser mehrmals erkennbare Problematik feststellen: Er recherchiert gründlich über eine Seite, blendet aber weitere Aspekte aus: «Im März 2011 brach in Syrien der Krieg aus. Syrische Sicherheitskräfte stoppten in der syrischen Stadt Dara nahe der Grenze zu Jordanien einen Lastwagen, der aus dem Irak kam und eine grosse Menge an Waffen und Sprengstoff geladen hatte.» Ja, das ist offenbar korrekt, das zeigten mehrere voneinander unabhängige Recherchen. Nur wirkt der Ausbruch des Syrienkonflikts bei Ganser so, als sei er von ausländischen Mächten (USA, Grossbritannien, Frankreich – wer noch?) initiiert worden. Das ist er nicht. Inspiriert von den Protestwellen des so genannten Arabischen Frühlings in anderen Ländern der Region wagte, zuallererst, wirklich eine Gruppe von syrischen Oppositionellen, das Assad-Regime durch Kundgebungen in Dara herauszufordern. Diese Proteste unterdrückte der Geheimdienst brutal. Die Protestwelle drohte, sich rasant auszubreiten – und da ergriffen ausländische Kräfte (sehr wahrscheinlich tatsächlich die CIA an deren Spitze) die Gelegenheit, die Opposition zu bewaffnen, d.h. zumindest indirekt zu intervenieren.

Ähnlich leicht verschoben ist Gansers Darstellung des Beginns des kurzen Kriegs in Georgien um Südossetien. «Schon im August 2008 griff Georgien, ermuntert durch die USA, das abtrünnige Südossetien an.» Ja, richtig, Georgiens Präsident Saakashwili liess seine Luftwaffe in Südossetien angreifen, und er hoffte auch darauf, dass die USA ihn tatkräftig unterstützen würden. Nur: Das war Saakashwilis persönliche Interpretation – eine Interpretation von sehr vagen Aussagen US-amerikanischer Politiker. Die offizielle US-Politik hatte klargemacht, dass sie sich nicht in einen Mini-Regionalkonflikt hineinziehen lassen wollte, der das Potential hatte, zur direkten Konfrontation mit Russland zu werden.

Und nochmals ähnlich ist’s im Fall der Ukraine: Die USA (damals unter der Präsidentschaft von George W. Bush) hatten ein Interesse, das Land in der unmittelbaren Nachbarschaft Russlands so eng wie möglich «an ihre Brust zu drücken». Sie förderten jene Kräfte, die den Autokraten Janukowitsch loswerden wollten, hätten es auch gerne gesehen, die Ukraine möglichst schnell in die Nato aufzunehmen – aber europäische Nato-Mitglieder (nicht alle) erkannten die Gefahr, damit einen offenen Konflikt mit Russland zu provozieren, und so blieb es bei eher vagen Formulierungen an die Adresse der Nach-Janukowitsch-Führung in Kiew. Und, auch das ist wichtig: Es gab damals, 2014, in der Ukraine zunächst einen breit abgestützten Volksaufstand gegen Janukowitsch – man kann davon ausgehen, dass eine Mehrheit den Autokraten loswerden wollte, und dies nicht aufgrund einer von den USA angezettelten Verschwörung.

So, genug der kritischen Anmerkungen. Aber vielleicht doch noch diese, Pearl Harbor und den Eintritt der USA in die Koalition gegen Hitler-Deutschland und das kaiserliche Japan im Zweiten Weltkrieg betreffend: Ja, das weist Daniele Ganser gut nach, Präsident Roosevelt hatte tatsächlich Informationen, wonach Japan einen Überraschungsangriff auf US-Kräfte lancieren würde. Nur tappte er im Dunkeln, wo das geschehen könnte. Pearl Harbor schien (offenkundig auch ihm, dem US-Präsidenten) sehr unwahrscheinlich als Ziel. Also: Roosevelt zu unterstellen, er habe absichtsvoll Pearl Harbor ungeschützt einem Angriff ausgesetzt, geht wohl doch etwas zu weit.

Mein Fazit: Daniele Gansers «Imperium USA – Die skrupellose Weltmacht» ist interessant, ist lesenswert – denn der Autor übt ja nicht eindimensionale USA-Kritik, sondern appelliert konsequent an Prinzipien und Ideale: UNO-Gewaltverbot, Achtsamkeit und das, was er die Menschheitsfamilie nennt. Aber man darf das Buch auch, den Worten des Autors folgend, als «eine Perspektive unter vielen möglichen Perspektiven» lesen.

Daniele Ganser: Imperium USA. Die skrupellose Weltmacht. Orell Füssli Verlag, Zürich 2020, 400 Seiten, CHF 34.90