Wir kurdischen Frauen haben aus unseren Erfahrungen vor allem eines gelernt – wir streiken jeden Tag, wir verweigern unsere Beteiligung am patriarchalen System. Dabei bleiben wir aber nicht stehen. Wir kämpfen jeden Tag dafür, unser eigenes System, unsere Alternative aufzubauen. Wir organisieren uns als Frauen und lernen uns jeden Tag aufs Neue kennen. Wir organisieren unsere Vielfalt. Wir organisieren unsere Hoffnungen, unsere Wünsche, unsere Träume. Wir organisieren uns in Räten und beschließen gemeinsam, was wir umsetzen wollen. Wir haben unsere eigenen Institutionen aufgebaut. Wir haben unsere eigenen Fernsehsender, unsere eigene Presse, unsere eigene Gerechtigkeitskommission, unsere eigene Selbstverteidigung aufgebaut. Wir verstehen den Streik im Sinne von Autonomie, Streik im Sinne von Selbstwerdung, Streik im Sinne von Vertrauen in unsere eigene Kraft, Streik im Sinne von Aufbau der Alternative, und diese wollen wir gemeinsam mit euch aufbauen.
Aus der Rede des Frauenrates Rojbin Hamburg auf der Abschlußkundgebung zum Frauenstreik am 8. März in Hamburg.

Obgleich einer der beeindruckendsten Beiträge dieses bewegten Tages, schienen einige junge Aktivistinnen vom kämpferischen Tonfall der Rede, die auf der Abschlußkundgebung der Demonstration zum Frauenstreik in Hamburg an der Binnenalster gehalten wurde, etwas überfordert zu sein. Hier meldete sich ein Feminismus zu Wort, dessen Akteurinnen mit ganz anderen Problemen und Herausforderungen konfrontiert sind als dem, was eine weiße Frau in der Bundesrepublik zu erleiden hat. Nicht, daß das nicht schlimm genug wäre, doch kurdische Frauen kämpfen gleich an mehreren Fronten um nichts geringeres als ihre Freiheit und Existenz.

Sie entstammen meist den sehr konservativen Verhältnissen einer Gesellschaft des Mittleren Ostens, in der der Mann häufig noch auf ganz archaische Weise als Patriarch über die Familie herrscht. Sein Wort ist Gesetz, und wer dagegen aufbegehrt, riskiert, aus der sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Indem die kurdische Frauenbewegung konsequent gegen die in den Moralvorstellungen mehrheitlich islamischer Gesellschaften verankerte Herrschaft des Mannes über Frau und Kind, Politik und Gesellschaft antritt, vollzieht sie innerhalb weniger Jahrzehnte eine Entwicklung, die in den Metropolengesellschaften der kapitalistischen Moderne seit über 100 Jahren in Gang und längst nicht abgeschlossen ist.

Zugleich kämpfen Kurdinnen für ein Leben, in dem sie nicht als Staatsbürgerinnen zweiten Ranges den Gebrauch der eigenen Sprache und anderer kultureller wie politischer Freiheiten erstreiten müssen. Daß sie dies im Rahmen einer Freiheitsbewegung tun, deren Initiator und Vorsitzender seit fast 20 Jahren vom türkischen Staat auf der Gefängnisinsel Imrali festgehalten und isoliert wird, kann als übergreifendes Symbol für die Repression verstanden werden, denen Menschen kurdischer Herkunft in fast allen Ländern, in denen sie leben, auf die eine oder andere Weise ausgesetzt sind. Obwohl die 1978 in der Türkei von jungen kurdischen SozialistInnen um Abdullah Öcalan gegründete PKK längst keine marxistisch-leninistische Kaderpartei mehr ist und immer wieder versucht hat, Frieden mit den kemalistischen Regierungen in Ankara zu schließen, wird sie bis heute auch in der Bundesrepublik als terroristische Organisation kriminalisiert.

Davon unbeirrt beruft sich die kurdische Frauenbewegung auf Öcalan als denjenigen, der sie zu ihrem Kampf ermutigt und ihm Flügel verliehen hat. Die Bezugnahme auf einen als Mann identifizierten Vordenker und Politiker irritiert westliche Feministinnen nur, wenn sie die Biologie absolut setzen und ihr den Universalismus des Kampfes um Freiheit und Autonomie nachordnen. Als aus einer nationalen Befreiungsbewegung antikolonialistischer Art, die ihre Zukunft inzwischen im demokratischen Konföderalismus einer nicht mehr national und staatlich gebundenen Organisation der Gesellschaft sieht, hervorgegangene Bewegung sind die kurdischen Frauen einer revolutionären Tradition verpflichtet, die die Überwindung des Patriarchats als Zukunftsaufgabe aller fortschrittlichen und freiheitlichen Kräfte versteht. Daß die organisatorische Unterscheidung in Männer und Frauen nach wie vor relevant ist, entspricht dem Verlaufscharakter dieses Kampfes und der Notwendigkeit, Schutzräume für Frauen zu schaffen, in denen sie ihre Entwicklung „autonom und losgelöst von männlichem Einfluss, sei es in Form von Männern, patriarchalen Gedanken oder Gefühlen organisieren“ können, heißt es in einem Reader der Studentinnen der autonomen Frauenorganisierung des Verbands der Studierenden aus Kurdistan, JXK.

