Wann will sich die weit fortgeschrittene Moderne endlich von dem Mythos, das Gemeinwohl ergebe sich ohne Gemeinsinn ganz von selbst, befreien?

Von Fritz Reheis

Seit 50 Jahren warnen Wissenschaftler vor der Klimakrise. Seit 30 Jahren veranstaltet die Politik Klimakonferenzen. Seit 20 Jahren kennt der Deutsche Bundestag den Ernst der Lage (Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“). Seit 15 Jahren liegt ihm ein detaillierter Haushaltsplan für die Klimawende vor (eingereicht von der damals jüngsten Abgeordneten Anna Lührmann).

Und jetzt auf einmal muss alles ganz schnell gehen. Jetzt auf einmal wird klar, dass Klimaschutz auch Kosten mit sich bringt, die viele überfordern. Und seit dem Krieg in der Ukraine müsste jeder begriffen haben, was eigentlich spätestens seit dem Golfkrieg von 1991 nicht mehr verdrängt werden kann: Die existenzielle Abhängigkeit vom Import fossiler Energie ist auch für den Weltfrieden brandgefährlich.

Warum nur tut sich die Politik mit dem Gemeinwohl so schwer, und viele Bürger ebenso? Und das nicht nur beim Klima! Leidet der Mensch an einem biologisch begründeten Gendefekt oder einer unheilbaren Demenz? Oder aber an einer Bewusstseinstrübung mit einhergehender Verhaltensstörung, die im Prinzip heilbar ist?

Für weit über 95 Prozent der Generationen, die unseren Planeten bisher bewohnt haben, schien die Sache mit dem Gemeinwohl ziemlich klar: Bei den Jägern und Sammlern waren es die Alten, denen am ehesten zugetraut wurde zu wissen, was für alle gut war: wo Tiere und Früchte zu finden und wie sie zu verarbeiten waren, was bei Unfällen, Krankheiten, Streitigkeiten zu tun war, und wie man am besten die Regengötter beschwor. So lange sich die Verhältnisse von Generation zu Generation nur wenig änderten, war es einfach ein Gebot der Klugheit, den Erfahrensten das Gemeinwohl anzuvertrauen. An diese Selbstverständlichkeit knüpften im Grunde auch die frühen Ackerbauern und Viehzüchter an, die bald dazu übergingen, mit dem Eigentum auch den Herrschaftsanspruch als blutsmäßiges Erbe zu beanspruchen. So wurde aus der Herrschaft der Alten die Herrschaft der Familiendynastien.

Die Moderne schließlich, die eine historisch beispiellose Innovationsdynamik in die Welt brachte, entzog dem Herrschaftsanspruch des Alters von Personen und Familien vollends die Grundlage. „Alles Stehende und Ständische verdampft“, so brachten Marx und Engels den Turbomodus des modernen Bürgertums auf den Punkt. In dieser Hochgeschwindigkeits-Welt musste die Idee vom Gemeinwohl voll und ganz in der Gegenwart verankert und für die Zukunft geöffnet werden. Rekonstruieren wir also, wie sich diese Idee in der aufklärerischen Moderne herausgebildet hat und worin die oben diagnostizierte Gemeinwohlschwäche begründet ist.

Vernunft und Demokratie: die frühliberale Suche nach dem Gemeinwohl

Die Moderne mit ihrer revolutionären Idee von der jedem Menschen angeborenen gleichen Freiheit schuf die Grundlage jenes Gemeinwohlverständnisses, das im Liberalismus bis heute tief verankert ist. Das Gemeinwohl, so die zunächst nur auf die Ordnung des Wirtschaftens beschränkte Vorstellung, könne sich aus dem Einzelwohl ganz von selbst, also auf rein indirektem Weg ergeben. Zwei Mittel schienen dafür wie geschaffen, beide ein Gebot der puren Vernunft.

