Jasmin Schreiber schätze ich unglaublich, weil sie mit ihrem Erstling „Marianengraben“ für mich ein Herzensbuch geschrieben hat, das einen festen Platz in meinem gedanklichen Regal der Lebensbücher hat. Nun hat sie sich einem wichtigen, aber schwierig vermittelbaren Thema zugewandt. Femizide.

„Da, wo ich Dich sehen kann“ ist ein Buch über das Leben einer Familie, nachdem die Mutter vom Vater ermordet wurde. Es ist hier in Deutschland angesiedelt und berichtet aus den verschiedensten Erzählperspektiven: aus Sicht der 9-jährigen Tochter, der besten Freundin der Ermordeten, der Großeltern (beiderseits!) … Anlass dafür, dass Schreiber sich an dieses Thema heranwagte, war, so schreibt sie selbst auf Instagram, dass in dem Mehrfamilienhaus, in dem sie wohnt, ein solcher Femizid passiert ist und sie das aufarbeiten musste.

Sehr feinfühlig und gut recherchiert, mit klugen erzählerischen Kniffen, wie z. B. den Einschüben vom Protokoll aus der Rechtsmedizin, dem Mitschnitt des Gesprächs der kleinen Tochter mit dem Notruf, als diese morgens ihre Mutter tot auffindet.

Ihr findet das schwer aushaltbar und der erste Impuls ist „darüber möchte ich nicht in meiner Freizeit lesen“? Kann ich verstehen, aber Ihr müsst keine Angst vor diesem Buch haben, eine Meisterin der leisen Töne hat es ja geschrieben. Ihr werdet an die Hand genommen und begleitet, sie lässt Euch nicht allein. Jasmin Schreiber findet den richtigen Ton, so dass man zwar mitfühlt und erschüttert wird, am Ende aber nicht deprimiert dasteht. Und schlussendlich verhält es sich mit guter Literatur auch wie mit jeder Art von guter Kultur: Sie soll nicht nur unterhalten, sie soll einen auch weiterbringen im Leben, in der persönlichen Entwicklung. Manchmal muss man raus aus seiner Komfortzone, um sich neuen Themen zu öffnen und an ihnen zu wachsen.

In dieser Geschichte wird das größte Opfer des Dramas, die kleine Tochter, ins Zentrum gerückt und die „Nebenopfer“, nämlich die beste Freundin der Ermordeten und die Eltern. Hier ist kein Platz für den Täter. Auch nicht für Erklärungsversuche, warum er das getan haben könnte. Weil man die nicht braucht. Kein Mann hat das Recht, eine Frau zu töten. Wenn Dir als Mann nicht passt, wie Deine Frau ist, dann trenn Dich von ihr. Aber dann verletze sie nicht, bedrohe sie nicht, ermorde sie nicht. Das ist sehr simpel heruntergebrochen, aber so ist es.

Hinter allen Zahlen stehen echte Leben!Die Emotionen der direkten Betroffenen, deren Trauer, ihre Schuldgefühle, ihre Wut kombiniert mit der allerwichtigsten Aufgabe, nämlich der völlig derangierten Tochter zu helfen, sind das, was hier thematisiert wird.

Traut Euch, lest dieses Buch! Ihr braucht Taschentücher, keine Frage – aber je mehr Frauen lesen, dass sie nicht alleine sind, dass sie klug, schön, souverän und eloquent sein können und trotzdem in eine ungesunde Partnerschaft gerutscht sein können, umso besser! Nur so kann die Wahrnehmung solcher Situationen in der Gesellschaft geschärft werden, die eigene, wie die Fremder.

Hat mich sehr erschüttert und durchgerüttelt. Stilistisch ganz anders als Claudia Schumachers „Liebe ist gewaltig „, aber ebenso stark. Für mich 5 von 5 Sternen.

„Da, wo ich Dich sehen kann“ von Jasmin Schreiber ist 2025 als Hardcover im Eichborn Verlag erschienen. Weitere Informationen zum Buch auf der Verlagsseite.

Rezension von daslesendesatzzeichen.

Der Originalartikel kann hier besucht werden