Es ist offensichtlich: Die Angst wächst in den Köpfen, Herzen und Seelen von Einzelpersonen und Völkern – auf lokaler wie auf globaler Ebene. Sie führt zu tiefer Beklemmung, Fluchtreaktionen, irrationalem Verhalten, Konflikten, allgegenwärtiges Unwohlsein, Lebensüberdruss und einem immer größer werdenden, immer spürbareren Sinnverlust. Die Dunkelheit gewinnt die Oberhand … – oder zumindest könnte man das glauben.
Haben wir als Einzelperson überhaupt einen Handlungsspielraum in diesem Chaos, das sowohl in unserem Inneren als auch in unserem Umfeld herrscht?
1. Innehalten, beobachten, Ängste verstehen
Angst ist eine sehr wichtige Funktion der menschlichen Psyche. Sie ist gesund, wenn sie eine instinktive (emotionale) Reaktion auf eine greifbare Gefahr ist. Sie entsteht, damit eine Reaktion erfolgt: vor dieser Gefahr fliehen oder sich ihr stellen – stets mit dem Ziel, das Leben zu schützen.
Diese Angst schlägt jedoch in emotionale Beklemmung um, wenn sie irrational wird. Es besteht überhaupt keine reale Gefahr, aber man reagiert, als ob es eine gäbe. Keine der möglichen Reaktionen ist angemessen, da sie nichts Konkretes lösen. Die Flucht wird zum allgemeinen Verhalten. Man flieht vor der Welt, vor anderen und vor sich selbst. Dabei werden die Fluchtmittel destruktiv – für den Körper (Drogen, Alkohol, Essstörungen) und den Geist (Spiele, Ablenkungen, übermäßiger Konsum und Bildschirmzeit usw.).
Die Angst nimmt eine noch problematischere Wendung, wenn sie sich in einen mentalen Angstzustand verwandelt. Man beginnt, Katastrophenszenarien zu entwerfen, an die man glaubt: Alles wird schiefgehen, alles ist gefährlich, es gibt keinen Ausweg, keine Zukunft. Diese mentalen Szenarien werden als Realität aufgefasst und verteidigt.
Zusammenfassend lässt sich sagen:
- Die Angst angesichts einer unmittelbaren Gefahr: nützlich und gesund.
- Die Angst als Beklemmung: leidenschaftlich, irrational und destruktiv.
- Die Angst als Angstzustand: nutzlos, illusorisch, verdunkelt die Gegenwart und verschließt die Zukunft.
In der Angst fühlt sich der Mensch allein auf der Welt und glaubt tatsächlich, allein zu sein.
Das ist jedoch nicht der Fall:
„Stell dir nicht vor, dass du alleine in deinem Dorf, deiner Stadt, auf der Erde und in den unendlichen Welten bist.” [1]
2. Sich bewusst werden: Es ist das Ende einer Ära
Es versteht sich von selbst, dass die Bedrohungen in dieser veränderten, gewalttätigen Welt „real” sind. Die Risiken, die durch die irrationale, kurzsichtige und wenig intelligente Politik der Regierenden entstehen, erhöhen die Gefahren für alle erheblich. Die von antihumanistischen Medien verbreiteten „Informationen” über die nahe und ferne Welt schüren nur die allgemeine Angst und dienen dazu, Entscheidungen zu rechtfertigen, die zu noch mehr Gewalt und Zerstörung führen.
Wir stehen am Ende einer Ära, am Ende einer Zivilisation, und alle Elemente ihres endgültigen Niedergangs sind vorhanden: Zunahme bewaffneter Konflikte, Anstieg von Armut und Ungerechtigkeit, Unmoral der Mächtigen, Epidemien und Plagen aller Art. Die Folge ist, dass die großen Ängste der Menschen selbst in Gesellschaften des Überflusses zunehmen. Angst vor Einsamkeit, Hunger, Armut, Krankheit und Tod.
Doch der Fokus könnte auch darauf fallen, dass es stets Vorreiter der kommenden Zivilisation gab und gibt. Auf Menschen, die im Chaos suchen und kämpfen, um sich (und andere) aus der Dunkelheit zu befreien. Menschen, die spüren, dass die Geschichte der Menschheit nicht hier endet, sondern dass sie gerade geschrieben wird und dass jeder seine Rolle darin finden kann. Menschen, für die die Zukunft wichtiger ist als die Gegenwart. Menschen, die an die Menschen und ihre Möglichkeiten glauben.
Indem jeder seine mentale Einstellung ändert, kann er sich auf den großen Wandel in der Geschichte der Menschheit vorbereiten und dazu beitragen. Sich von der Angst zu befreien, wird so zu einer wichtigen Mission für einen selbst, seine Mitmenschen und die gesamte Menschheit. Dafür gibt es nur einen Ausweg: aus der Isolation herauszukommen.