Das erste Mittel sei der Markt. Er befreie die innere Natur des Menschen und lenke seine Kräfte in jene Richtung, die für alle gut sei. Es war Adam Smiths berühmte Metapher von der „unsichtbaren Hand“, die diese wundersame Verwandlung der vielen Einzelwohle in das eine Gemeinwohl bewirken sollte. Diese Hand könne allein durch das Aussenden von Preissignalen (als Folge des Zusammenspiels von Angebot und Nachfrage) die Informationen bereitstellen, die die konkurrierenden Marktteilnehmer für bestmögliche Entscheidungen benötigten. Das gelte national (Gewerbefreiheit) wie international (Freihandel) gleichermaßen. Wenn alle, geleitet durch die Sprache der Preise, für sich selbst bestmöglich sorgen würden, dann sei für alle bestmöglich gesorgt. Die unsichtbare Hand sei klüger als jede sichtbare Hand eines leibhaftigen Menschen (etwa eines merkantilistischen Wirtschaftsplaners).

Das zweite Mittel, um das Gemeinwohl auf indirektem Weg zu befördern, sei die Maschine. Auch sie galt als Inkarnation der Vernunft. Sie brauche nur die Gesetze der äußeren Natur zu enthüllen, um die Kräfte des Menschen zu vervielfachen. Wo die Gesetze der inneren und der äußeren Natur des Menschen zusammenwirkten, so glaubte man in der frühliberalen Moderne, nütze das im Prinzip allen Menschen in gleicher Weise. Die technischen Wunderwerke der Industrialisierung schienen lange Zeit eindrucksvoll zu belegten, wie gut das Leben für alle tatsächlich werden könne. Märkte und Maschinen bräuchten nur ausreichend Zeit, um ihre schöpferischen Kräfte zu entfalten.

Die Politik könne in einer solchen durch und durch vernünftigen Ordnung des Wirtschaftens auf das stille und heilsamen Wirken der inneren und äußeren Kräfte der Natur, die die Vernunft enthüllt habe, vertrauen und dürfe dem Streben der Wirtschaft nach Wohlstand und der Wissenschaft nach Erkenntnis vor allem nicht in die Quere kommen. Aufgabe des Staates sei es, sich wie ein Nachwächter auf das Kontrollieren (ob Stadttore und Haustüren geschlossen sind) und Alarmieren (wenn es brennt) zu beschränken. (Wobei übrigens nicht uninteressant ist, dass Adam Smith noch an die Stimme des Gewissens glaubte, das die selbstsüchtigen Marktakteure ermahne, auch das Wohl ihrer Mitmenschen zu bedenken, und den Staat, für Bildung und Gesundheit seiner Bürger zu sorgen.) Insgesamt schien in dieser Vision das Paradies auf Erden zum Greifen nah. Die wundersame Verwandlung von Einzelwohl in Gemeinwohl ohne die Vermittlung durch einen Gemeinsinn wurde zum ideologischen Kern des Liberalismus.

Während der Nutzen der technischen Vernunft für das Gemeinwohl zunächst relativ unproblematisch schien, war der des Marktes von Anfang an umstritten. Ebenfalls als Kind der Naturrechtsphilosophie wurde nämlich zu Beginn der Moderne auch die Idee der Demokratie geboren. Damit ergab sich ein eigenartiges Spannungsverhältnis zwischen Markt und Demokratie.

Während die Utopie der Liberalen in Bezug auf die Wirtschaft auf den Willen des isolierten und selbstsüchtigen Individuums aufbaute, setzte die Utopie der Demokraten in Bezug auf die Politik auf die Vernunft der gesellschaftlich verbundenen und zur Solidarität durchaus fähigen Kollektive. Die kollektive Vernunft, davon waren Demokraten überzeugt, basiere auf der grundlegenden Fähigkeit des Menschen, zu relativ verlässlichem Wissen zu gelangen und sich vernünftig darüber zu verständigen, was gut nicht nur für den Einzelnen, sondern eben auch für alle sei. Die griechische Polis als demokratisches Reallabor inmitten von autokratischen Hochkulturen schien das bewiesen zu haben. Das Zusammenfallen von „Wille“ (voluntas) und „Vernunft“ (ratio), so Jürgen Habermas, sei die normative Basis der Demokratie. Soweit jedenfalls die Vision (an die sich die liberalen Vordenker in ihrem Privatleben allerdings wenig gebunden fühlten, wenn es etwa um ihre Haussklaven ging.)

