Immer noch weigern sich (auch) deutsche Politiker*innen auf EU-Ebene, für solidarische Eurobonds/Coronabonds zu stimmen. In Lagern auf Lesbos fürchten sich Menschen, die nach ihrer Flucht zusammengepfercht unter unhaltbaren Bedingungen leben müssen, vor dem Ausbruch der Pandemie und dessen katastrophale Folgen.

In Berlin heißt es:

  • Alle (bis auf Systemrelevante) sollen zuhause bleiben. Wenn sie denn ein Zuhause haben.
  • Alle (bis auf Systemrelevante) sollen möglichst nur einkaufen gehen. Wenn sie denn Geld zum Einkaufen haben.
  • Alle (vor allem Systemrelevante) sollen sich oft die Hände waschen und auch bald alle Mundschutz tragen. Wenn sie freien Zugang zu Wasser und Seife haben – und sich einen Mundschutz organisieren können.

Aber nicht alle können sich diese grundlegenden Auflagen leisten. Obdachlose Menschen, einsame Menschen mit starken psychischen Problemen, Menschen, deren sowieso schon prekäre Jobs sich in Luft ausgelöst haben. Einige befinden sich – mitten im wohlhabenden Deutschland – in einer existenziell bedrohlichen Situation.

Was für die einen trotz Angst auch eine Atempause darstellt, Lohnfortzahlung, ein Umstrukturieren auf Home Office, ein schnelles Beantragen und Erhalten von finanzieller Unterstützung vom Staat, bedeutet für andere Menschen das Wegbrechen der letzten Strukturen, Hunger, Einsamkeit und Verzweiflung.

Immer finden sich Menschen, die genug Kraft und Kapazitäten haben, um zu unterstützen, zu vermitteln, sich einzusetzen für Gerechtigkeit – oft unbürokratisch und sehr effektiv.

Es existieren Gruppen, die solidarisch und vertrauensvoll Strukturen aufbauen, um Unterstützung zu koordinieren. Exemplarisch sollen hier die Gabenzäune beschrieben werden.

Drei Menschen, die die Gabenzäune in den Bezirken Reinickendorf, Schöneberg/Tempelhof und Neukölln (wo alles begann) organisieren, äußern sich hier zu ihrer Motivation, den Schwierigkeiten und den Erfolgen ihres Engagements.

Wer seid ihr?

Ich bin Betül Torlak, 16 Jahre alt und derzeit Schülerin der 10. Klasse. Ich habe den Gabenzaun in Berlin-Reinickendorf eingerichtet und versuche dort täglich vorbeizuschauen. (Gabenzaun Reinickendorf / seit dem 31. März 2020)

Ich bin Theresa Sigusch, 26 Jahre alt, beende derzeit mit Masterstudium des literarischen Schreibens und arbeite als freie Autorin, selbstständige Lektorin und Schreibberaterin in Berlin. In den letzten Jahren war ich vor allem feministisch aktiv, in einem selbstgegründeten Kollektiv namens artemis, das sich mit der Situation schreibender Frauen auseinandergesetzt hat. (Gabenzaun Tempelhof Schöneberg / seit dem 22.März 2020)

Mein Name ist Nanna, ich bin 37 Jahre alt und arbeite als Sozialpädagogin in der Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtung Manege in Berlin-Neukölln. Zudem bin ich Mitgründerin der MANEGE-Initiative, ein Zusammenschluss von Mitarbeiter*innen, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die alle aus dem Umfeld des Jugendclubs kommen. Mit unserer Initiative setzen wir uns seit 2015 ehrenamtlich für Menschen in prekären Lebenslagen ein und sind gesellschaftspolitisch aktiv. (Nanna ist eine der Gabenzauninitiator*innen, Schwerpunkt Neukölln / seit dem 18. März 2020)

Was treibt Euch an und welche Motivation habt ihr?

