Die selbsternannte Putschpräsidentin Boliviens, Jeanine Áñez, bedankt sich bei der Bundesregierung für ihre Anerkennung und stellt den Streitkräften des Landes eine Lizenz zum Töten bei der Niederschlagung von Protesten aus. Bei Operationen „zur Wiederherstellung der inneren Ordnung“ seien die bolivianischen Militärs „von strafrechtlicher Verantwortung befreit“, heißt es in einem Dekret, das Áñez am Freitag unterzeichnete. Am selben Tag wurden bei Protesten in Cochabamba gegen den Putsch mindestens neun Demonstranten erschossen. Zuvor hatte das Auswärtige Amt in Berlin Áñez offiziell als „Interimspräsidentin von Bolivien“ bezeichnet.

Während Beobachter vor einer Eskalation der Gewalt bis hinein in einen Bürgerkrieg warnen, haben die neuen Machthaber in La Paz – weit davon entfernt, sich auf Neuwahlen zu konzentrieren – umgehend angefangen, Bolivien außenpolitisch vollständig neu zu positionieren. Mit faktischer Billigung Berlins treiben sie Kuba und Venezuela noch mehr in die Isolation. Der Sturz der Regierungen beider Länder ist erklärtes Ziel Washingtons.

Anerkennung via Twitter

Die selbsternannte bolivianische Putschpräsidentin Jeanine Áñez bedankt sich bei der deutschen Regierung für ihre Anerkennung. Das Auswärtige Amt hatte bereits am Donnerstag via Twitter erklärt, man „begrüße“, dass Áñez „als Interimspräsidentin von Bolivien“ angekündigt habe, innerhalb von drei Monaten Wahlen anzusetzen. Áñez antwortete noch am selben Tag ebenfalls via Twitter, sie sei der Bundesregierung für die Mitteilung dankbar und verstehe sie als „Unterstützung für unsere Interimspräsidentschaft“. Gleichzeitig bedankte sie sich bei US-Außenminister Mike Pompeo. Dieser hatte sie dafür gelobt, dass sie „die Rolle“ der Interimspräsidentin „angenommen“ habe. Tatsächlich hält Áñez den Posten illegal: Präsident Evo Morales wurde durch Drohungen der bolivianischen Armeeführung aus dem Land gejagt, ist also Opfer eines Putsches; zudem wurde sein von den Militärs erzwungenes Rücktrittsschreiben nicht, wie es Boliviens Verfassung ausdrücklich fordert, vom Senat akzeptiert. Morales ist rechtlich noch im Amt.

Wie in Österreich oder Wisconsin

Die faktische Anerkennung von Áñez als „Interimspräsidentin“ Boliviens durch Berlin ist umso bemerkenswerter, als für die Legitimation des Umsturzes – angeblich eklatante Wahlfälschungen – nicht nur weiterhin Beweise fehlen; tatsächlich gehen namhafte Experten mittlerweile sogar davon aus, dass allenfalls marginale Unregelmäßigkeiten vorliegen, wie sie auch bei Wahlen in Europa und den USA zu verzeichnen sind. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hatte Morales‘ Sturz am 10. November mit einem vorzeitig präsentierten, vorläufigen Bericht beschleunigt; darin wollte sie „Hinweise auf Unregelmäßigkeiten“ bei der Übermittlung von 78 Ergebnisprotokollen erkannt haben – „0,22 Prozent aller Protokolle“, wie das auf Lateinamerika spezialisierte Portal amerika21 berechnet hat.[1] Wie amerika21 weiter berichtet, kommt das Washingtoner Center for Economic and Policy Research (CEPR) in einer eigens angefertigten Analyse zu dem Schluss, bei den Auszählungsergebnissen seien keine Ungereimtheiten zu entdecken. Zudem urteilt Walter Mebane, ein Spezialist für Wahlfälschungen an der University of Michigan in Ann Arbor, es habe statistische Unregelmäßigkeiten lediglich in 274 der insgesamt 34.551 Wahllokale gegeben; die dabei festzustellenden Muster kenne man in ähnlicher Form von Wahlen aus Honduras, Österreich oder dem US-Bundesstaat Wisconsin. Einen Zweifel daran, dass Morales‘ Vorsprung über zehn Prozent betragen habe, ließen die Daten nicht zu.[2]

Lizenz zum Töten

Hinzu kommt, dass die vom Auswärtigen Amt als „Interimspräsidentin“ titulierte Áñez bereits am Freitag ein Dekret unterzeichnet hat, das den Streitkräften freie Hand bei der Niederschlagung von Protesten gibt. Seit dem Putsch durch Boliviens weiße Elite kommt es zu Demonstrationen, Streiks und Straßenblockaden; sie werden vorwiegend von der indigenen Bevölkerung des Landes abgehalten, die Morales weithin unterstützt und Áñez‘ Abtritt fordert – binnen 48 Stunden, hieß es gestern. Die Blockaden führen inzwischen dazu, dass in La Paz Treibstoff und einige Lebensmittel knapp werden. Áñez verlangt die umgehende Beendigung der Proteste. Die Zahl der Todesopfer bei ihrer Niederschlagung ist gestern auf 23 gestiegen. Allein am Freitag kamen in Cochabamba beim Einsatz der Repressionskräfte gegen Demonstranten mindestens neun indigene Bolivianer zu Tode; alle wiesen Schussverletzungen auf.[3] Bereits zuvor waren Demonstranten in El Alto einem Einsatz von Polizei und Militär zum Opfer gefallen. Unklar ist, ob das mörderische Vorgehen der Repressionskräfte mit dem am Freitag von Áñez unterzeichneten Dekret in Verbindung zu bringen ist. In dem Dokument, das online einsehbar ist, heißt es nicht nur, „alle öffentlichen und privaten Organisationen und Institutionen des Staats“ müssten sich bei Bedarf „den Kräften von Militär und Polizei zur Verfügung stellen“.[4] Es heißt darüber hinaus, alle Angehörigen der Streitkräfte, die an Operationen „zur Wiederherstellung der inneren Ordnung“ teilnähmen, seien „von strafrechtlicher Verantwortung befreit“. Dies wird als Freibrief für die Militärs bei ihrem Vorgehen gegen die Demonstranten eingestuft. Kritiker sprechen von einer „Lizenz zum Töten“ und warnen ausdrücklich vor einem Bürgerkrieg.