Die Brisanz des Spannungsverhältnisses zwischen dem Gemeinwohlkonzept des Marktes und dem der Demokratie zeigt sich vor allem in der Frage, wie der Mensch Einfluss auf die inhaltliche Definition des Gemeinwohls nehmen könne. Die Zuteilung der Einflusschancen unterscheidet sich gemäß der inneren Logik von Markt und Demokratie nämlich diametral. Auf dem Markt gilt „Wer zahlt schafft an“, in der Demokratie „one man, one vote“. Mehr noch: Märkte verstärken einmal entstandene Ungleichheiten meist mit jeder Runde weiter und vererben sie sogar. Demokratien jedoch mischen nach jeder Wahl oder Abstimmung die Karten neu (und eine Vererbung von Wählerstimmen und Abstimmungsvoten wäre ihr völlig fremd). Sprachliche Formeln wie „liberale Demokratie“ oder „demokratischer Liberalismus“ sind hilflose Versuche, diese Spannung zwischen den zwei Wegen zum Gemeinwohl – die Konkurrenz isolierter Menschen auf Märkten und die Kooperation verbundener Menschen im politischen Gemeinwesen – zum Verschwinden zu bringen.

Pluralismus und Parallelogramm der Kräfte: die spätliberale Wiedergeburt der „unsichtbaren Hand“

Dass sich die Spannung zwischen Markt und Demokratie systematisch verschärfen musste und auch die Maschinen dabei mitwirkten, zeigte sich, so die Fortsetzung der Rekonstruktion der Gemeinwohlschwäche, spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Zusammenhang mit der gigantischen Beschleunigung der materiellen Produktion wurde nämlich dreierlei erkennbar:

Die Marktgleichgewichte wollten sich erstens immer öfter nicht einstellen, Märkte erwiesen sich überhaupt als blind gegenüber den Voraussetzungen des Lebens und Zusammenlebens der Menschen. Es gab einfach zu viele „marktexterne Effekte“ (wie die Markttheorie diesen Umstand nennt).

Die Maschinen schufen zweitens Probleme, die es ohne sie nicht gegeben hätte, indem sie der menschlichen Arbeit Konkurrenz machten und auch der Natur einiges zumuteten.

Und beides zusammen ließ drittens entgegen der liberalen Lehre vom weitgehend zurückhaltenden Staat den Ruf nach einem aktiv eingreifenden Staat immer lauter werden: nach Schutzzöllen (Getreide, Stahl) und sozialer Absicherung (bei Krankheit, Unfall, Invalidität, im Alter, später bei Arbeitslosigkeit und im Pflegefall) sowie nach Fabrik- und Kommunalordnungen (Kinderarbeit, Verschmutzung von Wasser und Luft) bis hin zur globalen Klimapolitik der Gegenwart.

Als es gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich um die Aneignung der letzten weißen Flecken der Welt ging, wurde vollends klar: Der Nachtwächterstaat musste zum Interventionsstaat mutieren und gegebenenfalls imperiale Ambitionen entwickeln. So erhielt das Gemeinwohl einen starken und überaus sichtbaren Anwalt. Der wundersame indirekte Weg hatte nicht zu dem von den Liberalen herbeigesehnten paradiesischen Zustand geführt.

Aber die Suche nach den Ursachen der Gemeinwohlschwäche ist damit noch nicht zu Ende. Trotz (oder wegen?) zweier Jahrhundertkatastrophen (die es ohne starke „Interventionsstaaten“ nicht gegeben hätte) keimte im 20. Jahrhundert bei den Liberalen eine neue Gemeinwohlhoffnung auf. Jetzt waren es die organisierten Kräfte, die Verbände und ihre Lobbyisten, die den Staat für ihre Einzelinteressen einspannten. Sie sollten am Ende auf wundersame Weise das Gemeinwohl hervorbringen können, allein gesteuert durch die Vielfalt und die Konkurrenz der Kräfte: das Gemeinwohl als „Resultante“ in einem „Kräfteparallelogramm“ (Ernst Fraenkel).

