Der Feudalismus verlor im Zuge der Aufklärung im 18. und 19. Jahrhundert seine Bedeutung. Verschwunden ist die Herrschaftsform aber selbst in der digitalisierten Gesellschaft nicht, meint Jairo Gomez und beschreibt die Wandlung eines Chamäleons.

Der Nebel lichtet sich, es wird hell und das Bild wird schärfer. Was ich sehe, gefällt mir ganz und gar nicht. Nein, es ist keine Landschaft, die ich an einem Herbstmorgen zu sehen bekomme. Was ich vor mir sehe, ist die Realität der Welt.

Und was sich dort lichtet, ist auch kein Nebel, sondern es sind die Spinnweben, die ich begonnen habe zu zerreißen. Spinnweben, die durch ihre Klebrigkeit ein Lügenkonstrukt während meines ganzen bisherigen Lebens zusammengehalten haben.

Wenn ich auf die Geschichte des letzten Jahrhunderts zurückblicke, so erscheint ein Großteil der heutigen Geschehnisse in einem völlig anderen Licht. Sie verändern sich wie Berggipfel bei einem Sonnenuntergang. Konturen verändern sich, manche werden schärfer, andere unschärfer. Details, die man vorher nicht gesehen hat, fallen einem plötzlich ins Auge und umgekehrt.

Es ist auch meine Geschichte, die ich sehe, meine Entwicklung … und jetzt ist es auch meine Enttäuschung, allerdings in dem Sinne, dass ich nicht mehr der großen Täuschung erlegen bin. Demokratie, wie man uns Glauben machen wollte und will, existiert nicht und hat meines Erachtens nie wirklich existiert.

Proteste gegen Startbahn West

Könige, Adlige und Feudalherren sind nicht wirklich verschwunden, man nennt sie heute nur anders. Die alten Begriffe würden nicht zur Mogelpackung passen. Also wurde nach außen hin aus Königen, Kaisern und Adelsstand, Oligarchen, Finanzadel und Präsidenten. An den tatsächlichen Machtverhältnissen hat sich jedoch nie wirklich etwas verändert. Ich glaube nicht, dass es allzu viel mit einer Verschwörungstheorien zu tun hat, wenn ich behaupte, dass es schon immer die Superreichen waren, die die Geschicke der Völker aus dem Hintergrund lenkten.

Es ist noch nicht so lange her, dass die Mainstream-Medien für mich das Monopol auf die Wahrheit hatten. Was sie verbreiteten und ihre Moderatoren sagten, war für mich eine Tatsache und ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass in der ARD oder im ZDF Propaganda betrieben würde. Immerhin hatte man als Vergleich zu den seriösen Sendeanstalten die privaten Bespaßungskanäle.

Allerdings war meine Überzeugung, wir würden in einer Demokratie leben früh ins Wanken geraten. Die ersten Risse traten auf, als die Proteste gegen die Startbahn West erfolglos blieben und später auch die Proteste gegen Atomkraft, Atommeiler und Castortransporte faktisch verpufften. War des Volkes Stimme nichts mehr wert?

Michail Gorbatschow verändert die Welt

In den 1980er-Jahren war ich ziemlich unpolitisch, deswegen maß ich dem nicht so viel Bedeutung bei. Wo die wirklich Bösen waren, das war ja klar. Im Osten. Somit hatte, um den Kabarettisten Volker Pispers zu zitieren, „… der Tag Struktur.“ Die Welt war noch lange in Ordnung. Tatsächlich hatte man den Eindruck (auch jene, die unpolitisch waren), auf ein Happy End zuzusteuern. Als Michail Gorbatschow die internationale politische Bühne betrat, war plötzlich jemand unter den Bösen, der von Abrüstung sprach, von Völkerverständigung und Freundschaft, Transparenz und Umbau.