Frauenstreik – Frontverwandtschaften

… Frauensolidarität (Bild von © 2013 by Schattenblick)

In dieser Auseinandersetzung geht es mithin nicht um die bloße Gleichstellung und Integration von Frauen in eine patriarchalisch organisierte Gesellschaft, wie etwa beim Gender Mainstreaming in den gesellschaftlichen Institutionen der Bundesrepublik oder bei der Gleichstellungspolitik der Bundeswehr, die dadurch nicht aufhört, sich an imperialistischen Kriegen zu beteiligen. Der Schritt, der mit der Wandlung der kurdischen Freiheitsbewegung vom Ziel der Durchsetzung eines Nationalstaates Kurdistan zu einer Befreiungsbewegung nicht nur kurdischer Frauen in einem demokratisch-ökologischen Gesellschaftsmodell unternommen wurde [1], stellt die jahrtausendealten Traditionen patriarchaler Herrschaft in allen Bereichen kapitalistischer Gesellschaftsordnung, akademischer Wissensproduktion und ökonomischer Ausbeutung von Mensch und Natur in Frage.

Da diese Entwicklung in der militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat begann und sich im Krieg mit dem IS in Rojava und Nordsyrien fortsetzte, stellte sich die Frage, welche Rolle Frauen in diesen Kriegen einnehmen sollten. Mit dem Aufbau einer Frauenarmee Mitte der 1990er Jahre [2] und der Frauenverteidigungskräfte YPJ im nordsyrischen Rojava stellen die Kurdinnen auch auf ganz praktischer Ebene die Herrschaft des Patriarchates in Frage. Vor die Wahl gestellt, sich weiterhin von einem Haustyrannen unterdrücken, von Vergewaltigern schänden oder Staatsagenten foltern zu lassen, handelt es sich dabei um einen emanzipatorischen Akt besonderer Art. So ist die YPJ integraler Bestandteil der Frauenselbtsorganisation im nordsyrischen Rojava als auch ein wichtiger Faktor bei der Bekämpfung der Kämpfer des IS und der Verteidigung der Region gegen weitere Übergriffe der türkischen Streitkräfte.

Was in diesem von Großmachtinteressen bedrohten wie regionalen Akteuren umkämpften Teil des Nahen und Mittleren Ostens an praktischer Frauenbefreiung stattfindet, ist angesichts der aktiven Überwindung althergebrachter, durch patriarchale Dominanz gesicherter Herrschaftsverhältnisse von großer Tragweite für all diejenigen, die auf vergleichbare Weise unterdrückt werden. Eine aufschlußreiche Schilderung der Entwicklung der kurdischen Frauenbefreiungsbewegung ist die 2016 erstmals im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlte arte-Koproduktion „Der Freiheitskampf der Kurdinnen“ [3]. Regisseurin Mylène Sauloy erinnert insbesondere an die am 4. Januar 2013 in einem mutmaßlich staatsterroristischen Anschlag zusammen mit Fidan Dogan und und Leyla Saylemez ermordete Mitbegründerin der PKK und Vorkämpferin der kurdischen Frauenbewegung, Sakine Cansiz.

In dem Redebeitrag des Rojbin Frauenrates Hamburg erfuhren die Aktivistinnen des Frauenstreikes am 8. März [4] gleich zu Beginn, daß kurdische Frauen alle Gründe der Welt haben, diese Welt zu bestreiken und zu verändern. „Unsere Dörfer wurden niedergebrannt, unsere Familienmitglieder entführt und ermordet. Wir wurden aufgrund unserer Identität als Kurdinnen und aufgrund unserer politischen Arbeit verfolgt. Viele von uns wollten ihre Heimat nicht verlassen, sondern wurden dazu gezwungen, unter anderem aufgrund der Interessen des deutschen Staates.“ Damit nicht genug, für die in die Bundesrepublik Geflüchteten, die die zweitgrößte Migrantinnengruppe des Landes stellen, setzt sich die Ausgrenzung fort, unter anderem weil sie genötigt werden, die Sprache der Unterdrücker zu sprechen, weil die Ämter nur Übersetzungen ins Türkische anbieten.