Damit wurde die einst von Jean Jaques Rousseau vertretene Vorstellung, es könne in der Demokratie einen „allgemeinen Willen“ (volonté générale) geben, den die kollektive Vernunft nur herauszufinden bräuchte, um ihm Geltung zu verschaffen, als Illusion zurückgewiesen. So erlebte die Klugheit der unsichtbaren Hand ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Wiedergeburt, jetzt in dem Gewand des Parallelogramms der kollektiven Kräfte, des demokratischen „Pluralismus“. Der indirekte Weg zum Gemeinwohl wurde also von den Liberalen erneut als allein zielführend und allein normativ akzeptabel behauptet.

Auch das erwies sich freilich weitgehend als Illusion, was eigentlich nicht überraschen konnte. Denn wer beim Wettrennen weiter vorne oder früher startet, der kommt meist auch eher ans Ziel (und darf nicht selten zudem in der nächsten Runde noch weiter vorne starten). Warum sollte das für Wandelhallen vor Parlamenten und Gänge vor Ministerbüros weniger gelten als für Märkte? Warum sollte das Konkurrenzprinzip aus der Vielfalt der Möglichkeiten genau jene auswählen, die für alle gut wären? Gibt es da nicht auch das bekannte Matthäus-Prinzip (Wer hat, dem wird gegeben werden…)?

Und was bedeutet es für den demokratischen Pluralismus, wenn die im Konkurrenzkampf Zu-kurz-Gekommenen dessen Resultate einfach nicht mehr hinzunehmen bereit sein würden? Es war unter anderen der konservative Staatsrechtler Ernst Forsthoff, der Anfang der 1970er Jahre auf den merkwürdigen Widerspruch des demokratischen Pluralismus aufmerksam machte, der dem gesunden Menschenverstand längst bekannt war: Gerade das Gemeinwohl kommt im Interessenskampf systematisch zu kurz, weil die besser organisierten und konfliktfähigeren Einzelinteressen am längeren Hebel sitzen. (Forsthoff konkretisierte übrigens schon sehr weitsichtig, welche Interessen im Konkurrenzkampf um die Instrumentalisierung des Staates zum Opfer fallen: die Interessen am Schutz von Natur und Mensch, der Verschmutzung der Atmosphäre und der Meere, der gentechnischen Veränderung des Menschen selbst.) Zur Bändigung der Einzelinteressen brauche es, so Forsthoffs Folgerung, einen über ihnen stehenden starken Staat. Und diesen konnte er sich natürlich nur als Nationalstaat vorstellen.

Blind, aber ultraschnell: die Finanzmärkte und das globale Dorf am Rande des Abgrunds

Genau den, so der letzte Akt der Rekonstruktion der Gemeinwohlschwäche, hat die Globalisierung und die mit ihr einhergehende Hyperbeschleunigung im ausgehenden 20. und verschärft im 21. Jahrhundert weitestgehend hinweggespült. Nicht nur, dass einige wenige Konzerne und Staaten das Weltgeschehen dominieren und so von Chancengleichheit in der Konkurrenz keine Rede sein kann.

Diese ökonomischen und politischen Akteure erweisen sich zudem als Getriebene einer Weltwirtschaft, in der die schnellsten Märkte, die Finanzmärkte, den Takt schlagen. Sie entscheiden, wo Produktivkräfte tätig werden und wo nicht. Das Einzelwohl der Investoren im Hier und Jetzt bestimmt im globalen Dorf das Wohl einer rasch zunehmenden Zahl von Menschen in der räumlichen und zeitlichen Ferne, ohne dass sich letztere zur Wehr setzen könnten. Sie haben einfach zu wenig finanzielle Mittel, weil sie zu weit weg von den Quellen des Reichtums leben oder noch gar nicht geboren sind. Und allein diese Mittel sind es, die auf Kapitalmärkten zählen (wie auf Gütermärkten Kaufkraft).