Außenpolitisch umgepolt

Unterdessen haben die selbsternannte „Interimspräsidentin“ und ihre eigenmächtig eingesetzte „Regierung“ weitreichende Maßnahmen eingeleitet. Geht es ihnen offiziell darum, ein angeblich gefälschtes Wahlergebnis zu korrigieren, so bestanden ihre ersten Aktivitäten jenseits der blutigen Niederschlagung der Proteste darin, Bolivien außenpolitisch vollständig neu zu positionieren und dabei vor allem Maßnahmen gegen Kuba und Venezuela einzuleiten. So müssen die mehr als 700 kubanischen Ärzte, die bislang dazu beitrugen, die bolivianische Gesundheitsversorgung zu verbessern, umgehend das Land verlassen. Es handelt sich offenkundig um Schritte, die unter rechten Regierungen auf dem Subkontinent abgesprochen sind; bereits zuvor hatten Brasilien und vergangene Woche auch Ecuador ähnliche Schritte eingeleitet. Der Einsatz kubanischer Ärzte kommt nicht nur verarmten Bevölkerungsschichten zugute; er trägt auch dazu bei, die Staatskasse Kubas zu finanzieren, das von der US-Totalblockade schwer geschädigt wird und sich nun auch noch völkerrechtswidriger extraterritorialer US-Sanktionen zu erwehren hat (german-foreign-policy.com berichtete [5]).

Putschisten unter sich

Darüber hinaus haben die neuen Machthaber in La Paz nicht nur begonnen, den diplomatischen Dienst des Landes vollständig umzukrempeln; so sind rund 80 Prozent der Botschafter Boliviens entlassen worden.[6] Zudem ist Boliviens Mitgliedschaft in dem von Venezuela gegründeten Bündnis ALBA („Alternativa Bolivariana para los pueblos de Nuestra América“) beendet worden. Die Putschregierung hat die diplomatischen Beziehungen zu Venezuela abgebrochen sowie die Mitarbeiter der venezolanischen Vertretungen aus dem Land ausgewiesen.[7] Dafür hat Áñez den venezolanischen Putschisten Juan Guaidó bereits am Donnerstag als „Präsidenten“ seines Landes anerkannt; Guaidó hatte dies am Tag zuvor mit Áñez getan.

Tabula rasa

Guaidó, den auch die Bundesregierung als „Präsidenten“ Venezuelas anerkennt, hat an diesem Wochenende zum wiederholten Mal zum Putsch in Caracas aufgerufen. Die Streitkräfte seien „der Faktor, der uns heute fehlt“, erklärte Guaidó bei einer Kundgebung vor einigen Tausend seiner Anhänger, die – ähnlich wie in Bolivien – vorwiegend den alten weißen Eliten des Landes entstammen und den Sturz einer Regierung fordern, die sich stark auf indigene Bevölkerungsteile und auf die Unterschichten stützt. Die Militärs sollten endlich „eine Entscheidung fällen“, forderte Guaidó.[8] Die Putschwelle zielt darauf ab, die letzten Regierungen Lateinamerikas, die nicht von den alten weißen Eliten getragen werden und nicht neoliberal orientiert sind, zu stürzen; dabei handelt es sich um ein offen erklärtes Ziel der Trump-Administration. Die Bundesregierung trägt dies mit der Anerkennung des Putschisten Guaidó sowie mit der De-facto-Anerkennung der Putschistin Áñez mit.

Mehr zum Thema: Berlin und der Putsch und Der Pakt der weißen Eliten.


[1], [2] Vilma Guzman, Jonatan Pfeifenberger: Bolivien: Kuba zieht Personal ab, unabhängige Berichte sehen keinen Wahlbetrug. amerika21.de 16.11.2019.
[3] Bajo pedidos de dimisión, Añez intenta cesar manifestaciones en Bolivia. elcomercio.com 17.11.2019.
[4] Carta blanca para la represión y la impunidad en Bolivia. pagina12.com.ar 16.11.2019.
[5] S. dazu Die Ära der Sanktionskriege (II).
[6] Gobierno retira a Bolivia de la ALBA y cesa a un 80% de los embajadores de Evo. opinion.com.bo 15.11.2019.
[7] Delegación diplomática de Venezuela en Bolivia vuelve a su país. opinion.com.bo 17.11.2019.
[8] Guaidó insistió con que los militares se rebelen. lmneuquen.com 17.11.2019.

Der Originalartikel kann hier besucht werden