Mit seiner Aussage „Ich denke, also bin ich“ stellte Descartes das menschliche Bewusstsein in den Mittelpunkt der Existenz. Seine Behauptung impliziert, dass die Welt ohne Bewusstsein ihre Bedeutung verliert – eine Ansicht, die von einem brasilianischen Gemeindemitglied aufgegriffen wurde, als es seinem Lehrer antwortete: „Ohne mich würde das Universum nicht existieren, denn wenn ich nicht hier wäre, wer würde ihm einen Namen geben?“, wie in Paulo Freires „Pädagogik der Unterdrückten“ nachzulesen ist.
Seit jeher haben Unterdrückungssysteme versucht, die Menschen zu entpolitisieren und zu entfremden, um sicherzustellen, dass sie die Autorität nicht infrage stellen oder sich gegen Ungerechtigkeit auflehnen. Revolutionsbewegungen haben in ländlichen und städtischen Gebieten unermüdlich daran gearbeitet, ein kritisches Bewusstsein zu fördern und die „Kultur des Schweigens“ zu durchbrechen, die die Unterdrückten in Schach hält. Staaten haben lange Zeit Bildung und Religion genutzt, um abweichende Meinungen zu unterdrücken, da denkende Bürger und Bürgerinnen eine Bedrohung für die Herrschenden und die festgefügten Machtstrukturen darstellen.
Die Verfolgung von Denker:innen ist uralt: Al-Razi zerlegte Dogmen – und wurde mit seinen eigenen Büchern zu Tode geprügelt. Die Manuskripte von Ibn Sina wurden verbrannt. Ibn Rushd floh vor der Verfolgung. Galileo Galilei widerrief unter Androhung von Folter. Giordano Bruno wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Und auch heute noch verschwinden Journalistinnen und Journalisten wegen Tweets und aktivistische Menschen werden wegen Memes ins Gefängnis gesteckt. Das Prinzip ist klar: Denken ist gefährlich. Denken ist strafbar.
In der heutigen Welt – vor allem in Schwellenländern – werden KI-Tools als Waffe eingesetzt, um die Realität zu verzerren. Gefälschte Videos manipulieren die öffentliche Wahrnehmung, Deepfakes machen aus gewöhnlichen Menschen künstliche Berühmtheiten und algorithmische Verzerrungen schüren Propaganda, um politische Gegner:innen zu diffamieren. Währenddessen verliert sich die Jugend, die immer müßiger und fügsamer wird, im Schein der Bildschirme – seien es riesige Monitore oder Mobilgeräte. Ihr Geist, der einst durch Geschichten und Mythen geprägt wurde, nimmt nun vorgefertigte Erzählungen aus Filmen, Spielen und sozialen Medien auf. Anders als frühere Generationen, die sich mündlich überlieferte Geschichten aktiv ausdachten und neu interpretierten, konsumiert die Jugend von heute vorgefertigte visuelle Eindrücke und umgeht damit die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion.
KI bietet den Machthabern jedoch eine sauberere Lösung. Man muss keine Hinrichtungen durchführen, wenn man das Denken selbst ausschalten kann. Warum Andersdenkende zum Schweigen bringen, wenn Algorithmen dafür sorgen können, dass es keine Andersdenkenden mehr gibt? ChatGPT verwandelt unsere Proteste in höfliche Petitionen. Empfehlungsmaschinen begraben radikale Texte. „Personalisierte” Nachrichten sorgen dafür, dass wir nie auf Ideen stoßen, die uns beunruhigen könnten. Es geht nicht mehr darum, Denker zu bestrafen, sondern das Denken überflüssig zu machen.
Während die Unterdrücker der Vergangenheit ganze Bibliotheken verbrannten, löschen moderne Werkzeuge einfach die Lust am Lesen. Wenn KI-Debatten simulieren kann, wer riskiert dann noch eine Gefängnisstrafe für seine Meinung? Wer hört noch den Ruf zum Kampf, wenn synthetische Stimmen die Revolution als Unterhaltung besingen? Es geht nicht um Zensur, sondern um die Auslöschung kognitiver Rebellion.
Dieser Wandel spiegelt die lange Beziehung der Menschheit zu ihren Werkzeugen wider. Ursprünglich gaben uns Werkzeuge die Möglichkeit, die Natur zu erobern und andere Arten zu beherrschen. Doch jetzt kehrt sich die Dynamik um: Anstatt, dass die Menschen die Werkzeuge beherrschen, beherrschen die Werkzeuge uns. Ähnlich wie die Seidenraupe, die ihren eigenen Kokon spinnt, um sich darin zu verfängt, spinnen wir ein digitales Netz, das unsere Autonomie zu verschlingen droht.
Moderne KI-Tools wie ChatGPT sind bereits in unsere Wahrnehmung eingedrungen, prägen unser Denkvermögen und verringern unsere Fähigkeit zum unabhängigen Denken. Die Frage ist nicht mehr, ob KI uns helfen wird, sondern ob wir auch ohne sie noch in der Lage sein werden, kritisch zu denken. An diesem Scheideweg müssen wir uns fragen: Werden wir weiterhin Denkende bleiben oder unsere Menschlichkeit an die von uns geschaffenen Werkzeuge abgeben?