Betül Torlak: Als ich die ersten Gabenzäune auf Twitter entdeckt habe, war ich ziemlich beeindruckt von der Solidarität und Hilfsbereitschaft der Menschen. In Berlin gründeten sich in kürzester Zeit viele neue Gabenzäune. Irgendwann fiel mir dann auf, dass Reinickendorf einer der einzigen Bezirke in Berlin war, in dem es noch keinen Gabenzaun gab. Das enttäuschte mich ein wenig, weil wir in unserem Bezirk durchaus Bedürftige haben.

Deshalb machte ich dann alle nötigen Aushänge für einen Gabenzaun fertig, gründete kurzerhand die Organisationsgruppe und ging für den neuen Gabenzaun einkaufen.

Theresa Sigusch: Streng genommen habe ich das Projekt Gabenzäune nicht mitgegründet, sondern bin kurz nach dem Start des Projektes in Berlin via Telegram hinzugekommen, als ich davon über das Manege-Team auf Facebook erfahren hatte. Schnell wurde dann eine Gruppe speziell für Tempelhof-Schöneberg gegründet, in der ich von Anfang an dabei war. Weil es so barrierefrei gestaltet war, sich direkt einzubringen, habe ich schnell Initiative ergriffen und zwei Gabenzäune am Innsbrucker Platz und am Bundesplatz mitgestaltet. Besonders in dieser Zeit, wo soziale Kontakte auf ein Minimum reduziert bleiben müssen, hat es mich sehr motiviert, neue Leute in diesen Gruppen kennenzulernen, jedenfalls digital, und mich dadurch über ein so wertvolles Projekt verbunden zu fühlen in meinem Kiez.

Gabenzaun in Leipzig
Gabenzaun in Leipzig

Nanna: Am 17. März haben wir als Initiative ein Online-Plenum abgehalten. Zunächst ging es darum, wie wir uns als Initiative während der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Einschränkungen organisieren. Zwei unserer jüngeren Mitglieder brachten das Thema ein, wie sich das Leben zurzeit für Menschen auf der Straße verändert. Sie waren regelrecht schockiert darüber, dass Menschen keine Unterstützung erhielten, außerdem wurde ihnen bewusst wie viele Menschen ohne Zuhause in Berlin leben. Sie beobachteten, dass durch die Pandemie-Maßnahmen weniger Menschen unterwegs waren und die wenigen, die sich im öffentlichen Raum bewegten, den Kontakt zu Menschen ohne Obdach mieden und deshalb keine Spenden gaben.

So kamen wir als Initiative auf die Idee, die Menschen in dieser Zeit unterstützen zu wollen. Zunächst äußerte eines unserer jüngeren Mitglieder, dass es schön wäre, die Menschen mit Essenspaketen zu versorgen und diese an den S- und U-Bahn-Stationen auszulegen, um direkten Körperkontakt zu vermeiden und somit die Anordnung von Körperabstand einzuhalten.

Da ich aus Hamburg komme und von dort seit ein paar Jahren den Hamburger Gabenzaun kenne, brachte ich die Idee ein, es wie in Hamburg zu machen, nur mit dem Unterschied, die Idee umzuwandeln in Kiezzäune, die durch die Anwohner*innen gepflegt und behängt werden.

Wir waren alle von der Idee überzeugt und initiierten am 18. März vier Gabenzäune in Neukölln, Herrfurthstraße, S-Hermannstraße, Reuterplatz und Boddinplatz. Wir gründeten zwei Telegram-Gruppen für Neukölln und Kreuzberg und machten am nächsten Morgen einen Post auf unserer Facebook-Seite.