Als migrantische Frauen bereits mit Rassismus und Sexismus konfrontiert werden kurdische Aktivistinnen auch noch vom deutschen Staat, der eng mit dem Regime Erdogans kooperiert, mit politischer Verfolgung überzogen. Die Drohung mit Abschiebung ist ein probates Mittel, um ihre politischen Aktivitäten zu unterdrücken. Ihre Symbole, Parolen und Demonstrationen werden ohnehin kriminalisiert und verboten. Die umfassende Zerstörung kurdischer Dörfer und Städte durch das Erdogan-Regime wurde in Politik und Medien mit dem angeblich terroristischen Charakter der kurdischen Freiheitsbewegung rechtfertigt. In einer kurzen Phase, in der die YPJ-Kämpferinnen Kobane verteidigten, waren ihr Bild allgegenwärtig. Inzwischen sind sie wieder aus der Öffentlichkeit verschwunden, und die Tatsache, daß die Befreiung der IS-Hochburg Raqqa von einer Frau angeführt wurde, findet ebensowenig Erwähnung, als ein deutscher Außenminister es für notwendig hält, den Tod zahlreicher kurdischer KämpferInnen im Kampf gegen den IS zu würdigen.

Frauenstreik – Frontverwandtschaften

„Jin Jiyan Azadi! Frauen Leben Freiheit!“ (Bild von © 2019 by Schattenblick)

Um so größer ist die Ignoranz gegenüber den Fortschritten des gesellschaftlichen Wandels in Rojava und Nordsyrien. Davon wollen die JournalistInnen der bürgerlichen Presse nichts wissen, könnte sich doch herausstellen, daß dort unter weit schwierigeren Bedingungen entscheidende Schritte zum Aufbau einer gerechten und ökologischen Gesellschaft getan werden als in einer Bundesrepublik, in der eigentlich alle materiellen und politischen Voraussetzungen dafür gegeben wären. Wer sich dennoch, wie die feministische Filmemacherin Uli Bez, für die Sache der Kurdinnen einsetzt, kann schon wegen vermeintlichen Kleinigkeiten vor Gericht landen. Weil sie ein Facebook-Posting teilte, auf dem eine Fahne der YPJ zu sehen war, wurde sie in München wegen Verstoßes des Vereinsgesetzes angeklagt. Ihr jetzt erfolgter Freispruch wurde von der Staatsanwaltschaft mit der Ankündigung quittiert, in Berufung zu gehen [5].

Dieses eine Beispiel für Dutzende von Verfahren wegen Verstoßes gegen ein regelrechtes Bilderverbot, mit dem die kurdische Befreiungsbewegung unsichtbar gemacht wird, wendet die Kumpanei der Bundesregierung mit dem Erdogan-Regime gegen alle BürgerInnen der Bundesrepublik, die sich solidarisch mit einem Kampf zeigen, bei dem es um weit mehr als geostrategische Interessen geht. So sparte auch die Rednerin des Frauenrates nicht mit Kritik an der Kollaboration der Bundesregierung mit der AKP-Regierung, die Hunderte von Frauenorganisationen verboten und die weiblichen Kobürgermeisterinnen türkischer Städte allesamt durch männliche Statthalter ersetzt hat.

Seit dem 8. November 2018 befindet sich die kurdische Parlamentsabgeordnete Leyla Güven im Hungerstreik. Sie verlangt die Aufhebung der Isolationshaft von Abdullah Öcalan und die Aufnahme von Friedensgesprächen seitens der Türkei. Dabei wird sie durch inzwischen 7000 politische Gefangene in türkischen Gefängnissen und solidarischen AktivistInnen in anderen Ländern unterstützt. Mit dem Aufruf zur Solidarität mit allen politischen Gefangenen und dem solidarischen Streik und Kampf der Frauen für ein Leben in Freiheit und Würde endete die von viel Zustimmung und Beifall begleitete Rede, mit der auch der lange Tag des Frauenstreikes am 8. März in Hamburg allmählich ausklang.

Fußnoten:
[1] https://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/hintergrund/frauen/pja/0050.htm
[2] https://www.frsh.de/fileadmin/schlepper/schl_83/s83_42_45.pdf
[3] https://www.youtube.com/watch?v=XuNoecGUjWE
[4] http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0119.html
[5] https://www.jungewelt.de/artikel/352535.freispruch-f%C3%BCr-feministin.html

Der Originalartikel kann hier besucht werden