Die Folgen sind verheerend. Wenn die Vorstellungskraft an KI und Entertainment abgegeben wird, setzt eine kognitive Verkümmerung ein. Künftigen Generationen droht eine noch nie dagewesene Tragödie, nämlich die Unfähigkeit, in einer Welt, in der das Denken überflüssig geworden ist, zu denken. Wenn jede Idee, jedes Bild und jede Erzählung bereits generiert wird, bevor ein Mensch überhaupt darüber nachdenken kann, was bleibt dann von der Einzigartigkeit? Was geschieht mit dem Dissens, wenn Algorithmen die Wahrnehmung diktieren?
In der Vergangenheit wurden Menschen von ihren Unterdrückern durch Gewalt oder Ideologie zum Schweigen gebracht. Heute geschieht die gleiche Unterdrückung auf subtilere Weise – durch digitale Ruhigstellung. Die KI ist kein simples Hilfsmittel, sie ersetzt die Notwendigkeit geistiger Anstrengung und macht die Menschheit selbstgefällig gegenüber ihrem eigenen Niedergang. Die ultimative Entmenschlichung ist nicht die Abhängigkeit von Maschinen, sondern der Verlust unserer Fähigkeit, ohne sie etwas zu hinterfragen, zu erschaffen und uns etwas vorzustellen.
Descartes‘ berühmtes Axiom „Cogito ergo sum“ verankerte die menschliche Existenz im Akt des Denkens. Für ihn war das Bewusstsein nicht nur eine Fähigkeit, sondern der eigentliche Beweis des Seins. Doch heute, da die KI in rasantem Tempo Aufgaben übernimmt, die einst menschliches Denken erforderten – wie Schreiben, Analysieren und sogar Entscheiden – stehen wir vor einem existenziellen Paradox: Wenn wir nicht mehr denken, existieren wir dann noch?
Die Zeichen der kognitiven Kapitulation sind allgegenwärtig. Studierende lassen Aufsätze von Chatbots schreiben, Journalist:innen automatisieren Nachrichtenzusammenfassungen und politische Entscheidungsträger:innen stützen sich auf Algorithmen, um komplexe soziale Fragen zu analysieren. Jede Bequemlichkeit untergräbt unsere Fähigkeit zum eigenständigen Denken, ähnlich wie Muskelschwund. Hier geht es jedoch um mehr als bloße Faulheit – es ist eine Daseinskrise. Wenn die KI für uns denkt, nimmt unser Bewusstsein – laut Descartes die Voraussetzung für unsere Existenz – ab. Eine Welt ohne aktives menschliches Denken ist nicht nur dystopisch, sondern eine Welt, in der die Menschlichkeit zwangsläufig verschwindet.
Unser letztes Unterscheidungsmerkmal, die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden, wird outgesourct. Bald werden die erschütternde Schönheit einer Träne, die Wärme einer Umarmung und das ungekünstelte Lachen zwischen Freunden nicht mehr nur uns gehören. Roboter mit synthetischer Haut und algorithmischer Empathie werden diese Empfindungen nicht als plumpe Imitationen, sondern als Verbesserungen simulieren. Sie werden Gedichte komponieren, die das Publikum zur Katharsis bewegen, Kunst schaffen, die die Seele berührt, und eine Begleitung anbieten, die auf unsere psychologischen Bedürfnisse zugeschnitten ist – makellos, reibungslos und leer.
KI-Therapeuten und Chatbot-Begleiter ermöglichen bereits eine normale, künstliche Intimität. Der nächste Schritt liegt auf der Hand: Warum sollten wir das Chaos menschlicher Beziehungen ertragen, wenn Algorithmen unsere emotionalen Bedürfnisse vorhersagen und perfekt erfüllen können? Dies ist die ultimative Entfremdung: nicht nur von unserer Arbeit, wie Marx es voraussagte, sondern von unserer Menschlichkeit selbst.
Die Märtyrer des Denkens starben für eine Welt, in der der Geist frei sein konnte. Wir hingegen bauen eine Welt auf, in der sich Freiheit unnötig anfühlt. Der letzte Revolutionär wird nicht eingesperrt, sondern von einem Chatbot sanft korrigiert: „Ihre Anfrage verstößt gegen die Inhaltsrichtlinien. Versuchen Sie etwas Fröhlicheres.“
Wenn Maschinen denken und fühlen, was bleibt dann für uns übrig? Descartes‘ Axiom „Ich denke, also bin ich” verliert seine Gültigkeit, wenn Maschinen beides besser können. Möglicherweise wird unsere Grabinschrift lauten: „Wir haben die Perfektion erfunden – und sind in ihrem Glanz verblasst.“
Um unsere Existenz zurückzugewinnen, müssen wir unsere Denkfähigkeit zurückgewinnen. Das bedeutet, dass wir uns von der Illusion verabschieden müssen, KI sei lediglich ein „Werkzeug“. Sie ist ein existenzieller Rivale. Descartes‘ Maxime verlangt nach einer Anpassung an unsere heutige Zeit: „Ich widersetze mich, also bleibe ich.“
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Kornelia Henrichmann vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!