Die Idee verbreitete sich so schnell, dass wir kaum hinterherkamen, all die Nachrichten zu beantworten. Wir entschieden uns, den interessierten Menschen zu raten, sich in Online-Gruppen je Kiez zu organisieren. So entstanden auch weitere Berliner Gruppen, die wir in unserem Post veröffentlichten. Mittlerweile haben wir diese aber wieder gelöscht, da wir mit Hilfe eines Freundes vor einer Woche eine Website gestaltet haben, auf der wir versuchen, all die uns bekannten Gabenzäune und Gruppen zu veröffentlichen. Wir selber haben uns nach dieser aufregenden Zeit wieder darauf konzentriert, „unsere“ Gabenzäune mit all den anderen lieben Menschen zu pflegen und versorgen.

Wir kochen einmal die Woche und verteilen die Mahlzeit in Einweggläsern unter den Menschen oder an den verschiedenen Zäunen.

Schillerkiez (Berlin), Herrfurthstraße Ecke Weisestraße
Schillerkiez (Berlin), Herrfurthstraße Ecke Weisestraße

Wie viele Helfer seid ihr?

Betül Torlak: Die Organisationsgruppe mit 13 Mitgliedern ist bisher noch nicht allzu groß. Ich denke aber, dass so ein Gabenzaun beim Vorbeigehen durchaus Interesse erweckt und hoffe somit, dass es vielleicht auch ein paar mitwirkende Menschen gibt, die nicht in der Organisationsgruppe aktiv sind.

Theresa Sigusch: In unserer Telegram-Gruppe für Tempelhof-Schöneberg sind mittlerweile rund 90 Mitglieder, es gibt aber auch Gruppen – etwa in Neukölln –, wo über 300 Menschen zusammen kommunizieren und sich beteiligen. Für den Standort am Bundesplatz haben wir gerade zehn aktive Helfer*innen, die sich abwechselnd täglich um den Zaun kümmern. Jedes Mal, wenn ich dort bin, sprechen mich Leute auf den Zaun an, erkundigen sich nach dem Ablauf und bekunden Bereitschaft, sich auch einzubringen. Ich denke, dass der Zaun selbst eine hohe Reichweite hat, weil er direkt neben einer Einkaufsmöglichkeit gelegen ist und auf dem Weg in den Volkspark liegt. Viele Menschen kommen dort vorbei.

Was die Reichweite bei bedürftigen Menschen angeht, zeigt der Bedarf der Gabentüten, dass täglich Menschen ohne Obdach oder mit geringen Mitteln dort Gaben abholen kommen.

Nanna: Die Reichweite der Aktion ist enorm und ein gemeinsamer solidarischer Akt aller Bewohner*innen, die ihren Kiez und die Menschen darin am besten kennen. Der Fokus liegt hier auf der gemeinschaftlichen Verantwortung für und mit allen im eigenen Kiez. Das bedeutet, dass Anwohner*innen gemeinsam dafür Sorge tragen, dass ‚ihr‘ Gabenzaun die Menschen versorgt, die in ihrer direkten Umgebung Bedarf haben.

Welche Herausforderungen seht ihr?

Betül Torlak: In der Gruppe läuft es mit der Kommunikation soweit super. Die einzige Schwierigkeit, die der Gabenzaun mit sich bringt, ist die, dass wir leider nie wissen, wie viel noch am Zaun hängt, ohne immer hinzufahren. So fällt es uns schwer einzuschätzen, wann dringend mehr benötigt wird.

Bei mir dauert der Weg aktuell 20 Minuten und ich schaffe es zeitlich nur einmal am Tag vorbeizuschauen. In der letzten Woche wurde der Gabenzaun etwa zweimal täglich frisch bestückt. Wenn wir ankommen, steht er meistens komplett leer. Über die Gruppe teilen wir aktuelle Bilder vom Zaun, so dass alle auf dem neusten Stand gehalten werden.