RIAN_archive_359290_Mikhail_Gorbachev

Michail Gorbatschow war von März 1990 bis Dezember 1991 Staatspräsident der Sowjetunion. Durch seine Politik der Glasnost (Offenheit) und der Perestroika (Umbau) leitete er das Ende des Kalten Krieges ein. (Foto: RIA Novosti archive)

Das konnte doch nur gut enden. Immerhin wehten die „Winds of change“ durch Europa und der Welt. Ein Diktator nach dem anderen verschwand, die Völker emanzipierte sich überall und es gab Politiker, denen man glauben schenkte. Gorbatschow, Lech Walesa, Nelson Mandela: Drei Glanzlichter einer internationalen Politik, die allen Menschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft machte. Der Kreml war nicht mehr düster und selbst für die Amerikaner schien der russische Wodka auch ganz o.k. zu sein. 1989 erreichte die Aufbruchstimmung ihren vermeintlichen Höhepunkt mit dem Fall der Berliner Mauer. Das Ereignis wurde aber noch getoppt, als sich gut ein Jahr später die Wiedervereinigung Deutschlands vollzog.

Die Sowjetunion zog alle Truppen aus dem vereinten Deutschland und später auch aus den Gebieten des Warschauer Pakts ab. Der Kalte Krieg war vorbei. Nur eine Sache war nicht vorüber: Im Hintergrund regierte wie eh und je das Geld. Die ehemalige DDR wurde meines Erachtens förmlich verhökert. Firmen, die sicherlich einer Modernisierung bedurften, aber dennoch eine reale Überlebenschance auf dem Markt gehabt hätten, fielen dem schon damals aktiven neoliberalen Treiben zum Opfer. Begleitet wurde dieser Vorgang vom sozialen Kahlschlag.

Wachstum und Wettbewerb

Die Worte Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit wurden im Westen ähnlich gewichtet wie in Russland Glasnost und Perestroika. Allerdings wurde immer deutlicher, dass wenn von Wettbewerb und Wachstum die Rede war, dies von Massenentlassungen und Firmenschließungen begleitet wurde. Wer es gewollt hätte, der hätte ganz bewusst einer historischen Entwicklung beiwohnen können. Die Politik unterwarf sich dem Primat der Wirtschafts- und Finanzwelt.

Beitrag - Neue Debatte - Demokratie und Feudalismus - geralt - pixabay.com - CC0 Public Domain

Der Großteil der Bürger konnte und wollte diesen Schritt nicht sehen. Zum einen, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte und zum anderen, weil die unglaubliche Dynamik jener Jahre, die Menschen in ihren Bann hielt und, ja, ihre Blicke vernebelte.

Der PC für jedermann, billige Flugtickets, Reisen durch Europa, ohne von Grenzen aufgehalten zu werden. Banken vergaben schnell und unkompliziert Kredite. Haus, Urlaub, Auto, Konsum, Konsum, Konsum … Alles schien und war möglich. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, verband plötzlich das Internet die ganze Welt miteinander. Jeder konnte tatsächlich in Echtzeit mit Menschen am anderen Ende der Welt kommunizieren und sich austauschen.

Das Chamäleon wechselt nur die Farbe

Meines Erachtens ist das Internet Fluch und Segen zugleich. In ihm ist das gesamte Wissen der Menschheit abgebildet und für nahezu jeden zugänglich. Das ist sicherlich bemerkenswert, da jeder der es will, seinen Wissenshorizont in kaum gekanntem Maß erweitern kann. Allerdings ist er dabei auch extrem gefordert, um die Masse an Informationen in Spreu und Weizen zu trennen.

Die Grenzen von Wahrheit und Dichtung verschwimmen schnell zu einer Grauzone, in der um die Deutungshoheit gebuhlt wird. Vom einfachen Blogger bis zu den establishmentnahen Medien nimmt jeder für sich in Anspruch, ein existierendes Weltbild zu transportieren. Orientierung fällt da schwer.

Was haben nun der Feudalismus und das Chamäleon in dieser Melange aus Historie und digitalem Fortschritt verloren? Nun, ich behaupte, dass der Feudalismus nie wirklich verschwunden ist. Er hat sich in die Gegenwart gerettet, indem er seine Farben der Umwelt anpasste.