3. Das „Wir“ als Grundlage der Auswahl von Perspektiven
Wir können auf Angst und Unruhe einwirken, indem wir handeln. Jeder Mensch kann sich bewusst machen, dass er immer in seinem Umfeld handeln kann – nicht nach der alten „ichbezogenen” Devise, sondern anders. Wenn man sich in Gruppen engagiert, deren Projekte ganze Menschengruppen betreffen oder berühren, gewinnt man seinen Platz als Mensch zurück. Man beteiligt sich an einem Aufbau, der über das eigene Ich hinausgeht. Selbst wenn die Projekte scheitern, bewahrt der Versuch, gemeinsam eine bessere Zukunft aufzubauen, das individuelle Bewusstsein vor der Angst.
Um dies zu erreichen, muss man sich jedoch mit anderen zusammentun, mit denen man gemeinsam andere Szenarien entwerfen und umsetzen kann.
Mit diesen anderen kann man konkrete andere Werte wachsen lassen. Wenn man beginnt, an der Umsetzung von Projekten mitzuarbeiten, die über das eigene familiäre Umfeld hinausreichen, fühlt man sich als Teil des menschlichen Schöpfungswerks. Außerdem nehmen die Ängste ab, weil der Einzelne nun auf gegenseitige Hilfe zählen und selbst Hilfe leisten kann. Er erlebt, dass er durch das Ausrichten seines Handelns über sich selbst hinaus auch seine Absicht weit über die Gegenwart hinaus ausdehnt. Die Zukunft öffnet sich und bleibt offen, mit Perspektiven – selbst unter sehr widrigen Umständen.
4. Die „Wir“ sammeln und zusammenführen: unsere Stärke
Anstatt unsere wertvolle Energie in Ängsten und Sorgen zu vergeuden, ist es weitaus konstruktiver, überall dort zu wirken und zu handeln, wo wir uns befinden:
- an einer neuen Denkweise zu arbeiten: strukturierter, indem wir uns bewusst dafür entscheiden, mehr Zusammenhänge herzustellen und intelligenter zu werden;
- Raum zu schaffen für die neue Sensibilität, die in den jüngeren Generationen immer deutlicher hervortritt – mit mehr Zuneigung, Mitgefühl und Sorge um das Gemeinwohl;
- gezielt zusammenzuarbeiten, innerhalb von Vereinen und Organisationen ebenso wie durch die Vernetzung von Gruppen untereinander. Mögen alle Menschen guten Willens zusammenkommen, sich vereinen, einander unterstützen, ergänzen und stärken. In allen Bereichen menschlichen Handelns gilt es, echte Aktionsfronten aufzubauen.
All diese vereinten „Wir” sind bereits die Keime und Triebe der kommenden Zivilisation. All diese Handlungen, die von einfachen Menschen ausgeführt werden, geben Einzelpersonen und Gruppen (Gemeinschaften, Kollektiven, Vereinen usw.) einen Sinn.
5. Sich inspirieren und verbinden: Im Herzen der menschlichen Seele lebt etwas sehr Großes
Dennoch lässt sich Sinn nicht vorschreiben. Es ist der Mensch selbst, der seinen Beziehungen, seinen Handlungen und seinem Leben Sinn verleiht – oder auch nicht. Er entscheidet bewusst, was für ihn Sinn hat und was nicht.
Menschen in Krisensituationen – ob allein oder in der Gemeinschaft – stellen sich tiefgreifendere Fragen über den Wert ihres Lebens, aber auch über den Sinn der menschlichen Existenz. Sie sind dann in der Lage, Antworten zu hören, die aus einer tieferen, zeitloseren und tragfähigeren Quelle stammen. Diese tiefgründige Dimension, die sowohl bei Individuen als auch bei Völkern immer vorhanden ist und sich im Laufe der Geschichte in religiösen und mystischen Strömungen niederschlug, bricht mit großer Kraft hervor, wenn die Zukunft der Menschheit gefährdet ist.
Es handelt sich um eine Spiritualität, die in ihrer dogmenfreien Form neu entsteht, aber auch seit Anbeginn der Zeit im Herzen der menschlichen Seele nistet. Sie hat die Fähigkeit, Menschen von Angst, Qual und Unruhe zu befreien. Wenn sie frei und aus purer Notwendigkeit praktiziert wird, verbindet sie den Menschen mit dem Göttlichen und die Menschen untereinander. Sie verbindet, sie trägt und erhebt, sie erhellt den Weg.
In der Erfahrung des Göttlichen, das im Herzen der menschlichen Seele liegt, offenbart sich die Zukunft für Individuen und Völker. Der Mensch wird von der Vorgeschichte in die vollkommene Menschheitsgeschichte übergehen. Dazu muss er seine Ängste überwinden, sich für andere Menschen einsetzen, Kraft, Weisheit und Güte zum Maßstab machen und sich daran erinnern, dass etwas Großes und Leuchtendes in ihm liegt, lebt und manchmal hervorbricht. Die Zukunft wird anders sein, wenn sich der Mensch von heute von dieser bedeutsamen evolutionären Absicht inspirieren lässt.
Die Übersetzung aus dem Französischen wurde von Kornelia Henrichmann vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!
[1] Silos Botschaft, Der Weg, Edition Pangea, Zürich – Berlin – Wien, 2016. https://silo.net/message/message