Reuterplatz/Reuterstraße/Weserstraße
Reuterplatz/Reuterstraße/Weserstraße 

 

Theresa Sigusch: Bislang gab es für mich sehr wenige Hürden oder Probleme in der Organisation der Gabenzäune. Allerdings wurden am Standort Innsbrucker Platz die Gabenzaun-Schilder an einem Sonntag vor zwei Wochen entfernt, weshalb wir gerade versuchen, einen besseren Zaun am Platz zu finden. Ich denke, dass das fehlende Wissen über die Bedeutung und den Zweck der Zäune etwa bei der Berliner Stadtreinigung oder Parkpflegeunternehmen dazu führen könnte, dass Zäune verschwinden und abmontiert werden, wie es auch schon in Neukölln passiert ist. Allerdings wurde das der Berliner Stadtreinigung kommuniziert, die darauf mit einer Entschuldigung reagiert haben.

Ein Problem könnte für die Zukunft sein, dass es bereitwillige Helfer*innen gibt, die aber selbst gerade finanziell in prekäre Lagen geraten durch Corona. Da wir für die Lebensmittel selbst aufkommen, versuchen wir in Tempelhof-Schöneberg gerade nach dem Neuköllner Vorbild mit der Berliner Tafel zu kooperieren und einen Antrag auf Förderung an das Bezirksamt zu stellen. So könnten wir die Bestückung der Zäune finanziell unabhängiger gestalten.

Nanna: Um sicherzustellen, dass dieser nachhaltig wirken kann, muss es eine feste und zuverlässige Gruppe an Menschen geben, die Verantwortung für den jeweiligen Zaun übernimmt. Manchmal ist es schwer, innerhalb einer großen Gruppe online zu kommunizieren. Teilweise hatte ich das Gefühl, der Fokus ging in der ganzen Online-Orga-Struktur irgendwie verloren, durch zu viel Gerede und zu wenig Aktion. Leider gibt es auch immer wieder vereinzelt Personen, die sich innerhalb der Gruppe zu viel Raum für ihr Ego nehmen.

Andererseits sind tolle neue Impulse aufgekommen, so unter anderem der von Anwohner*innen verfasste Antrag beim Neuköllner Bezirk, der nun die Gabenzäune mit 4.000 Euro unterstützt. Die Unterteilung der großen Neukölln-Gruppe in einzelne Zaun-Gruppen war dabei durchaus hilfreich.

Welche Hoffnungen habt ihr?

Betül Torlak: Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen aktiv werden und Dinge am Gabenzaun anbringen. Dafür muss man auch nicht zwingend in der Orga-Gruppe sein. Es reicht scho,n beim Vorbeigehen etwas Kleines anzuhängen.

Außerdem würde ich mir auch Menschen wünschen, die direkt vor Ort am Gabenzaun wohnen und uns den aktuellen Stand mitteilen können. So könnten wir besser koordinieren, wann etwas Neues angehangen werden muss.

Theresa Sigusch: Ich wünsche mir vor allem, dass das Projekt seinen Zweck erfüllt – dass die Gaben bei den Menschen ankommen. Ich wünsche mir, dass das Projekt über Corona hinaus weitergeht. Ich wünsche mir, all die tollen Leute, die derzeit an den Gabenzäunen mitarbeiten, bald persönlich kennenzulernen, wenn sich die Situation beruhigt hat. Ich wünsche mir, dass wir weitere Unterstützung von Einzelpersonen hier an den Standorten erhalten und darüber hinaus finanzielle Mittel der Bezirksämter bewilligt bekommen.

Nanna: Es ist ein neues Konzept der geteilten Verantwortung für die direkte Umgebung, welches gerade von allen Beteiligten ausprobiert wird und hoffentlich nachhaltig bestehen bleibt. Denn wir sollten uns bewusst sein, dass Menschen sich auf unser Handeln und die regelmäßigen Spenden verlassen.

Gemeinsam zu handeln ist wichtig, denn zusammen lässt sich mehr erreichen und alle aus der Nachbarschaft können sich mit regelmäßigen Spenden beteiligen.

 

Der Originalartikel kann hier besucht werden