Die prinzipielle soziale und ökologische Blindheit von Märkten schließt nicht aus, dass Entscheidungen von Investoren auch das Gemeinwohl fördern können – aber wenn, dann nur als Kollateralnutzen. Im Grunde ist es also immer noch die vermutete Klugheit der Märkte, jetzt eben der globalen Finanzmärkte, der das Gemeinwohl im globalen Dorf anvertraut ist.

Wo marktexternen Effekte die Welt in rasender Geschwindigkeit überfluten, verdichtet sich zwangsläufig der Eindruck, dass die international herausgeforderten Interventionsstaaten im 21. Jahrhundert genauso überfordert sind wie die nationalen Nachtwächterstaaten im 19. Jahrhundert. Denn die Macht von Staaten ist auch im globalen Dorf im Prinzip immer doppelt begrenzt: räumlich, weil ihre Reichweite an den Landesgrenzen endet, und zeitlich, weil ihre Macht, wenn sie demokratisch legitimiert sein wollen, immer erst die Bürger beteiligen muss, ehe sie wirksam werden kann.

Das globale Kapital kennt solche Grenzen nicht. Es agiert grenzenlos im Raum und blitzschnell in der Zeit. Hier drängt sich die Metapher vom Schwert des Damokles auf: die allgegenwärtige Angst der Akteure, umso härter von der Konkurrenz abgestraft zu werden, je konsequenter sie in ihren Kalkülen auf die räumliche und zeitliche Ferne Rücksicht nehmen. Diese Angst ist auch der Nährboden für jenen nationalen Egozentrismus, der den Globus als rechter Populismus immer stärker heimsucht: Neben uns und nach uns die Sintflut!

Daran vermag auch die UNO, die potenzielle Hüterin des globalen Gemeinwohls, bisher wenig zu ändern. Das Vertrauen darauf, dass ein indirekter Weg das Wohl der Einzelnen in das allgemeine Wohl verwandeln könne, ist vielleicht der wirkmächtigste Mythos der gesamten Moderne. Es fragt sich, wie lange die räumliche und zeitliche Verschiebung der wahren Kosten der „imperialen Lebensweise“ (Ulrich Brand/Markus Wissen) noch funktioniert. Wann ist der Punkt erreicht, an dem wir uns den „Preis der Externalisierungsgesellschaft“ (Stephan Lessenich) nicht mehr leisten wollen oder können? Wann will sich die weit fortgeschrittene Moderne endlich von dem Mythos, das Gemeinwohl ergebe sich ohne Gemeinsinn ganz von selbst, befreien? Die finale Ausdehnung der Modernisierung rund um den Globus in Verbindung mit dem historisch einzigartigen Veränderungstempo droht dem Menschen als Spezies immer mehr zum Verhängnis zu werden.

Ausblick

Das Gute ist: Bewusstseinstrübungen und Verhaltensstörungen können prinzipiell therapiert werden. Das Verhältnis von Gemeinsinn und Gemeinwohl darf in einer globalisierten Moderne allerdings nicht hinter die Errungenschaften der aufklärerischen Moderne zurückfallen: Gemeinsinn und Gemeinwohl müssen, von der Vernunft geleitet werden und auf einem qualitativ anspruchsvollen Willen und einem ebenso qualitativ anspruchsvollen Wissen aufbauen.

Die Kunst besteht darin, das Gemeinwohl so zu fassen, dass es das Einzelwohl respektiert und dennoch das Denken und Handeln im Interesse aller leitet. Das betrifft das individuelle Verhalten genauso wie die strukturellen Verhältnisse. Beide müssen sich synergetisch so ergänzen, dass ein zugleich personeller und institutioneller Prozess der Solidarisierung ohne Ausschluss möglich wird. Nur ein solcher kultureller Lernprozess kann den Menschen dazu befähigen, die Transformation des Primats der Konkurrenz zum Primat der Kooperation zu vollziehen. Es geht darum, nicht nur frei von Konkurrenzängsten, sondern auch frei für die Kooperationsverantwortung zu werden, nicht nur kooperieren zu sollen, sondern dies auch zu können.

