Die Zustände in der heutigen Welt lassen den Schluss zu, dass die Völker, im temporären Verhältnis zum Erdzeitalter, noch in einer frühen Phase ihrer Entwicklung leben, meint der Schweizer Humanist Reto Thumiger. Einige vielleicht noch in der Epoche der Kindheit mit ursprünglichen biologischen Verhaltensweisen eines kindlichen Egoismus: „Das ist meine, das will ich haben“. Es entspricht der Zeitphase, in der die Vernunft oder die Toleranz noch anerzogen werden müssen. Die Ethik ist ihnen noch nicht bekannt. Kinder unterscheiden noch nicht so recht zwischen Wahrheit und Lüge.

Vernunft, Toleranz und die Wahrheit scheinen in der Gegenwart für Politiker oftmals Fremdworte zu sein; auch für erwachsenen Bevölkerungskreise. Gesetze der Natur und der Evolution werden zu spät oder erst nach Katastrophen wahrgenommen. Beispielsweise bestimmen Erkenntnisse aus den Folgen von Kriegen erst nach dem Ereignis die Handlungen der Politik, zumindest für kurze Zeiten. In ähnlicher Weise reagieren Politiker auf die Zerstörung der Natur. Vernunft ist nicht erkennbar, wenn die Vorsitzende einer staatsführenden Partei dafür plädiert, dass Deutschland mehr Bundeswehr im Ausland braucht (BLZ. 8.11.2019) oder reif für eine Kontrollmacht in Syrien sei.

Ein Blickwinkel, der lange Zeiträume erfasst, kann zu erhellenden Erkenntnissen führen. So zieht eine Karawane seit reichlich 500 Jahren nach der Landung von Kolumbus ihren Weg durch Lateinamerika, um das Ziel eines würdigen Lebens (Buen Vivir) im großen Vaterland (Patria Grande) zu erreichen.

Der 2018 gewählte Präsident Mexikos, Andrés Manuel López Obrador (AMLO) hat als Regierungsprogramm den Beginn einer 4. Transformation in Mexiko angekündigt. Eine Mammutaufgabe, angesichts der großen Problemberge des 125 Millionenvolkes und eines mächtigen und egoistischen nördlichen Nachbarn.

Bei der Auswahl der vorangegangenen 3 Transformationen hat der Präsident Entwicklungen solche in den Blick genommen, die für den Erhalt der Souveränität Mexikos bedeutsam waren.

Die Erste Transformation war für AMLO die nationale Befreiung vom spanischen Kolonialregime 1812. Sie gab die Hoffnung, dass die Ergebnisse der Arbeit dem Land zugutekommen und die natürlichen Schätze der eigenen Entwicklung dienen könnten. Die ersten 50 Jahre der Unabhängigkeit waren außerordentlich kompliziert. Machtkämpfe um die Führung im Land und eine fortdauernde wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ausland als Rohstofflieferant und fehlender eigener Produktionsstrukturen bestimmten die Lage. Notwendige Importe, auch von Waffen, führten zu Auslandschulden bei Frankreich, England, Belgien u.a., die fristgemäß nicht bezahlt werden konnten.

Als Zweite Transformation stuft AMLO die Präsidentschaft von Benito Juárez (1858 bis 1861) ein. Präsident Juárez, der erste indigene Präsident mit zapothekischen Wurzeln, hat erfolgreich die Versuche der Habsburger Heiligen Allianz und Frankreichs abgewehrt, Mexiko erneut dauerhaft in Abhängigkeit zu bringen. Der Österreicher Maximilian I. saß bereits als Herrscher für mehrere Jahre im Land. Das Militär des Präsidenten hat ihn entmachtet, worauf Frankreich eine Militärintervention, mit der Begründung organisierte, von Mexiko Schulden einzutreiben. Die Niederlage der ausländischen Kräfte bewahrte Mexiko, erneut in eine politische Abhängigkeit zu geraten. Wirtschaftlich war die Folgezeit weiterhin kompliziert. Die Abhängigkeit vom Ausland war allgegenwärtig. Im spanischen Besitz befindliche Latifundien bestimmten die Landwirtschaft, ein hauptsächlicher Wirtschaftszweig des Landes. Ein Bauernstand konnte sich nicht entwickeln. Die Indigenas und Mestizen besaßen kein Land. Die aufgezwungenen Grundbücher wiesen nur Spanier als Besitzer aus. Landarbeiter erhielten kein Lohngeld. Ihren Bedarf haben sie gegen Eintragungen in Schuldbüchern der Hacienda gedeckt, worin auch Mietsschulden eingetragen wurden. Solche Verschuldungen blieben über Generationen bestehen. An Schulbildung der Kinder war nicht zu denken. Die Gesundheitsbetreuung oblag den Schamanen und Kräuterfrauen. Diese Umstände und der fehlende Besitz bebaubaren Bodens zur Eigenversorgung der Landarbeiterfamilien führten zur nächsten Transformation. In der Zeit der zweiten Transformation verlor Mexiko knapp die Hälfte seines Territoriums in einem von den USA aufgezwungenem Krieg. Texas, Arizona, Kalifornien, New Mexiko, Teile von Nevada und Utah gehörten einst zu Mexiko.

