Die EU-Grenzschutzagentur muss mehr als 100 Fotos einer mutmaßlichen Menschenrechtsverletzung herausgeben. Nach einer von Sea-Watch zusammen mit FragDenStaat angestrengten Tranzparenzklage entschied das Europäische Gericht: Frontex darf viele Dokumente geheim halten – jedoch nicht alle.
In einem Urteil vom Mittwochvormittag hat das Europäische Gericht in Luxemburg festgestellt: Frontex hat zu Unrecht mehr als 100 Fotos im Zusammenhang mit einer möglichen Beteiligung an einer Menschenrechtsverletzung im zentralen Mittelmeer geheim gehalten.
Die Entscheidung erging, nachdem die Seenotrettungsorganisation Sea-Watch, unterstützt von FragDenStaat, im April 2022 eine Klage gegen Frontex eingereicht hatte. Im Mittelpunkt des Rechtstreits standen 73 Dokumente, die bei der Europäischen Grenzschutzagentur vorliegen. Darin geht es darum, wie Frontex mit der libyschen Küstenwache zusammenarbeitet und möglicherweise in einen illegalen Pullback verwickelt ist. Dies wäre eine eine Verletzung der Menschenrechte und des Völkerrechts. Frontex hatte den Zugriff zu allen Dokumente verweigert.
Im Laufe des Prozesses stellte das Gericht fest, dass in den beantragten Frontex-Dokumenten zahlreiche Fotos enthalten sind, die zuvor von der Grenzschutzagentur nicht offengelegt oder gar erwähnt worden waren. Unabhängig davon, ob Frontex die Bilder vergessen oder absichtlich verschwiegen hat, steht für das Gericht fest: „Indem die Existenz dieser Fotos nicht erwähnt wurde, wurde der Klägerin keine Rechtfertigung für die Verweigerung des Zugangs mitgeteilt.“ Die Weigerung von Frontex, Zugang zu diesen Bildern zu gewähren, ist daher laut Gericht ungültig.
Sea-Watch und FragDenStaat fordern Frontex auf, diese Bilder sofort freizugeben. Das Bildmaterial verteilt sich auf 29 Dokumente, darunter interne Berichte und Kommunikation von Frontex, sowie Kommunikation zwischen Frontex und externen Akteuren, wie der libyschen Küstenwache.
Die Aufnahmen können wichtige Beweise für die Rolle von Frontex bei einer Menschenrechtsverletzung im zentralen Mittelmeer im Juli 2021 darstellen.
Frontex, eine Drohne und ein Völkerrechtsverstoß
Die Dokumente, die Frontex geheim halten will, beziehen sich auf einen Vorfall, der sich am 30. Juli 2021 ereignet hatte. An diesem Tag wurden die Besatzungen des Sea Watch-Flugzeug Seabird und des Rettungsschiffs Sea Watch 3 Zeugen einer Menschenrechtsverletzung und eines möglichen Verbrechens gegen die Menschlichkeit im zentralen Mittelmeer und dokumentierten diese.
Ein Boot mit 20 Menschen an Bord hatte es geschafft, von der libyschen Küste in internationale Gewässer zu gelangen. Die Sea-Watch 3 befand sich in der Nähe und war bereit, eine Rettungsaktion durchzuführen und die Menschen in Europa in Sicherheit zu bringen.
Das in Seenot geratene Boot wurde von der libyschen Küstenwache außerhalb ihres Hoheitsgebiets abgefangen und die 20 Menschen an Bord wurden zurück nach Libyen gebracht. Dort erwarteten sie Haftbedingungen, die von deutschen Diplomaten als „KZ-ähnliche Verhältnisse“ bezeichnet wurden. Frontex beobachtete den Einsatz und koordinierte ihn mutmaßlich.
Die angeforderten Dokumente könnten Klarheit darüber schaffen, was an diesem Tag geschehen ist und welche Rolle Frontex dabei gespielt hat. Eine Analyse von Human Rights Watch und Border Forensics kam zu dem Schluss , dass Frontex wahrscheinlich die libysche Küstenwache vor Ort alarmiert und den illegalen Pullback koordiniert hatte. Durch die Klage wurde beispielsweise deutlich: Frontex liegen in Zusammenhang mit diesem Ereignis eine Vielzahl von Korrespondenzen (36 Dokumente) mit dritten Akteuren vor, einschließlich der libyschen Küstenwache.
Obwohl das Gericht feststellt, dass Frontex den Zugang zu dem Bildmaterial zu Unrecht verweigert hat, stellte es sich zugleich auf die Seite der Grenzschutzagentur und erklärte, dass die restlichen Dokumente geheim bleiben sollen. Es ist ein besorgniserregendes Urteil. Die Korrespondenz zwischen Frontex und der libyschen Küstenwache oder interne Berichte von Frontex sind wichtige Beweise, um mögliche Menschenrechtsverletzungen aufzuklären.
Indem das Gericht Frontex erlaubt, den Inhalt der Dokumente überwiegend zurückzuhalten, und Frontex in seiner Argumentation zustimmt, Transparenz würde die öffentliche Sicherheit gefährden und die Offenlegung selbst von Teilen der Dokumente eine unverhältnismäßigen Aufwand für die EU-Agentur darstellen, verfestigt sich die Straffreiheit für die Aktivitäten von Frontex.
In diesem Zusammenhang ist die Offenlegung des Bildmaterials, über das Frontex verfügt, von entscheidender Bedeutung. Es wäre ein Schritt, um eine ansonsten unkontrollierte Grenzschutzagentur für ihr Handeln zur Rechenschaft zu ziehen.
Ein Test für das neue Transparenzversprechen von Frontex
Seit März 2023 hat Frontex einen neuen Direktor. Hans Leitjens erklärte bei seinem Amtsantritt, er wolle Frontex transparenter machen. Gegenüber Medien erklärte er, dass „es nichts Geheimes an Frontex“ gebe, er eine Haltung des Nicht-Versteckens fördern wolle, die Transparenz verbessern und der „defensiven Haltungen“ der Behörde ein Ende setzen werde. „Wir können unsere Arbeit nicht machen, wenn uns nicht vertraut wird“, sagte er.
Das Urteil des Europäischen Gerichts stellt diese Versprechen auf die Probe.
Sollte die Grenzschutzagentur sich weiterhin weigern wollen, die Bilder herauszugeben, hätte sie nun zwei Monate und zehn Tage Zeit, um Berufung einzulegen. Dann würde das oberste EU-Gericht, der europäische Gerichtshof neu entscheiden müssen. Zugleich wäre dies ein deutlicher Widerspruch zum Transparenzversprechen von Frontex-Chef Leitjens.