Ein solcher direkter Weg, der die fundamentale Bedeutung des Gemeinsinns für das Gemeinwohl anerkennt, erfordert dreierlei: Erstens die Abwesenheit von existenzieller materieller Not, die den Blick für die räumliche und zeitliche Ferne systematisch verstellt. Zweitens die Ausweitung des kulturellen Horizonts auf die räumliche und zeitliche Ferne, die Kopf, Herz und Hand umfasst und gelernt und geübt werden muss. Und drittens – aufgrund der beispiellosen Globalität und Veränderungsdynamik – ein Wissen, das über das alltägliche Erfahrungswissen hinausgeht, ein systematisches, ein wissenschaftliches Wissen über die Welt als Ganzes.

Vor allem für die Wirtschaftswissenschaft ist das mit einer schmerzlichen Lektion verbunden. Sie muss sich im Angesicht von Klima- und Energiekrise, Artenschwund und Kriegen endlich aus ihrem mythischen Untergrund lösen und realistisch werden. Sie könnte etwa an die Arbeiten der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom anschließen, die an einer Vielzahl von konkreten Beispielen aus aller Welt gezeigt hat, dass natürliche Ressourcen unter bestimmten Bedingungen auch ohne Privateigentum, Markt und Konkurrenzzwänge dauerhaft verwaltet und genutzt werden können (wofür sie 2009 sogar den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft erhalten hat).

Die Wirtschaftswissenschaft müsste endlich begreifen, dass Ökonomie im Kern ein Teilbereich der Ökologie ist, nämlich die Fortführung der „Wirtschaft der Natur“ (Vandana Shiva) durch den Menschen. Das impliziert die triviale Erkenntnis, dass sich die Natur nach menschlichen Eingriffen immer erst wieder erholen muss, um weiterhin als sicherer und fruchtbarer Lebensraum zur Verfügung stehen zu können. Nur Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht.(1) Respekt vor den Zyklen der natürlichen Lebensgrundlagen ist ein erster unumgehbarer Schritt in Richtung auf ein Gemeinwohl, das wirklich alle Menschen einzuschließen vermag.

 

(1) „Nur Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht“ lautet der Untertitel des Buches „Erhalten und Erneuern“ von Fritz Reheis (Hamburg 2022).

 

Über den Autor:

Fritz Reheis ist außerplanmäßiger Professor, promovierter Soziologe und habilitierter Erziehungswissenschaftler. Er war 20 Jahre lang Gymnasiallehrer für Sozialkunde, Deutsch, Geschichte und Philosophie und 10 Jahre lang Hochschullehrer für Politische Bildung am Lehrstuhl Politische Theorie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seit seiner Pensionierung ist er an der Uni Bamberg Lehrbeauftragter am Lehrstuhl Allgemeine Pädagogik.

Reheis ist Mitglied des Arbeitskreises Politische Ökonomie, der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Sektion Kultursoziologie) und Gründungs- und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Veröffentlichungen zur Ideologiekritik, Sozialökonomik, Politischen Ökonomie, Bildung und Ökologie der Zeit, darunter „Konkurrenz und Gleichgewicht als Fundamente von Gesellschaft“ (Berlin-München 1986), „Die Kreativität der Langsamkeit“ (Darmstadt 1996/1998/2008), „Entschleunigung“ (München 2003), „Wo Marx Recht hat“ (Darmstadt 2011), „Die Resonanzstrategie“ (München 2019) und „Erhalten und Erneuern“ (Hamburg 2022).

 

Der Artikel erschien erstmals auf MAKROSKOP – Das Magazin für Wirtschaftspolitik.
Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Publikation.