Die Dritte Transformation begann mit der Bauernrevolution unter der Führung von Zapata und Madero um Land und Freiheit (Tierra y Liberdad). Sie fand etwa zeitgleich mit den revolutionären Ereignissen in Russland in den Jahren 1911/1917 statt. 2 Bauernrevolutionen, die die Welt veränderten.

Größte Errungenschaften wurden die beginnende Landverteilung und die Verfassung von 1917. Die Verfassung galt als die modernste und weitgehendste Konstitution der bürgerlichen Welt. Sie versprach eine Agrarreform, den 8 Stundentag, Sozialversicherungen für Lohnabhängige und schützte Naturressourcen vor ausländischer Ausbeutung. Wichtige Bereiche (Erdöl, Energie u.a.) wurden für das ausländische Kapital komplett gesperrt. Der Nordnachbar hat das seit Jahren heftig attackiert und 2017/18 auch Erfolge im Erdölsektor mit seiner rauen Art durchgesetzt. Das heutige Verhältnis zu Mexiko wird auch in die Mauerpolitik von Präsident Trump sichtbar.

1976 hat Mexiko der UNO die Schaffung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ vorgeschlagen und zunächst eine breite Zustimmung von der Zweiten und Dritten Welt erfahren. Die Länder der Ersten Welt, die westlichen Industrieländer; brachten das Projekt Mexikos zum Scheitern.

Die Bewegung der Zapatisten in Chiapas. Die Zeiten nach der Revolution 1917 waren voller komplizierter Situationen zum nördlichen Nachbarn. Dafür sorgte auch die Bewegung der Zapatisten um Landbesitz und Selbstbestimmung.

Die Verkündung einer weiteren, der vierten Transformationsphase verdient die Hochachtung Lateinamerikas. Sie weckt aber auch Erwartungen in der Bevölkerung Mexikos und der solidarischen lateinamerikanischen Gemeinschaft.

Alle sind gespannt, zu welchen Ergebnissen die 100 Entwicklungsprojekte der Regierung von AMLO führen werden und welche Lösung die Grenzfrage zwischen Mexiko und den USA erhalten wird. Mit provokativen Stolpersteinen muss gerechnet werden.

Unter weltweiter Beobachtung stehen die Entwicklungen Lateinamerikas in Richtung einer Patria Grande. Es gibt Fragen, ob die Vereinbarungen der CELAC, der UNASUR oder des ALBA Verbundes halten. Heftigen Druck üben die USA mit Unterstützung der EU gegenwärtig gegen Venezuela, Kuba und Nikaragua aus. Bolivien, Ecuador, Argentinien stehen im Fadenkreuz. In Brasilien haben die USA dem Kompass eine andere Richtung nach rechts geben können. In Kolumbien lassen sie keinen echten Frieden zu. Das Volk in Chile protestiert seit vielen Wochen gegen die desaströse neoliberale Politik der Regierung. „Wir haben jede Würde verloren, jetzt auch die Angst“, steht auf Transparenten der chilenischen Demonstranten.

Der Konflikt beider Systemmodelle ist aus ihrem Charakter erkennbar. Die einen stehen für den Profit getriebenen Gruppenegoismus. Die anderen für humane Würde, der solidarischen Gleichheit und den Anspruch, den Weg selbstbestimmt gehen zu können. Zwischentöne sind mit Reformen möglich, bringen aber keine Dauerlösungen.

Transformationen und das Recht, selbstbestimmt den Weg zu wählen, bringen mit Vernunft und Toleranz den Fortschritt voran, immer dann, wenn der Gegenpart auf Boykott und Sanktionen verzichtet.

Im lateinamerikanischen Ringen um ein würdiges Leben ist erfreulich festzustellen, dass Papst Franzisco I., als eine weltweite Autorität, mit Vernunft und Toleranz die Bewegung der Länder wohlwollend betrachtet. Im Gegensatz dazu agiert die evangelikale Kirche, die ihre Heimat in den USA hat, für den Erhalt der alten Verhältnisse der Unwürde. Mit Schwerpunkt Brasilien ist sie in mehreren Ländern Lateinamerikas tätig.

Vernunft und Toleranz der machtausübenden Politiker könnten dazu beitragen, dass die Bevölkerung in Lateinamerika künftig in Würde ihren Alltag erleben kann.