Beitrag - Neue Debatte - Demokratie und Feudalismus -gugue - pixabay.com - CC0 Public Domain

Es hat im Laufe der Jahrhunderte unzählige Revolutionen gegeben, die zumeist sehr blutig verliefen und auf allen Seiten Opfer forderten. Gesellschaftliche Veränderungen haben sich dennoch vollzogen, da sich das Volk in harten Kämpfen viele Rechte sichern konnte. Der Vorgang wiederholte sich aber zigfach, auch weil die Mächtigen stets versuchten, ihre alten Positionen wieder einzunehmen und zu festigen. Die relevanten Machtstrukturen sind daher bis in die Gegenwart erhalten geblieben.

Die Methoden, um das Volk ruhig zu halten, haben sich lediglich gewandelt und sind softer geworden. Das war notwenig, da die Niederschlagung von Volksaufstände mit der blanken Waffe eine teure Angelegenheit war. Große Söldnerheere wurden angeheuert, um zum Beispiel im 16. Jahrundert die aufmüpfigen Bauern, die sich gegen Leibeigenschaft und Ausbeutung erhoben, durch im Kampf geschulte Landsknechte erst in Angst zu versetzen, um sie schließlich niederzumachen. Weitere Beispiele finden sich in der Revolution von 1848/49 oder beim Spartakusaufstand von 1919.

Mit der fortschreitenden Entwicklung und Industrialisierung, die immer mehr Menschen in die Städte zog, wurde es von Mal zu Mal schwerer, sich mit dem Instrument der Gewalt durchzusetzen. Die Arbeiter organisierten und solidarisierten sich und die Bevölkerung wurde politisch. Aggression wich der Diskussion und Geschlossenheit.

Meiner Meinung nach auch deswegen, weil die Menschen vor allem in Europa durch zwei Weltkriege geläutert waren und weil Bildung den Weg bis in die untersten Schichten fand. Der Höhepunkt dieser Entwicklung dürfte wohl in den 1970er und 1980er-Jahre erreicht worden sein. Um die Macht der Herrschenden zu erhalten, wurden also raffiniertere Methoden der Manipulation erforderlich.

Werbung und TV als Mittel der Lenkung

Staatlich beeinflusste Informationen hielt durch das Fernsehen Einzug in den Alltag und wurden flankiert durch eine ausufernde Werbung, die den Konsum predigte und dadurch oberflächliche Begehrlichkeiten wecken konnte.

Beitrag - Neue Debatte - Demokratie und Feudalismus - tookapic - pixabay.com - CC0 Public Domain

Der Bevölkerung wurde Stück für Stück die kollektive Identität geraubt. Dazu kam die Zersplitterung in unzählige Interessengruppen, was einen gemeinsamen (politischen) Widerstand so gut wie unmöglich macht. Als banales Beispiel möchte ich die Schaffung der Fußballbundesliga anführen.

Die Saison 63/64 startete mit 18 Mannschaften. 18 Möglichkeiten also, um sich mit einer Gruppe zu identifizieren. Die Bundesliga ist im Laufe der Jahrzehnte zu einem Wichtigen Faktor in der deutschen Wirtschaft geworden und zieht Massen an. Sie ist Woche für Woche ein Ventil, um Frust abzubauen oder bietet sich schlicht an, um auf andere Gedanken zu kommen. Probleme mit der Arbeit, Politik und der Familie treten im Stadion und vor dem heimischen Fernseher zeitweise in den Hintergrund.

Das unpopuläre politische Entscheidungen oft genug mit Fußballgroßereignissen wie der Europa- oder Weltmeisterschaft zusammenfallen, scheint fasst schon natürlich zu sein. Bei der WM 2006 wurde die Mehrwertsteuer erhöht, zur WM 2010 der Beitrag zur Krankenversicherung. Andere Sportarten und Events erfüllen einen ähnlichen Zweck: Es wird abgelenkt vom Wesentlichen.

Die Illusion für Erwachsene

Die Paarung aus Werbung und gelenkter medialer Meinungsbildung, kommt in meinen Augen einer gezielten Volksverdummung gleich. Die Parteien tragen ihren Teil dazu bei. In der Gegenwart kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass die etablierten Parteien sich inhaltlich nicht wirklich unterscheiden. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass sie untereinander derartig kompatibel sind, dass sie ein einheitliches System darstellen.

Gäbe es signifikante Unterschiede und klare politische Abgrenzungen, könnten sie nicht miteinander koalieren, so wie es in der Vergangenheit schon mehrfach der Fall gewesen ist. Zu Gründungszeiten, wäre es undenkbar gewesen, dass grüne und schwarz eine Koalition eingehen. Die neoliberale Schere hat es möglich gemacht, dass eine solche Allianz bei der nächsten Bundestagswahl keine Utopie mehr ist.

Beitrag - Neue Debatte - Demokratie und Feudalismus - Marc Hatot - pixabay.com - CC0 Public Domain

Eine Frage keimt deshalb in mir auf: Könnte die repräsentative Demokratie lediglich ein ausgefeiltes Instrument der Mächtigen sein? Ein Instrument der Oligarchen und des Finanzadels. Ein geschlossens System, mit dem Meinung gebildet und Stimmung erzeugt werden kann?

Seit etwa Mitte der 1980er-Jahre wechseln sich die Parteien an der Regierung ab, ohne das eine unterschiedliche Politik zu bemerken wäre. Fast könnte man denken, sie hätten sich zugearbeitet. Wäre das nicht als Hinweis zu deuten?

Schauen wir uns die Parteien im Bundestag an. Die Zahl aller Mitglieder dieser Parteien beträgt bundesweit etwa 1,2 Millionen Menschen. Das sind etwas weniger als 1,5 Prozent der Bevölkerung. Wessen Interessen werden von diesen Parteien nun tatsächlich vertreten? Wenn man die letzten Jahrzehnte der politischen Gestaltung unter diesem Aspekt betrachten wollte, viel Raum zum spekulieren bliebe da nicht. Von Volksparteien kann jedenfalls keine Rede sein.

Ein persönliches Fazit

Mein persönliches Fazit ist Folgendes: Eine die Bevölkerung beteiligende Demokratie, wie man gemeinhin denkt, existiert nicht. Es ist eine Illusion für Erwachsene, in der zwei Glaubensformeln vorherrschen. Dass nämlich eine Stimmabgabe etwas bewirken könnte und Parteien etwas ändern würden.

Keine Stimmabgabe und keine Wahl wird etwas beeinflussen und keine Partei wird etwas bewegen oder gesellschaftlichen Wandel einleiten, solange sie mit dem Establishment konform gehen. Einzig und allein das Volk kann als solidarische Gemeinschaft effektiv und dauerhaft Änderungen herbeiführen. Doch dafür müssen noch viel mehr Menschen rund um den Erdball erkennen, dass sie bisher in einer Illusion gelebt haben.

Jairo Gomez

Seit 1967 lebt der im spanischen Granada geborene Bernardo Jairo Gomez Garcia in Deutschland. Schon vor seinen Ausbildungen zum Trockenbaumonteur und Kfz-Lackierer entdeckte Gomez seine Leidenschaft für die Kunst. Er studierte an einer privaten Kunsthochschule Airbrushdesign und wechselte aus der Fabrikhalle ans Lehrerpult. 14 Jahre war Gomez als Spanischlehrer in der Erwachsenenbildung tätig. Seine Interessen gelten der Politik, Geschichte, Literatur und Malerei. Für Neue Debatte schreibt Jairo Gomez über die politischen Entwicklungen in Spanien und Lateinamerika und wirft einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland und Europa.

Fotos: FuN_Lucky, Marc Hatot, tookapicgeralt, gugue und Unsplash (alle pixabay.com) – CC0 Public Domain sowie RIA Novosti archive (Yuryi Abramochkin) – CC BY-SA 3.0

Der Originalartikel kann hier besucht werden